Buch
Ganz London stöhnt unter einer Hitzewelle. Kein Wunder, dass selbst die Hochzeitsgäste von Inspector Lynley und Lady Helen von einer Reise ans Meer träumen. Besonders Lynleys Assistentin Barbara Havers, die noch immer an den Folgen eines Berufsunfalls leidet, spielt mit dem Gedanken, sich ein paar Tage Erholungsurlaub zu nehmen. Doch dann verlässt ihr Nachbar, der pakistanische Universitätsprofessor Azhar, mit seiner kleinen Tochter überstürzt die Stadt – in dringenden Familienangelegenheiten, wie er sagt. Und kurz darauf hört Barbara im Fernsehen, dass in der kleinen Küstenstadt Balford-le-Nez ein rätselhafter Todesfall für Aufregung sorgt: Ein junger Pakistani wurde ermordet aufgefunden. Alles nur Zufall? Auf eigene Faust bricht Barbara in das alte beschauliche Seebad auf und beginnt mit ihren Nachforschungen. Als sie herausfindet, dass im Namen des Familienunternehmens, für das der Ermordete tätig war, nicht nur legale Geschäfte betrieben wurden, stößt sie auf eine Mauer aus Hass und Schweigen. Ihr Nachbar Azhar, der mit dem Unternehmen zu tun hat, versucht zu vermitteln – doch der Lösungs des Falls kommen sie nicht näher. Im Gegenteil ...
Elizabeth George
Denn sie betrügt
man nicht
Ein Inspector-Lynley-Roman
Deutsch von
Mechtild Sandberg-Ciletti
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Deception on His Mind«
bei Bantam Books, New York.
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Taschenbuchausgabe April 2015
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © der Originalausgabe 1997 by Susan Elizabeth George
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1997
by Blanvalet Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Roger Coulam / Getty Images
Th · Herstellung: Str.
Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-13645-1
V004
www.goldmann-verlag.de
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Für Kossur
In Freundschaft und Liebe
Where is the man who has the power and skill
To stem the torrent of a woman’s will?
For if she will, she will, you may depend on’t;
And if she won’t, she won’t; so there’s an end on’t.
(Welcher Mann besitzt die Gewandtheit und die Kraft,
den machtvollen Willen einer Frau zu bändigen?
Denn wenn sie will, dann will sie, darauf ist Verlass;
Und wenn nicht, dann will sie eben nicht, und fertig.)
Inschrift auf einer Säule auf dem
Dane John Field in Canterbury
Der Abstieg in Ian Armstrongs Leben hatte an dem Tag begonnen, an dem er seinen Arbeitsplatz verlor. Schon als man ihm die Stellung zugesagt hatte, war ihm klar gewesen, dass es nur eine Arbeit auf Zeit war. Die Annonce, auf die er sich gemeldet hatte, hatte nichts anderes vorgegeben, und man hatte ihm nie einen festen Vertrag angeboten. Doch nachdem zwei Jahre vergangen waren, ohne dass je das Wörtchen Entlassung gefallen wäre, hatte Ian unklugerweise zu hoffen gewagt. Das war dumm gewesen.
Ians vorletzte Pflegemutter hätte die Nachricht vom Verlust seiner Arbeitsstelle mit den Worten aufgenommen: »Tja, mein Junge, wie der Wind weht, kann man nicht ändern. Wenn er über Kuhmist weht, hält sich ein kluger Mensch die Nase zu.« Sie hätte sich dabei lauwarmen Tee in ein Glas gegossen – sie benutzte niemals Teetassen – und hinuntergekippt. Dann hätte sie gesagt: »Nimm’s, wie’s kommt, mein Junge« und sich wieder der neuesten Ausgabe von Hello zugewandt, um die Bilder der Reichen und Schönen zu bewundern, die in schicken Londoner Wohnungen und auf eleganten Landsitzen ein luxuriöses Leben führten.
Das wäre ihre Art gewesen, Ian zu raten, sich mit seinem Schicksal abzufinden, ihr wenig taktvoller Hinweis darauf, dass einer wie er für ein Leben im Luxus eben nicht geschaffen sei. Aber Ian hatte ein solches Leben nie angestrebt. Er hatte nie mehr gewollt, als anerkannt und akzeptiert zu werden, und diese beiden Ziele verfolgte er mit der Inbrunst eines verlassenen Kindes, das es nie geschafft hatte, adoptiert zu werden. Er hatte schlichte Wünsche: eine Frau, eine Familie und die Gewissheit, dass seine Zukunft rosiger ausfallen würde als seine harte Vergangenheit.
Diese Ziele waren einst erreichbar erschienen. Er machte seine Arbeit gut. Er war jeden Morgen überpünktlich ins Büro gekommen. Er hatte Überstunden ohne Bezahlung geleistet. Er hatte sich die Namen seiner Mitarbeiter eingeprägt. Er war sogar so weit gegangen, sich die Namen ihrer Ehepartner und Kinder zu merken, und das war keine Kleinigkeit. Und zum Dank für all seine Anstrengungen hatte man ihm im Büro eine Abschiedsfeier mit Fertigbowle ausgerichtet und ihm eine Schachtel Taschentücher aus einem Billigkaufhaus geschenkt.
Ian hatte versucht, dem Unvermeidlichen zuvorzukommen, es vielleicht sogar abzuwenden. Er hatte auf seine Leistungen hingewiesen, auf die vielen freiwilligen Überstunden, die er gemacht hatte, auf das Opfer, das er gebracht hatte, indem er sich nicht nach einer anderen Anstellung umgesehen hatte, solange er den Posten auf Zeit innegehabt hatte. In dem Bemühen um einen Kompromiss hatte er angeboten, sich mit einem niedrigeren Gehalt zufriedenzugeben, und zum Schluss hatte er darum gebettelt, seinen Job behalten zu dürfen.
Es hatte Ian nichts ausgemacht, sich vor seinem Arbeitgeber zu erniedrigen. Hauptsache, er behielt seine Arbeit. Denn nur wenn er Arbeit hatte, konnte er weiterhin sein neues Haus abzahlen. Und dann konnten Anita und er in ihren gemeinsamen Bemühungen fortfahren, Mikey ein kleines Geschwisterchen zu bescheren, dann brauchte Ian seine Frau nicht zur Arbeit zu schicken. Vor allem aber wäre ihm Anitas verächtlicher Blick angesichts seiner erneuten Arbeitslosigkeit erspart geblieben.
»Es ist diese gemeine Rezession, Schatz«, hatte er zu ihr gesagt. »Die nimmt einfach kein Ende. Die Bewährungsprobe unserer Eltern war der Zweite Weltkrieg. Unsere ist diese Wirtschaftskrise.«
Ihr geringschätziger Blick hatte gesagt: »Komm mir nicht mit Philosophie. Du hast deine Eltern ja nicht mal gekannt, Ian Armstrong.« Tatsächlich jedoch sagte sie mit ganz unangemessener und daher unheilverkündender Freundlichkeit: »Na, da lande ich wohl wieder in der Bibliothek. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was groß übrigbleiben soll, wenn ich jemanden bezahlen muss, der auf Mikey aufpasst, solange ich weg bin. Oder hattest du vielleicht vor, ihn selbst zu hüten, anstatt auf Arbeitssuche zu gehen?« Sie lächelte mit verkniffener Unaufrichtigkeit.
