P.C. Cast
Göttin des Frühlings
Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer
Fischer e-books
P.C. Cast ist zusammen mit ihrer Tochter Kristin Autorin der House-of-Night-Bestseller. Die beiden sind das erfolgreichste Mutter-Tochter-Autorengespann weltweit. Die Serie »House of Night« hat Millionen von Fans in über 40 Ländern. Die Serie »Mythica« schrieb P.C. Cast ohne ihre Tochter. Sie wendet sich an alle, die dem »House of Night« bereits entwachsen sind. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen bisher die Bände »Göttin der Liebe« (Band 19387), »Göttin des Meeres« (Band 19383), »Göttin des Lichts« (Band 19385). P.C. und Kristin Cast leben beide in Tulsa, Oklahoma.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Coverabbildung: Bürosüd°, München
Deutsche Erstausgabe
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Goddess of Spring« bei The Berkley Publishing Group,
Penguin Group (USA) Inc., New York 2004
© 2004 by P.C. Cast
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402054-9
Für die anderen drei Teile des Kleeblatts:
Kim, Robin und Teresa.
Ich halte unsere segensreiche Freundschaft in Ehren.
okay, ich gestehe – Autoren haben ihre Lieblingsbücher. Ich weiß, ich weiß, Bücher sind wie Kinder, und wir geben nur ungern zu, dass wir eines lieber mögen, aber es stimmt. Die Göttinnen-Bücher sind meine Lieblingskinder.
Wie House of Night, meine Bestseller-Serie für junge Erwachsene, so feiert auch die Göttinnen-Reihe die Unabhängigkeit, Intelligenz und Schönheit der modernen Frauen. Meine Helden haben alle eines gemeinsam: Sie wissen starke Frauen zu schätzen und sind klug genug, sowohl Köpfchen als auch Schönheit zu würdigen. Ist die Mischung von Respekt und Anerkennung nicht ein exzellentes Aphrodisiakum?
Sich in die Mythologie zu versenken und alte Legenden neu aufzuarbeiten macht Spaß. Göttin der Liebe ist alles in allem eine erotische Komödie. Vielleicht ist dieser Band der lustigste und sinnlichste der Serie – schließlich ist ja Venus selbst die Hauptperson! In Göttin des Meeres erzähle ich eine moderne Fassung der Geschichte von Undine, der Meerjungfrau – sie tauscht den Platz mit einer Offizierin der U. S. Air Force, die selbst dringend einen Tapetenwechsel braucht. Dann begeben wir uns – in Göttin des Lichts – mit den göttlichen Zwillingen Apollo und Artemis auf eine nette Reise nach Las Vegas. In Göttin des Frühlings wende ich mich dem Mythos von Persephone und Hades zu und schicke eine moderne Frau in die Hölle. Wer hätte gedacht, dass die Hölle und ihr grüblerischer Gott auch so wunderbare, verführerische Aspekte haben könnten?
Göttin der Rosen ist eine Version meines Lieblingsmärchens Die Schöne und das Biest. Darin habe ich eine magische Welt erschaffen, aus der die – guten und bösen – Träume stammen und ein atemberaubendes Tier ins Leben gerufen.
Aber auch der Trojanische Krieg interessiert mich schon seit langem, und ich finde, dass Achilles ein Held ist, der endlich auch einmal ein Happyend verdient. Darum geht es in Göttin des Sieges – ich bin gespannt, wie es euch gefällt.
Ich hoffe, ihr habt Spaß in meinen Welten, und ich wünsche euch, dass ihr euren eigenen Funken Göttinnen-Magie entdeckt!
P. C. Cast
»Selbst inmitten der lieblichen Dryaden sticht deine Tochter hervor, meine Herrin«, sagte Eirene und schaute wie eine stolze Mutter lächelnd auf Persephone, so dass sie nicht merkte, wie sich meine Lippen bei ihren Worten zu einem schmalen Strich verzogen.
»Sie ist nun mal die Göttin des Frühlings. Selbst die Nymphen verblassen in ihrer Schönheit neben Persephones Ausstrahlung«, erwiderte ich.