»Ich hab’ noch gar nicht darüber nachgedacht –«
»Das ist ja das Schlimme an dir, Ian. Du denkst nie nach. Nie hast du einen Plan. Wir schlittern vom Problem in die Krise und weiter an den Rand der Katastrophe. Wir haben ein neues Haus, das wir nicht bezahlen können, und ein Kind, das wir ernähren müssen, und trotzdem fällt dir nicht ein, mal nachzudenken. Wenn du vorausgeplant hättest, wenn du dich bei der Firma unentbehrlich gemacht und gedroht hättest zu gehen, als der Betrieb vor anderthalb Jahren umgestellt werden musste und du der Einzige in Essex warst, der das hätte durchziehen können –«
»Das stimmt doch gar nicht, Anita.«
»Na bitte! Da hast du’s!«
»Was?«
»Du bist viel zu bescheiden. Du machst nichts aus dir. Sonst hättest du bestimmt längst einen Vertrag. Wenn du nur einmal planen würdest, hättest du damals, als sie dich am dringendsten gebraucht haben, auf einen festen Vertrag bestanden.«
Es war sinnlos, Anita erklären zu wollen, wie es im Geschäftsleben zuging, wenn sie so aufgebracht war. Und Ian konnte es seiner Frau im Grunde nicht verübeln, dass sie aufgebracht war. In den sechs Jahren ihrer Ehe hatte er dreimal die Stellung verloren. In den ersten zwei Perioden der Arbeitslosigkeit hatte sie ihn unterstützt, aber damals hatten sie auch noch bei ihren Eltern gelebt und nicht die Geldsorgen gehabt, die sie jetzt niederdrückten. Ach, wenn doch alles anders sein könnte, dachte Ian. Wenn sein Arbeitsplatz doch nur sicher gewesen wäre. Aber sich in die unsichere Welt von »wenn doch nur« zu flüchten, war keine Lösung.
Anita begann also wieder zu arbeiten. Sie bekam eine erbärmliche und schlecht bezahlte Stellung bei der Stadtbibliothek, wo sie Bücher ordnete und Rentnern half, ihre Zeitschriften zu suchen. Und Ian begab sich wieder einmal auf den demütigenden Weg der Arbeitssuche, und das in einem Teil des Landes, der schon lange tief in der wirtschaftlichen Krise steckte.
Er begann jeden Tag damit, dass er sich sorgfältig kleidete und das Haus vor seiner Frau verließ. Er hatte sein Glück im Norden bis nach Ipswich versucht, im Westen bis nach Colchester. Er hatte sich in Clacton im Süden bemüht und war sogar bis nach Southend-on-Sea vorgestoßen. Er hatte sein Bestes getan, aber erreicht hatte er nichts. Und jeden Abend sah er sich Anitas schweigender, aber wachsender Verachtung gegenüber. An den Wochenenden floh er.
Er floh in lange Wanderungen. Im Lauf der vergangenen Wochen hatte er die ganze Halbinsel Tendring kennengelernt wie seine Westentasche. Sein Lieblingsspaziergang begann nicht weit vom Ort, wo hinter der Brick Barn Farm eine Seitenstraße zu dem Fußpfad über den Wade führte. Am Ende des Sträßchens pflegte er den Morris stehenzulassen, und wenn Ebbe war, stieg er in seine Gummistiefel und stapfte über den morastigen Damm zu dem Buckel Land, der Horsey Island hieß. Hier beobachtete er die Wasservögel und ging auf Muschelsuche. In der Natur fand er den Frieden, den sein Alltag ihm verwehrte. Und an den frühen Wochenendmorgen zeigte sich ihm die Natur von ihrer schönsten Seite.
An diesem besonderen Samstagmorgen war Flut, darum wählte Ian den Nez für seine Wanderung. Der Nez war ein beeindruckendes, von Ginster überwuchertes Kap, das sich knapp fünfzig Meter über der Nordsee erhob und sie von den Salzwiesen eines Wattgebiets trennte, die man die Saltings nannte. Wie die Siedlungen an der Küste führte auch der Nez einen immerwährenden Kampf gegen die See. Doch im Gegensatz zu den Dörfern und Städten schützten ihn keine Molen; seine Hänge waren nicht mit Beton befestigt, der verhindert hätte, dass der unsichere Boden aus Lehm, Kiesel und Erdreich bröckelte und brach und zum untenliegenden Strand abrutschte.
Ian beschloss, am Südostende des Kaps loszugehen, bis zur Spitze hinauszuwandern und auf der Westseite, wo Wattvögel wie Rotschenkel und Grünschenkel nisteten und in den Prielen nach Nahrung suchten, zurückzukehren. Fröhlich winkte er Anita bei der Abfahrt zu, die seinen Gruß mit ausdrucksloser Miene erwiderte, und schlängelte sich aus der Siedlung hinaus. Nach fünf Minuten erreichte er die Straße nach Balford-le-Nez, und noch einmal fünf Minuten später war er auf der Hauptstraße von Balford, wo im Dairy Den Diner gerade das Frühstück serviert wurde und vor Kemps Supermarkt die Gemüseauslagen gerichtet wurden.
Er brauste durch den Ort und bog nach links ab, um der Küste zu folgen. Schon jetzt war zu spüren, dass es wieder ein heißer Tag werden würde. Er kurbelte das Fenster herunter, um die angenehme Salzluft zu genießen, und überließ sich ganz der Freude über diesen Morgen, entschlossen, die Schwierigkeiten zu vergessen, mit denen er zu kämpfen hatte. Einen Moment lang erlaubte er sich so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.
In dieser Stimmung nahm Ian die Abzweigung zur Nez Park Road. Das Wächterhäuschen an der Einfahrt zum Kap war so früh am Morgen verlassen; es war niemand da, der ihm für das Privileg eines Spaziergangs über die Landzunge sechzig Pence abknöpfte. Ians Wagen rumpelte ungehindert über die Schlaglöcher zum Parkplatz über dem Meer.
Und dort sah er den Nissan, ein Hecktürmodell, der einsam im Licht des frühen Morgens dastand, nur wenige Schritte von den Grenzpfählen entfernt, die den Parkplatz absteckten. Ian hielt auf den Wagen zu und bemühte sich dabei, den Schlaglöchern so gut wie möglich auszuweichen. In Gedanken war er schon bei seiner Wanderung und fand nichts Bemerkenswertes an der Anwesenheit des anderen Fahrzeugs, bis ihm auffiel, dass eine seiner Türen offen stand und Motorhaube und Dach nass waren vom nächtlichen Tau.
Er runzelte die Stirn. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad des Morris und dachte über den unangenehmen Bezug zwischen einem verlassenen Auto mit offener Tür und einem steilen Küstenfelsen nach. Beinahe hätte er angesichts der Richtung, die seine Gedanken einschlugen, kehrtgemacht, um wieder nach Hause zu fahren. Aber die Neugier siegte. Er ließ den Morris langsam vorwärtsrollen, bis er auf gleicher Höhe mit dem Nissan war.
»Hallo, guten Morgen. Brauchen Sie vielleicht Hilfe?«, rief er aufgeräumt aus seinem offenen Fenster für den Fall, dass jemand auf dem Rücksitz ein Nickerchen machte. Dann sah er, dass die Klappe des Handschuhfachs herabhing und der Inhalt über den Wagenboden verstreut lag.
Er kombinierte rasch: Da hatte jemand etwas gesucht. Er stieg aus dem Morris und beugte sich in den Nissan hinein, um sich genauer umzusehen.
Die Suche war brutal gründlich gewesen. Die Polsterung der Vordersitze war aufgeschlitzt, und der Rücksitz war nicht nur aufgeschnitten, sondern auch nach vorn gezogen, als hätte man dahinter versteckte Schätze vermutet. Die Innenwände der Türen schienen abgerissen und dann notdürftig wieder festgemacht worden zu sein, die Konsole zwischen den Sitzen war offen, das Verdeckfutter hing lose herunter.
Ian ging noch etwas weiter in seiner Schlussfolgerung: Drogen, dachte er. Die Hafenstädte Parkeston und Harwich waren nicht weit von hier. Lastzüge, Personenautos und riesige Container trafen dort jeden Tag auf Dutzenden von Fähren ein. Sie kamen aus Schweden, Holland und Deutschland, und der gerissene Schmuggler, dem es gelang, den Zoll zu überlisten, war sicher klug genug, sich an einen abgelegenen Ort zu verkrümeln – wie zum Beispiel den Nez –, ehe er seine Schmuggelware auslud. Dieser Wagen, sagte sich Ian, war stehengelassen worden, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte. Und er würde jetzt seine Wanderung machen und danach die Polizei anrufen, um das Fahrzeug abschleppen zu lassen.
Er war so zufrieden wie ein Kind über seine scharfe Kombinationsgabe. Belustigt über seine erste Reaktion beim Anblick des Wagens, nahm er seine Gummistiefel aus dem Kofferraum, und während er seine Füße in sie hineinschob, lachte er leise vor sich hin bei dem Gedanken, dass sich irgendein verzweifelter Zeitgenosse ausgerechnet diese Stelle ausgesucht haben sollte, um seinem Elend ein Ende zu machen. Alle Welt wusste, dass die Kante der Küstenfelsen hier auf dem Nez äußerst brüchig war. Ein Selbstmordkandidat, der vorhatte, sich an dieser Stelle ins ewige Vergessen zu stürzen, würde eher in einer durch das eigene Gewicht losgetretenen Lawine aus Lehm, Kies und Schlick zum Strand hinunterrutschen. Er würde sich vielleicht ein Bein brechen, aber seinem Leben ein Ende machen? Wohl kaum. Auf dem Nez starb man nicht.
Ian knallte den Kofferraumdeckel zu. Er sperrte den Wagen ab und gab ihm einen Klaps aufs Dach. »Treuer alter Kasten«, sagte er anerkennend. »Dank dir vielmals.« Die Tatsache, dass der Motor jeden Morgen brav ansprang, war ein Wunder, aber abergläubisch, wie Ian war, fand er, das müsse man unterstützen.
Er hob fünf Papiere irgendwelcher Art auf, die neben dem Nissan auf dem Boden lagen, und steckte sie in das Handschuhfach, aus dem sie zweifellos gekommen waren. Ordnung ist das halbe Leben, dachte er und schlug die Wagentür gewissenhaft zu. Dann ging er zu der alten Betontreppe, die zum Strand hinunterführte.
Auf der obersten Stufe blieb er stehen. Selbst um diese Zeit schon war der Himmel strahlend blau, ungetrübt vom kleinsten Wölkchen, und die Nordsee lag in heiterer sommerlicher Ruhe. Weit draußen am Horizont hing wie eine Watterolle eine Nebelbank, ferne Kulisse für einen Fischkutter – vielleicht einen halben Kilometer vor der Küste –, der in Richtung Clacton tuckerte. Ein Schwarm Möwen umspielte ihn wie eine Mückenwolke. Und Möwen flogen scharenweise oben an den Küstenfelsen entlang. Die Vögel hielten direkt auf ihn zu. Sie kamen von Norden, aus Harwich, dessen Kräne er selbst aus dieser Entfernung jenseits der Pennyhole-Bucht erkennen konnte.
Das reinste Empfangskomitee, dachte Ian beim Anblick der Vögel, deren gesammeltes Interesse einzig auf ihn gerichtet zu sein schien. Ja, sie schossen mit solch blinder Entschlossenheit auf ihn los, dass ihm unwillkürlich du Mauriers Erzählung, Hitchcocks Film und die grusligen Vogelattacken auf Tippi Hedren in den Sinn kamen. Schon dachte er an hastigen Rückzug – oder wenigstens Maßnahmen zum Schutz seines Kopfes –, als die Vögel in geschlossener Formation einen Bogen schlugen und zu einem kleinen Bauwerk am Strand hinunterstießen. Es war ein Betonbau, ein ehemaliger Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Schutz britische Truppen auf der Lauer gelegen hatten, um ihr Land gegen eine Invasion der Nazis zu verteidigen. Der Bunker hatte früher einmal auf der Höhe des Nez gestanden, doch die Zeit und die See hatten den Küstenfelsen abgetragen, und nun stand er unten im Sand.
Und auf dem Dach des Bunkers vollführte eine weitere Möwenmeute ihre schwimmfüßigen Steptänze, während durch eine sechseckige Öffnung im Dach, wo früher einmal vermutlich eine Maschinengewehrstellung gewesen war, unablässig Vögel ein und aus flogen. Sie kreischten und krächzten mit heiseren Stimmen wie in aufgeregtem Gespräch, und was sie berichteten, schien sich telepathisch zu den Vögeln draußen auf See fortzupflanzen, denn sie begannen, von dem Fischkutter auszuschwärmen und Kurs aufs Festland zu nehmen.