Eirene richtete ihren scharfen Blick auf mich. Meine treue Dienerin kannte mich zu gut, um meinen Tonfall zu überhören.
»Macht das Kind dir Sorgen, Demeter?«, fragte sie sanft.
»Wie sollte es wohl nicht?«, fuhr ich sie an.
Nur Eirenes Schweigen verriet mir, dass ich sie verletzt hatte. Ich nahm mein goldenes Zepter in die andere Hand und beugte mich vor, um ihr entschuldigend über den Arm zu streichen. Wie gewöhnlich stand sie neben meinem Thron, allzeit bereit, mir zu dienen. Natürlich war Eirene viel mehr für mich als nur eine Dienerin. Sie war meine Vertraute und eine meiner treuesten Ratgeberinnen. Sie verdiente es, mit Respekt behandelt zu werden. Mein harscher Ton ihr gegenüber war ein Zeichen dafür, wie zerstreut ich war.
Bei meiner Berührung wurden ihre eindringlichen grauen Augen weich vor Verständnis.
»Möchtest du Wein trinken, große Göttin?«, fragte sie.
»Hol Wein für uns beide!« Ich lächelte nicht. Das war nicht meine Art. Doch Eirene kannte mich und meine Launen so gut, dass oft nur ein Blick oder ein Wort zwischen uns genügte.
Während sie den Wein besorgte, beobachtete ich meine Tochter. Die kleine nysäische Wiese war der perfekte Ort für den ungewöhnlich warmen Nachmittag. Persephone und ihre Begleiterinnen, die Waldnymphen, vervollkommneten die Schönheit um uns herum. Obwohl es ein freundlicher Tag war, begannen die Bäume am Rande der Wiese bereits, ihr Sommerkleid abzulegen. Unter einer alten Eiche drehte sich Persephone anmutig im Kreis und versuchte spielerisch, die leuchtend bunten Blätter aufzufangen. Die Nymphen halfen der jungen Göttin, indem sie auf den Ästen tanzten und dafür sorgten, dass es ununterbrochen Orange-, Rot- und Rosttöne regnete.
Wie immer hatte Eirene recht. Die Dryaden des Waldes waren zarte, ätherische Wesen. Jede von ihnen war ein lebendes Kunstwerk. Es war verständlich, dass die Sterblichen sie unwiderstehlich fanden. Doch im Vergleich zu Persephone wirkte ihre Schönheit flach. In Gegenwart der jungen Göttin wurden die Dryaden zu gewöhnlichen Mägden.
Das Haar meiner Tochter leuchtete in einem satten Mahagonibraun, das mich immer wieder in Staunen versetzte, weil ich selbst so blond bin. Außerdem war ihr Haar glatt, im Gegensatz zu meinen weizenfarbenen Locken. Es wallte schimmernd bis zu ihrer sanft geschwungenen Taille.
Offenbar spürte Persephone meinen Blick, denn sie winkte mir fröhlich zu, bevor sie das nächste bunte Blatt erhaschte. Ihr Gesicht hatte eine perfekte Herzform. Die großen veilchenblauen Augen wurden von gewölbten Brauen und dichten schwarzen Wimpern umrahmt. Ihre üppigen Lippen wirkten einladend. Persephones Körper war geschmeidig. Ich spürte, dass sich meine Mundwinkel nach unten zogen.
»Der Wein, meine Herrin.« Eirene reichte mir einen goldenen Becher gekühlten Weins von der Farbe des Sonnenlichts.
Nachdenklich nippte ich daran, dann sprach ich meine Gedanken laut aus, wohl wissend, dass sie bei Eirene gut aufgehoben waren. »Sicherlich ist Persephone lieblich und anmutig. Wie sollte sie das nicht sein? Sie hat ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan, als Blumen zu pflücken und mit Nymphen herumzutollen.«
»Und ihre berühmten Gelage zu veranstalten.«
Ich schnaubte sehr ungöttlich durch die Nase. »Mir ist durchaus bewusst, dass sie kulinarische Meisterwerke kreiert und sich zu unmöglichen Zeiten mit« – ich winkte abschätzig in Richtung der Dryaden – »Halbgöttern herumtreibt.«
»Sie ist sehr beliebt«, erinnerte mich Eirene geduldig.