Ihr zielgerichteter Flug erinnerte Ian an eine Szene, die er als Kind am Strand in der Nähe von Dover erlebt hatte. Ein großer, grimmig bellender Hund war von einem Schwarm ähnlicher Vögel ins Meer hinausgelockt worden. Für den Hund war es ein Spiel gewesen zu versuchen, sie vom Wasser aus zu schnappen, sie aber hatten aus dem Spiel tödlichen Ernst gemacht und ihn immer weiter hinausgelockt, bis das arme Tier gut fünfhundert Meter vom Strand entfernt gewesen war. Weder barsche Befehle noch flehentliche Beschwörungen hatten den Hund zurückholen können. Und niemand hatte die Vögel in Schach halten können. Hätte Ian nicht mit eigenen Augen gesehen, wie die Möwen mit dem rasch schwächer werdenden Hund ihr Spiel trieben – wie sie neckend über ihm kreisten, immer knapp außer Reichweite, kreischend zu ihm hinunterschossen, um gleich wieder in die Höhe zu steigen –, er hätte niemals geglaubt, Vögel könnten mörderische Absichten hegen. Aber an diesem Tag hatte er es erfahren, und seither glaubte er es. Und hielt immer sicheren Abstand zu ihnen.
Jetzt fiel ihm dieser arme Hund wieder ein. Es war offensichtlich, dass die Möwen mit irgendetwas ihr höhnisches Spiel trieben, und was auch immer dieses bedauernswerte Etwas sein mochte, es befand sich im Inneren des alten Bunkers. Handeln war angesagt!
Ian rannte die Treppe hinunter. »Hey, hey, weg da!«, rief er und wedelte mit den Armen. Aber die Möwen, die auf dem mit Vogelmist verschmierten Betondach herumstolzierten und drohend mit den Flügeln schlugen, kümmerte das nicht. Dennoch dachte Ian nicht daran aufzugeben. Die Möwen damals in Dover hatten ihren hündischen Verfolger besiegt, die Möwen aus Balford jedoch würden Ian Armstrong auf keinen Fall besiegen.
Er lief in ihre Richtung. Der Bunker war ungefähr fünfundzwanzig Meter vom Fuß der Treppe entfernt, und auf diese Distanz konnte er sich zu ansehnlicher Geschwindigkeit steigern. Mit fuchtelnden Armen und lautem Gebrüll stürzte er den Vögeln entgegen und vermerkte mit Befriedigung, dass seinen Einschüchterungsversuchen Erfolg beschieden war. Die Möwen stiegen in die Lüfte und ließen Ian mit dem Bunker und dem, was sie in seinem Inneren aufgestöbert hatten, zurück.
Der Eingang war nur ein Loch von weniger als einem Meter Höhe, gerade richtig für einen schutzsuchenden kleinen Seehund, sich da durchzurobben. Und einen Seehund erwartete Ian auch zu finden, als er geduckt durch den kurzen Tunnel kroch und in die dämmrige Düsternis des Bunkers gelangte.
Vorsichtig richtete er sich auf. Sein Kopf streifte die feuchte Decke. Ein durchdringender Geruch nach Tang und sterbenden Schalentieren schien vom Boden aufzusteigen und aus den Wänden zu sickern, die über und über mit Graffiti, vornehmlich obszöner Art, bedeckt waren.
Durch schmale Fensteröffnungen fiel Licht, und Ian konnte sehen, dass der Bunker – den er trotz seiner vielen Ausflüge auf den Nez nie zuvor erkundet hatte – aus zwei konzentrischen Mauerringen bestand. Er hatte die Form eines Donuts, und eine Öffnung in der inneren Mauer bot Zugang zu seinem Zentrum. Dorthin hatte es die Möwen gezogen, und nachdem Ian auf dem von Abfällen übersäten Boden nichts von Bedeutung entdeckt hatte, bewegte er sich auf diese Öffnung zu und rief: »Hallo? Ist da jemand?«, obwohl er sich hätte sagen müssen, dass ein Tier – ob verletzt oder nicht – ihm wohl kaum antworten würde.
Die Luft war muffig. Draußen kreischten die Vögel. Als er die Öffnung erreichte, konnte er ihren Flügelschlag hören und das Tippeln ihrer Schwimmfüße, als einige der kühneren schon wieder Stellung bezogen. Nein, so geht das nicht, dachte Ian grimmig. Schließlich war er hier der Mensch, Herr des Planeten und König all dessen, was er überblickte. Undenkbar, dass eine Bande frecher Vögel sich anmaßte, ihm die Herrschaft streitig zu machen.
»Haut ab!«, rief er. »Los, ab mit euch! Weg da!« und stieß ins Zentrum des Bunkers vor. Vögel flatterten himmelwärts. Ians Blick folgte ihrem Flug. »Das ist schon besser«, sagte er und schob die Ärmel seiner Jacke bis zu den Ellbogen hoch, um dem von den Möwen gemarterten Geschöpf Hilfe zu leisten.
Es war kein Seehund, und nicht alle Möwen hatten sich vertreiben lassen. Das sah er mit einem Blick. Ihm drehte sich der Magen um, und sein Schließmuskel erzitterte.
Ein junger Mann mit dünnem Haar saß aufrecht an die alte betonierte MG-Stellung gelehnt. Dass er tot war, demonstrierten die zwei verbliebenen Möwen, die sich über seine Augen hergemacht hatten.
Ian Armstrong trat einen Schritt an den Toten heran. Er fühlte sich selbst wie tot. Als er wieder Luft bekam und seinen Augen trauen konnte, stieß er nur zwei Worte aus: »Heiliger Himmel!«
Wer behauptet, der April sei der grausamste Monat des Jahres, war nie während einer sommerlichen Hitzewelle in London. Etwas Grausameres als die letzten Junitage, da die Luftverschmutzung den Himmel in elegantes Braun kleidete, Dieseldämpfe Gebäude – und Nasenwände – mit schlichtem Schwarz umschleierten und das Laub der Bäume sich in hochmodischem Staubgrau präsentierte, gab es nicht. Es war die Hölle. Zu dieser unsentimentalen Bewertung der Hauptstadt ihres Heimatlandes gelangte jedenfalls Barbara Havers, als sie in ihrem klappernden Mini durch die Stadt heimwärts fuhr.
Sie war ganz leicht – aber dennoch angenehm – angesäuselt. Nicht so sehr, dass sie sich selbst oder andere auf der Straße hätte gefährden können, aber doch so weit, dass sie auf die Ereignisse des Tages durch das rosige Licht zurückblicken konnte, das teurer französischer Champagner zu entzünden pflegt.
Sie kehrte von einer Hochzeit nach Hause. Sie war nicht das gesellschaftliche Ereignis des Jahrzehnts gewesen, was sie von einem Tag, an dem ein hochwohlgeborener Earl endlich seine langjährige Angebetete heimführte, eigentlich erwartet hätte. Es war vielmehr eine Trauung in aller Stille auf dem Standesamt in Belgravia gewesen, wo besagter Earl seinen Wohnsitz hatte. Und statt blaublütiger Gäste in Samt und Seide waren nur die engsten Freunde des Earl geladen gewesen sowie einige seiner Polizeikollegen von New Scotland Yard. Barbara Havers gehörte zur letzteren Gruppe, obwohl sie sich manchmal schmeichelte, auch zur ersteren zu gehören.
Bei genauerer Überlegung war Barbara klar, dass sie von Inspector Thomas Lynley eigentlich nichts anderes hatte erwarten können als so eine Trauung im engsten Kreis. Solange sie ihn kannte, hatte er, der den Titel Lord Asherton trug, sein adeliges Licht stets unter den Scheffel gestellt, und das Letzte, was er gewollt hätte, wäre ein rauschendes High Society-Fest gewesen. So hatten sich also stattdessen sechzehn Gäste, die entschieden nicht High Society waren, versammelt, um Lynley und Helen Clyde beim Sprung in die Ehe Beistand zu leisten, und hinterher hatte man sich ins La Tante Claire in Chelsea begeben, wo sechs verschiedene Arten von Horsd’œuvres, Champagner, ein Mittagessen und noch mehr Champagner gewartet hatten.
Nachdem alle Reden gehalten waren und das Hochzeitspaar in die Flitterwochen aufgebrochen war, deren Ziel preiszugeben es sich lachend geweigert hatte, löste sich die Gesellschaft auf. Barbara stand auf dem glühend heißen Pflaster der Royal Hospital Road und schwatzte noch ein wenig mit den anderen Gästen, unter ihnen Lynleys Trauzeuge Simon St. James, seines Zeichens Gerichtsmediziner. Nach bester englischer Manier hatte man sich zunächst über das Wetter unterhalten. Je nachdem, welche Einstellung der Sprecher zu Hitze, Luftfeuchtigkeit, Smog, Abgasen, Staub und grellem Licht hatte, wurde die derzeitige Witterung als wunderbar, grässlich, angenehm, verdammt unangenehm, herrlich, köstlich, unerträglich, himmlisch oder schlicht höllisch eingestuft. Die Braut erhielt das Prädikat bezaubernd, der Bräutigam gutaussehend. Das Essen erhielt die Note hervorragend. Danach trat eine allgemeine Pause ein, während der die Gesellschaft sich entscheiden musste, ob man das Gespräch fortsetzen und riskieren wollte, dass es über Banalitäten hinausging, oder sich lieber freundlich verabschiedete.
Die Gruppe löste sich auf. Barbara blieb mit St. James und seiner Frau Deborah zurück. Beide stöhnten unter der gnadenlosen Sonne. St. James tupfte sich die Stirn immer wieder mit einem weißen Taschentuch, und Deborah fächelte sich mit einem alten Theaterprogramm, das sie aus ihrer geräumigen Strohtasche gekramt hatte, eifrig Kühlung zu.
»Kommen Sie noch mit zu uns, Barbara?«, fragte sie. »Wir setzen uns den Rest des Tages in den Garten und lassen uns von Dad mit dem Gartenschlauch abspritzen.«
»Das klingt sehr verlockend«, sagte Barbara. Sie rieb sich den schweißfeuchten Hals.
»Wunderbar.«
»Aber ich kann nicht. Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich fertig.«
»Verständlich«, meinte St. James. »Wie lang ist es jetzt her?«
»Wie dumm von mir«, sagte Deborah hastig. »Entschuldigen Sie, Barbara. Ich hatte es ganz vergessen.«
Das bezweifelte Barbara. Angesichts des Pflasters über ihrer Nase und der Blutergüsse im Gesicht – ganz zu schweigen von dem angeschlagenen Schneidezahn – konnte wohl kaum jemand übersehen, dass sie kürzlich noch im Krankenhaus gelegen hatte. Deborah war nur zu höflich, um es zu erwähnen.
»Zwei Wochen«, antwortete Barbara auf St. James’ Frage.
»Was macht die Lunge?«
»Sie funktioniert.«
»Und die Rippen?«
»Die tun nur noch weh, wenn ich lache.«
St. James lächelte. »Haben Sie Urlaub genommen?«
»Ich bin dazu verdonnert worden. Ich darf erst wieder arbeiten, wenn ich die Genehmigung des Arztes habe.«
»Das war wirklich eine schlimme Geschichte«, sagte St. James. »So ein Pech.«
»Hm, na ja.« Barbara zuckte die Achseln. Zum ersten Mal hatte sie in einem Mordfall einen Teil der Ermittlungen ganz selbständig geleitet, und prompt war sie in Ausübung ihrer Pflicht verwundet worden. Sie sprach ungern darüber. Ihr Stolz hatte so sehr gelitten wie ihr Körper.
»Und was haben Sie nun vor?«, fragte St. James.
»Sehen Sie zu, dass Sie der Hitze entkommen«, riet Deborah. »Fahren Sie in die Highlands. Oder ins Seengebiet. Oder fahren Sie ans Meer. Ich wollte, wir könnten hier weg.«
Barbara sann über Deborahs Vorschläge nach, während sie die Sloane Street hinauffuhr. Nach Abschluss des letzten Falles hatte Inspector Lynley ihr strengen Befehl gegeben, Urlaub zu machen, und hatte diesen Befehl bei einem kurzen persönlichen Gespräch nach der Hochzeit noch einmal wiederholt.
»Es ist mir ernst, Barbara«, hatte er gesagt. »Sie haben Urlaub gut, und ich möchte, dass Sie ihn nehmen. Ist das klar?«
»Klar, Inspector.«
Nur war leider gar nicht klar, was sie mit der aufgezwungenen Muße anfangen sollte. Der Gedanke, eine Zeitlang ganz ohne Arbeit auskommen zu müssen, war für sie so beängstigend, wie er nur für eine Frau sein konnte, die ihr Privatleben, ihre wunde Seele und ihre empfindlichen Gefühle allein dadurch in Schach hielt, dass sie nie Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. In der Vergangenheit hatte sie ihre Urlaube vom Yard dafür verwendet, ihren schwerkranken Vater zu betreuen. Nach seinem Tod hatte sie ihre freien Stunden dazu genutzt, mit der geistigen Verwirrung ihrer alten Mutter fertigzuwerden, für die Renovierung und den Verkauf des elterlichen Hauses zu sorgen und ihren eigenen Umzug in ihr jetziges Häuschen zu erledigen. Muße war nichts für sie. Allein die Vorstellung von Minuten, die sich zu Stunden summierten, zu Tagen dehnten, zu einer ganzen Woche oder vielleicht sogar zwei … Ihre Hände wurden feucht bei dieser Aussicht. Schmerz schoss bis in ihre Ellbogen. Jede Faser ihres kleinen, stämmigen Körpers bäumte sich auf und schrie: »Panik«!