»Sie ist oberflächlich«, entgegnete ich.
Plötzlich zuckte ich zusammen und schloss die Augen, denn eine einzelne Stimme erhob sich über das fortwährende Gemurmel in meinem Kopf und dröhnte mit der Beharrlichkeit einer Fanfare: Verehrte ernste Göttin der Felder, Früchte und Pflanzen, du starke und gerechte Herrscherin, bitte hilf dem Geist unserer Mutter, der ohne den Beistand einer Göttin ruhelos durch das Schattenreich irrt …
»Demeter, geht es dir nicht gut?« Eirenes besorgte Frage drang durch das flehentliche Gebet, so dass die irdische Stimme verwehte wie Staub im Wind.
Ich öffnete die Augen und sah sie an. »Es nimmt kein Ende.« Noch während ich sprach, bohrten sich weitere Stimmen in meinen Kopf: O Demeter, wir flehen dich an, bitte gewähre unserer ins Jenseits gegangenen Schwester den Beistand einer Göttin … O gütige Göttin, die Leben schenkt durch die Ernte, ich bitte um deine Gunst für mein geliebtes Weib, das durch die Pforte der Unterwelt getreten ist und dort auf ewig ohne den Beistand einer Göttin verweilt …
Mit großer Willensanstrengung verdrängte ich das Stimmengewirr aus meinem Kopf.
»Es muss etwas wegen Hades unternommen werden«, sagte ich fest entschlossen. »Ich kann die Sterblichen verstehen. Ihre Bitten sind berechtigt. Sie leiden Not, weil es in der Unterwelt keine Göttin gibt.« Ich erhob mich und lief verdrießlich auf und ab. »Doch was soll ich da machen? Die Göttin der irdischen Reichtümer kann doch nicht ihr Land verlassen und ins Totenreich hinabsteigen.«
»Aber die Toten brauchen wirklich die Fürsprache einer Göttin«, stimmte Eirene überzeugt zu.
»Sie brauchen mehr als nur die Fürsprache einer Göttin. Sie brauchen Licht und Fürsorge und …« Meine Worte verstummten, während Persephones helles Lachen über die Wiese schallte. »Sie brauchen den Hauch des Frühlings.«
Eirenes Augen wurden groß. »Du kannst doch nicht deine Tochter meinen!«
»Warum nicht? Dieses Kind wird getragen von Licht und Leben. Persephone ist genau das, was jenem Schattenreich fehlt.«
»Aber sie ist noch so jung.«
Ich spürte, dass mein Blick weich wurde, während ich zusah, wie Persephone über ein Bächlein sprang und mit der Hand über die letzten vertrockneten Wildblumen strich. Auf der Stelle fuhr Leben hinein, die Stängel richteten sich auf, die Blumen erblühten in leuchtenden Farben. Trotz ihrer Unzulänglichkeiten war Persephone so edel, so erfüllt von Lebensfreude. Es bestand kein Zweifel, dass ich sie von ganzem Herzen liebte. Oft fragte ich mich, ob meine überschwängliche Zuneigung sie davon abgehalten hatte, zu einer Göttin mit eigenem Reich zu werden. Ich drückte die Schultern durch. Es war höchste Zeit, dass meine Tochter flügge wurde.
»Sie ist eine Göttin.«
»Es wird ihr nicht gefallen.«
Ich presste die Kiefer aufeinander. »Persephone wird meinem Befehl gehorchen.«
Eirene öffnete die Lippen, als wollte sie etwas entgegnen, schien es sich aber anders zu überlegen und trank stattdessen einen großen Schluck Wein.
Ich seufzte. »Du weißt, dass du offen mit mir sprechen kannst.«
»Ich habe gerade gedacht, dass es nicht darum geht, ob Persephone deinem Befehl gehorchen wird, sondern …« Eirene zögerte.