Während sie ihren Wagen durch den Verkehr steuerte und ein Rußteilchen wegzwinkerte, das auf einem glühenden Luftzug durch das offene Fenster hereingetragen worden war, fühlte sie sich wie eine Frau am Rand eines Abgrunds, der jäh ins Nichts abfiel und mit dem gefürchteten Wort »Freizeit« ausgeschildert war. Was sollte sie tun? Was sollte sie unternehmen? Wohin fahren? Wie die endlosen Stunden füllen? Mit der Lektüre von Liebesromanen? Mit der gründlichen Reinigung der lächerlichen drei Fenster, die ihr Häuschen hatte? Mit Übungsstunden im Backen, Bügeln und Nähen? Wahrscheinlich würde sie sowieso gleich einen Hitzekoller bekommen. Diese verdammte Hitze, diese elende Hitze, diese widerliche, ätzende, beschissene Hitze, diese –
Reiß dich zusammen, Barbara, fuhr sie sich an. Du bist zum Urlaub verurteilt, nicht zu Einzelhaft.
Am Ende der Sloane Street wartete sie geduldig, bis sie in die Knightsbridge Road abbiegen konnte. Sie hatte im Krankenhaus täglich die Fernsehnachrichten angesehen und wusste, dass das ungewöhnlich warme Wetter einen noch größeren Schwall ausländischer Touristen als sonst nach London gelockt hatte. Aber hier sah sie sie in Fleisch und Blut: Horden von Menschen, die sich mit Mineralwasserflaschen bewaffnet die Bürgersteige entlangschoben. Weitere Horden drängten aus dem U-Bahnhof Knightsbridge herauf und spritzten auseinander, um direkten Kurs auf die schicken Geschäfte der Gegend zu nehmen. Und fünf Minuten später, als Barbara es geschafft hatte, sich die Park Lane hinaufzuschlängeln, sah sie sie – Seite an Seite mit ihren eigenen Landsleuten – im Hyde Park, wo sie auf durstigem Rasen ihre lilienweißen Körper dem Sonnengott darboten. Unter der glühenden Sonne zuckelten Doppeldeckerbusse mit offenem Verdeck durch die Straßen, beladen mit Passagieren, die begierig den Ausführungen der Fremdenführer an den Mikrofonen lauschten. Große Reisebusse spien vor jedem Hotel Deutsche, Koreaner, Japaner und Amerikaner aus.
Und alle atmen wir die gleiche Luft, dachte sie. Die gleiche heiße, verpestete Luft. Vielleicht wäre ein Urlaub doch das Richtige.
Sie mied die ewig verstopfte Oxford Street und fuhr stattdessen durch die Edgware Road in nordwestlicher Richtung. Hier draußen lichtete sich die Masse der Touristen, wich den Immigrantenmassen: dunkelhäutige Frauen in sari, chādor und hijab; dunkelhäutige Männer in Aufmachungen, die von Bluejeans bis zum Kaftan reichten. Während Barbara, in den Verkehrsstrom eingekeilt, im Schritttempo dahinkroch, beobachtete sie diese einstigen Fremden, die sicher und zielstrebig ihrer Wege gingen, und gedachte flüchtig der Veränderungen, die London im Lauf ihrer dreiunddreißig Lebensjahre durchgemacht hatte. Das Essen war eindeutig besser geworden. Doch als Polizeibeamtin wusste sie, dass diese multikulturelle Gesellschaft auch ein gerüttelt Maß an multikulturellen Problemen hervorbrachte.
Sie machte einen Schlenker, um dem Gewimmel auszuweichen, das sich stets rund um Camden Lock staute, und zehn Minuten später zuckelte sie endlich Eton Villas hinauf und betete zum Gott für Verkehr und Transport, dass er ihr einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung bescheren möge.
Der Gott bot einen Kompromiss an: ein Plätzchen um die Ecke, ungefähr fünfzig Meter entfernt. Mit Schuhlöffelmanövern quetschte Barbara ihren Mini in die Lücke, die eigentlich nur für ein Motorrad geeignet war. Sie stapfte den Weg, den sie gekommen war, zurück und stieß das Tor zu dem gelben edwardianischen Haus auf, hinter dem ihr kleiner Bungalow stand.
Auf der langen Fahrt quer durch die Stadt hatte sich die rosige Champagnerlaune verflüchtigt, und übrig war nur das, was nach alkoholinduzierter Hochstimmung meist zurückbleibt: brennender Durst. Sie folgte dem Fußweg, der am Haus entlang in den hinteren Garten führte. An seinem Ende stand ihr Häuschen und sah im Schatten einer Robinie kühl und einladend aus.
Aber wie üblich trog der Schein. Als Barbara die Tür aufsperrte und eintrat, schlug ihr brütende Hitze entgegen. Sie hatte die drei Fenster in der Hoffnung auf einen kühlenden Durchzug offen gelassen, aber draußen regte sich kein Lüftchen, daher überfiel sie die schwüle Hitze wie eine grausame Heimsuchung.
»Ach, Mist«, murmelte sie mürrisch. Sie warf ihre Umhängetasche auf den Tisch und ging zum Kühlschrank. Eine Literflasche Vitell überragte wie ein Turm den Hort der übrigen Vorräte: Pappkartons und Styroporbehälter mit den Resten von Mahlzeiten aus dem Imbiss und Fertiggerichten. Barbara packte die Flasche und ging mit ihr zur Spüle. Sie kippte fünf kräftige Züge hinunter, dann beugte sie sich über das Becken und goss sich die Hälfte des restlichen Wassers über Kopf und Nacken. Der plötzliche Strahl eiskalten Wassers auf ihrer Haut trieb ihr fast die Augen aus dem Kopf. Es war eine Wohltat.
»Himmlisch«, prustete Barbara. »Ich habe Gott entdeckt.«
»Duschst du gerade?«, erklang hinter ihr eine Kinderstimme. »Soll ich später wiederkommen?«
Barbara drehte sich zur Tür um. Sie hatte sie offen gelassen, aber sie hatte nicht erwartet, dass Besucher das als Einladung auffassen könnten. Seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus in Wiltshire, in dem sie mehrere Tage zugebracht hatte, hatte sie ihre Nachbarn gemieden. Um die Möglichkeiten einer Zufallsbegegnung zu begrenzen, hatte sie ihr Kommen und Gehen auf Zeiten beschränkt, zu denen die Bewohner des großen Haupthauses ihres Wissens nicht da waren.
Aber nun war sie doch ertappt worden. Das kleine Mädchen kam hüpfend einen Schritt näher und riss die blanken braunen Augen auf. »Was hast du denn mit deinem Gesicht angestellt, Barbara? Hast du einen Zusammenstoß mit dem Auto gehabt? Es schaut ganz furchtbar aus.«
»Danke, Hadiyyah.«
»Tut es weh? Was ist passiert? Wo bist du gewesen? Ich hab’ mir solche Sorgen gemacht. Ich hab’ sogar zweimal angerufen. Heute. Schau! Dein Anrufbeantworter blinkt. Soll ich es dir vorspielen? Ich weiß, wie das geht. Du hast es mir gezeigt, weißt du noch?«
Hadiyyah hüpfte vergnügt durch das Zimmer und ließ sich auf Barbaras Bettcouch fallen. Der Anrufbeantworter stand auf einem Bord neben dem kleinen offenen Kamin. Selbstsicher drückte das Mädchen einen der Knöpfe an dem Gerät und strahlte Barbara an, als ihre eigene Stimme hörbar wurde.
»Hallo«, schallte es aus dem Anrufbeantworter. »Hier ist Khalidah Hadiyyah. Deine Nachbarin. Aus dem Vorderhaus im Parterre.«
»Dad hat gesagt, ich muss immer genau sagen, wer ich bin, wenn ich jemanden anrufe«, erklärte Hadiyyah. »Er hat gesagt, das wär’ nur höflich.«
»Ja, es ist nützlich«, stimmte Barbara zu. »Dann gibt’s am anderen Ende der Leitung keine Verwechslung.« Sie griff nach einem Geschirrtuch, das an einem Haken hing, und trocknete sich damit das kurzgeschnittene Haar und den Nacken.
»Es ist furchtbar, nicht?«, schwatzte die Stimme im Anrufbeantworter weiter. »Wo bist du? Ich ruf’ an, weil ich dich fragen wollte, ob du mit mir ein Eis essen gehst. Ich hab’ Geld gespart. Es reicht für zwei, und Dad hat gesagt, ich darf einladen, wen ich will. Also lade ich dich ein. Ruf mich bald zurück. Aber keine Angst, ich lade inzwischen bestimmt niemand anders ein. Tschüs.« Nach einer kurzen Pause, einem Piepton und einer Zeitangabe folgte die nächste Nachricht. »Hallo. Hier ist noch mal Khalidah Hadiyyah. Deine Nachbarin. Aus dem Vorderhaus im Parterre. Ich will immer noch ein Eis essen gehen. Hast du Lust? Ruf mich doch bitte an. Wenn du kannst, meine ich. Ich lade dich ein. Ich hab’ Geld genug. Ich hab’s gespart.«
»Hast du gewusst, wer es ist?«, fragte Hadiyyah. »Habe ich genug gesagt? Ich hab’ nicht genau gewusst, was ich alles sagen muss, damit du gleich Bescheid weißt, aber ich fand, es wäre genug.«
»Es war total in Ordnung«, versicherte Barbara. »Besonders nett war’s, dass du mir gesagt hast, dass du im Erdgeschoss wohnst. Da weiß ich doch gleich, wo ich deine Kohle finde, wenn ich welche klauen muss, um mir ein paar Kippen zu kaufen.«
Hadiyyah kicherte. »Das würdest du doch nie tun, Barbara!«
»Da kennst du mich aber schlecht, Schatz«, entgegnete Barbara. Sie ging zum Tisch und kramte eine Packung Players aus ihrer Tasche. Sie zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Ein kleiner Schmerzstich durchzuckte ihre Lunge, und sie verzog einen Moment das Gesicht.
»Das tut dir überhaupt nicht gut«, stellte Hadiyyah fest.
»Das sagst du mir dauernd.« Barbara legte die Zigarette auf den Rand eines Aschenbechers, in dem bereits acht Stummel lagen. »Ich muss mir unbedingt was anderes anziehen, Hadiyyah, wenn du nichts dagegen hast. Ich vergehe vor Hitze.«
Hadiyyah verstand den Wink offensichtlich nicht. Sie nickte nur und sagte: »Ja, das kann ich mir vorstellen. Dein Gesicht ist schon ganz rot.« Dann machte sie es sich auf der Bettcouch etwas bequemer.
»Na ja, wir sind ja unter uns Pfarrerstöchtern«, murmelte Barbara seufzend. Sie ging zum Schrank und blieb davor stehen. Als sie sich das Kleid über den Kopf zog, kam ihr bandagierter Brustkorb zum Vorschein.
»Hast du einen Unfall gehabt?«, fragte Hadiyyah.
»So was Ähnliches, ja.«
»Hast du dir was gebrochen? Hast du darum so viele Pflaster?«
»Meine Nase und drei Rippen.«
»Das muss doch schrecklich weh getan haben. Tut es immer noch weh? Soll ich dir beim Anziehen helfen?«
»Danke, ich schaff’ das schon.« Barbara schleuderte ihre Schuhe in den Schrank und zog die Strumpfhose von den Beinen. Zusammengeknüllt unter einem schwarzen Plastikregenmantel lag eine purpurrote Pumphose mit einem Bund zum Schnüren. Genau das Richtige, sagte sie sich. Sie stieg hinein und zog ein zerknittertes pinkfarbenes T-Shirt dazu an. In dieser Aufmachung wandte sie sich wieder dem kleinen Mädchen zu, das neugierig in einem Taschenbuch blätterte, das es auf dem Tisch neben dem Bett entdeckt hatte. Am vergangenen Abend war Barbara bei ihrer Lektüre bis zu der Stelle gekommen, wo der begierige Wilde, der dem Buch den Titel gab, vom Anblick des strammen, runden und günstigerweise entblößten Gesäßes der Heldin, die vorsichtig ihr Bad im Fluss nehmen wollte, an den Rand des Wahnsinns getrieben worden war. Barbara meinte, Khalidah Hadiyyah müsse nicht unbedingt erfahren, was danach geschehen war. Sie nahm ihr das Buch aus der Hand.
»Was ist ein steifes Geschlecht?«, erkundigte sich Hadiyyah mit gerunzelten Brauen.
»Frag deinen Dad«, antwortete Barbara. »Oder nein, besser nicht.« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Hadiyyahs ernster Vater eine solche Frage mit dem gleichen Aplomb aus dem Weg räumen konnte wie sie. »Das ist eine vornehme und große alte Familie«, erklärte Barbara.
Hadiyyah nickte nachdenklich. »Aber da stand, sie berührte sein –«
»Wie sieht’s jetzt mit dem Eis aus?«, unterbrach Barbara munter. »Kann ich die Einladung sofort annehmen? Ich hätte Lust auf Erdbeer. Und du?«
»Ach, deswegen bin ich ja hergekommen.« Hadiyyah glitt vom Bett und verschränkte die Arme feierlich hinter dem Rücken. »Ich muss die Einladung nämlich zurücknehmen, weißt du«, erklärte sie. »Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, fügte sie altklug hinzu.
»Oh.« Barbara war erstaunt darüber, dass ihr Stimmungsbarometer bei dieser Eröffnung merklich sank. Sie verstand ihre Enttäuschung nicht. Mit einem kleinen Mädchen ein Eis essen zu gehen war doch nun wirklich kein gesellschaftliches Großereignis, auf das man sich wochenlang freuen konnte.