»Na, komm! Sag, was dir durch den Kopf geht.«
Meiner Dienerin war erkennbar unwohl zumute. »Demeter, du weißt, dass ich Persephone liebe, als wäre sie mein eigenes Kind.«
Ich nickte ungeduldig. »Ja, ja, natürlich.«
»Sie ist entzückend und voller Leben, aber sie hat nicht viel Tiefe. Ich glaube nicht, dass sie reif genug ist, um Göttin der Unterwelt zu sein.«
Eine hitzige Erwiderung lag mir auf der Zunge, doch Weisheit versiegelte meine Lippen. Eirene hatte recht. Persephone war eine wunderbare junge Göttin, aber ihr Leben war zu einfach gewesen, sie war zu sehr verhätschelt und verwöhnt worden. Und das war meine Schuld. Meine leichtsinnige Tochter war der Beweis, dass selbst eine Göttin Fehler in der Erziehung machen konnte.
»Ich gebe dir recht, alte Freundin. Ehe Persephone zur Göttin der Unterwelt werden kann, muss sie reifen.«
»Vielleicht sollte sie mehr Zeit mit Athene verbringen«, schlug Eirene vor.
»Nein. Da würde sie nur lernen, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen.«
»Mit Diana?«, versuchte es Eirene.
Ich machte ein finsteres Gesicht. »Eher nicht. Eines Tages würde ich gerne mit Enkeln gesegnet sein.« Ich kniff die Augen zusammen. »Nein, meine Tochter muss erwachsen werden und verstehen, dass das Leben nicht immer voller Luxus und olympischer Freuden ist. Sie muss lernen, Verantwortung zu übernehmen, doch solange sie auf ihre Macht als Göttin vertrauen kann, solange sie als meine Tochter erkannt wird, wird sie diese Erfahrung niemals machen …«
Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte.
»Meine Herrin?«
»Es gibt nur einen Ort, wo Persephone wahrhaftig lernen kann, eine Göttin zu sein. Es ist ein Ort, wo sie zuerst lernen muss, eine Frau zu sein.«
Eirene stutzte, doch als sie zu verstehen begann, schlich sich Entsetzen in ihre Züge.
»Du willst sie doch nicht dahin schicken?«
»Oh, doch. Genau dahin werde ich sie schicken.«
»Aber dort wird man sie nicht kennen; nicht mal dich kennen sie dort.« Die Falten auf Eirenes Stirn wurden noch tiefer.
Meine Mundwinkel zogen sich hoch zu einem seltenen Lächeln. »Genau, meine Freundin. Ganz genau.«
Oklahoma, Gegenwart
»Nein, Sie verstehen mich falsch, ich kapiere es durchaus, ich verstehe nur nicht, wie Sie es so weit kommen lassen konnten«, sprach Lina langsam und deutlich durch zusammengebissene Zähne.
»Ms Santoro, ich habe Ihnen schon erklärt, dass wir bis zur gestrigen Benachrichtigung durch das Finanzamt keinerlei Kenntnis davon hatten, dass ein Fehler gemacht worden war.«
»Haben Sie die Zahlen denn nicht kontrolliert? Ich habe Sie schließlich damit beauftragt, die Steuererklärung meines Betriebs zu machen, weil ich einen Fachmann brauche.« Lina warf einen kurzen Blick auf die unsägliche Zahl, die in nüchterner schwarzer Schrift am unteren Rand des Behördenschreibens stand. »Ich habe ja Verständnis für Fehler und Versäumnisse, aber ich kann nicht verstehen, wie etwas von dieser Größenordnung Ihrer Kenntnis entgehen konnte.«
Frank Rayburn räusperte sich, bevor er antwortete. Lina war schon immer der Meinung gewesen, er habe eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Möchtegern-Gangster. Sein schwarzer Nadelstreifenanzug und das aalglatte Verhalten trugen nur wenig dazu bei, ihren Eindruck zu mildern.