»Dad und ich müssen nämlich verreisen. Es ist nur für ein paar Tage. Allerdings müssen wir jetzt gleich losfahren. Aber ich hatte dich ja angerufen und dich eingeladen, und da wollte ich dir auf jeden Fall Bescheid sagen, dass wir das verschieben müssen. Ich meine, für den Fall, dass du zurückrufen wolltest. Darum bin ich hergekommen.«
»Ach so. Natürlich.« Barbara nahm die brennende Zigarette, die immer noch im Aschenbecher lag, und setzte sich auf einen der beiden Stühle am Tisch. Sie hatte noch nicht einmal die Post von gestern aufgemacht, sondern sie nur auf die Daily Mail vom Morgen gelegt, und sah jetzt, dass oben auf dem dünnen Stapel ein Umschlag mit dem Aufdruck Auf der Suche nach Liebe? lag. Suchen wir die nicht alle, dachte sie mit grimmigem Spott und schob sich die Zigarette zwischen die Lippen.
»Du bist mir doch nicht böse?«, erkundigte sich Hadiyyah besorgt. »Dad hat gesagt, es wär’ gut, wenn ich dir selbst Bescheid sage. Ich wollte doch nicht, dass du glaubst, erst lade ich dich ein, und dann bin ich gar nicht da, wenn du kommst. Das wär’ doch gemein, nicht?«
Eine kleine, steile Falte erschien zwischen Hadiyyahs dichten dunklen Augenbrauen. Barbara beobachtete, wie die Last der Sorge sich auf den schmalen Kinderschultern niederließ, und dachte darüber nach, wie das Leben doch jeden einzelnen Menschen formt. Ein achtjähriges kleines Mädchen, das das Haar noch in Zöpfen trug, sollte es nicht nötig haben, sich so um andere zu sorgen.
»Keine Spur bin ich dir böse«, sagte Barbara. »Aber ich werde dich an die Einladung erinnern. Wenn’s um Erdbeereis geht, lass’ ich mich nicht abwimmeln.«
Hadiyyahs Gesicht hellte sich wieder auf. Sie hüpfte. »Wir gehen, sobald Dad und ich wieder da sind, Barbara. Wir fahren ja nur ein paar Tage weg. Nur ein paar Tage. Dad und ich. Zusammen. Hab’ ich das schon gesagt?«
»Ja.«
»Wie ich dich angerufen habe, hab’ ich das noch nicht gewusst, weißt du. Aber dann hat Dad einen Anruf bekommen, und er sagte: ›Was? Wie? Wann ist das denn passiert?‹, und danach hat er zu mir gesagt, dass wir ans Meer fahren. Stell dir nur mal vor, Barbara!« Sie drückte beide Hände auf ihre magere kleine Brust. »Ich war noch nie am Meer. Du?«
Am Meer?, dachte Barbara. Aber ja doch. Muffelnde Strandhäuser und Sonnencreme. Feuchte Badeanzüge, die zwischen den Beinen kratzen. Sie hatte jeden Sommer ihrer Kindheit am Meer verbracht und sich jedes Mal bemüht, braun zu werden, hatte sich jedoch immer nur einen Sonnenbrand und Sommersprossen geholt.
»In letzter Zeit nicht«, sagte Barbara.
Hadiyyah machte einen kleinen Luftsprung. »Komm doch mit! Ich meine, mit mir und Dad. Ach ja, komm doch. Das wäre so lustig.«
»Ich glaube nicht –«
»Doch, doch, es wäre bestimmt lustig. Wir könnten Sandburgen bauen und im Meer schwimmen. Und Fangen spielen. Wir könnten den ganzen Strand entlanglaufen. Wenn wir einen Drachen mitnehmen, könnten wir sogar –«
»Hadiyyah. Hast du gesagt, was du sagen wolltest?«
Hadiyyah verstummte augenblicklich und drehte sich nach der Stimme an der Tür um. Dort stand ihr Vater mit ernster Miene.
»Du hast gesagt, es würde nur eine Minute dauern«, bemerkte er. »Und wenn man einen kurzen Besuch bei einer Freundin zu lang ausdehnt, wird er zur Störung.«
»Sie stört mich nicht«, versicherte Barbara.
Taymullah Azhar schien sie erst jetzt wirklich wahrzunehmen. Seine schmalen Schultern strafften sich mit einem kleinen Ruck, das einzige Zeichen seiner Überraschung. »Barbara, was ist Ihnen denn passiert?«, fragte er. »Hatten Sie einen Unfall?«
»Barbara hat sich die Nase gebrochen«, erklärte Hadiyyah und trat an die Seite ihres Vaters. Er legte den Arm um sie und umfasste ihre Schulter. »Und außerdem drei Rippen. Sie hat Pflaster von oben bis unten, Dad. Ich hab’ gesagt, sie soll doch mit uns ans Meer kommen. Das täte ihr bestimmt gut. Findest du nicht auch?«
Azhars Gesicht verschloss sich augenblicklich bei diesem Vorschlag, und Barbara sagte rasch: »Es ist sehr lieb von dir, mich einzuladen, Hadiyyah, aber die Zeiten, wo ich ans Meer gefahren bin, sind endgültig vorbei.« Sie wandte sich dem Vater des kleinen Mädchens zu. »Das kam wohl ganz überraschend?«
»Er hat einen Anruf bekommen«, begann Hadiyyah.
Azhar schnitt ihr das Wort ab. »Hadiyyah, hast du dich von deiner Freundin verabschiedet?«
»Ich hab’ ihr erklärt, dass ich keine Ahnung hatte, dass wir wegfahren, bis du gekommen bist und gesagt hast –«
Barbara sah, wie sich Azhars Hand an der Schulter seiner Tochter verkrampfte. »Du hast deinen Koffer offen auf dem Bett liegengelassen«, sagte er. »Lauf und bring ihn in den Wagen.«
Hadiyyah senkte gehorsam den Kopf. »Tschüs, Barbara«, sagte sie und sprang zur Tür hinaus. Ihr Vater nickte Barbara zu und machte Anstalten, ihr zu folgen.
»Azhar«, sagte Barbara. Als er stehen blieb und sich zu ihr umdrehte, fragte sie: »Rauchen Sie noch eine, bevor Sie fahren?« Sie bot ihm die Packung an, und ihre Blicke trafen sich. »Zur Stärkung.«
Sie sah, wie er überlegte. Sie hätte nicht versucht, ihn zurückzuhalten, hätte er nicht so darum bemüht gewirkt, seine Tochter daran zu hindern, über die bevorstehende Reise zu plaudern. Das jedoch hatte Barbaras Neugier geweckt.
Als er nicht antwortete, fand sie, ein kleiner Anstoß könne nicht schaden. »Haben Sie was aus Kanada gehört?«, fragte sie herausfordernd und hasste sich sofort dafür, diese Frage gestellt zu haben. Seit Barbara das Kind und seinen Vater kannte, acht Wochen insgesamt, hielt Hadiyyahs Mutter sich zum Urlaub in Ontario auf. Und täglich durchsuchte Hadiyyah die Post nach Karten oder Briefen – oder einem Geburtstagsgeschenk –, die niemals kamen. »Entschuldigen Sie«, sagte Barbara. »Das war gemein von mir.«