»Ihre Bäckerei ist letztes Jahr sehr gut gelaufen, Ms Santoro. Genau genommen haben sich die Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Bei einem so großen Zuwachs unterläuft schnell mal ein Fehler. Ich denke, produktiver wäre es jetzt, wenn wir uns darauf konzentrieren, wie Sie Ihre Schulden dem Staat zurückzahlen können, anstatt einen Sündenbock zu suchen.« Bevor Lina etwas einwenden konnte, fuhr er fort. »Ich habe mehrere Vorschläge aufgelistet.« Er zog ein weiteres Blatt mit Säulendiagrammen und Zahlen hervor und reichte es ihr. »Vorschlag Nummer eins lautet, das Geld zu leihen. Die Zinsen sind momentan sehr niedrig.«
Lina spürte, wie sie die Zähne aufeinanderbiss. Sie hasste die Vorstellung, sich Geld zu leihen, und dann auch noch so viel. Bis zur vollständigen Rückzahlung würde sie sich an den Pranger gestellt und angreifbar fühlen. Falls sie es überhaupt zurückzahlen konnte. Sicher, ihr Geschäft hatte sich gut gemacht, aber eine Bäckerei war immer verzichtbar, und die Zeiten waren hart.
»Was haben Sie noch für Vorschläge?«
»Nun, Sie könnten zum Beispiel neue Gerichte anbieten, schickere Sachen. Sich vielleicht noch eine Kleinigkeit für die Mittagspause ausdenken, was anderes als diese …« Er zögerte und malte mit seinem dicken Zeigefinger kleine Kreise in die Luft, »… diese kleinen Pizzateile.«
»Pizzette Fiorentine«, fuhr Lina ihn an. »Das sind Mini-Pizzen, die ursprünglich aus Florenz stammen. Sie sind nicht als Mahlzeit gedacht, sondern als Nachmittagsimbiss, den man zu Käse und Wein reicht.«
Frank Rayburn zuckte mit den Schultern. »Egal. Ich meine ja nur, dass Sie dadurch nicht besonders viele Mittagsgäste hereinbekommen.«
»Ach, Sie meinen, ein Brathähnchenbuffet wäre besser? Vielleicht sollte ich ja sogar einen Grill aufstellen und Burger und Pommes verkaufen!«
»Das ist keine schlechte Idee«, sagte er. Die Ironie in Linas Stimme war ihm völlig entgangen. »Vorschlag Nummer drei wäre, die Belegschaft zu verkleinern.«
Lina trommelte mit den Fingern auf den Konferenztisch. »Weiter!«, sagte sie täuschend freundlich.
»Nummer vier wäre, eine Insolvenz in Betracht zu ziehen.« Rayburn hob die Hand, um Lina zum Schweigen zu bringen, obwohl sie noch keinen Laut von sich gegeben hatte. »Ich weiß, das klingt erst mal schlimm, doch nach der teuren Renovierung, die gerade durchgeführt wurde, haben Sie eigentlich keine Reserven mehr, auf die Sie zurückgreifen könnten.«
»Ich habe diese teure Renovierung nur in Auftrag gegeben, weil Sie mir versichert haben, dass Pani della Dea sie sich leisten kann.« Linas Hände zuckten, sie wollten sich unbedingt um Rayburns Hals legen.
»Wie dem auch sei, Sie haben keine Rücklagen«, sagte er herablassend. »Die Insolvenz ist nur eine Möglichkeit, die ich Ihnen übrigens gar nicht empfehlen würde. Ehrlich gesagt, ich würde zu Vorschlag Nummer fünf raten – verkaufen Sie den Laden an die große Kette, die Ihnen vor zwei Monaten eine Übernahme angeboten hat. Die will lediglich Ihren Namen und den Standort. Ist doch schnell abgetreten. Dann haben Sie genug Geld, um Ihre Schulden zu begleichen und mit einem neuen Namen und einem neuen Laden noch mal von vorn anzufangen.«
»Aber es hat zwanzig Jahre gedauert, bis der Name ›Pani della Dea‹ etabliert war, und ich will nicht umziehen.« Wenn Frank Rayburn auch nur die geringste Menschenkenntnis besessen hätte, wäre ihm das Gewitter aufgefallen, das sich in Linas Augen zusammenbraute.
Doch Frank Rayburn besaß keine Menschenkenntnis.
»Also, ich zähle nur Ihre Alternativen auf.« Er lehnte sich auf seinem Plüschstuhl zurück, verschränkte die Arme und warf Lina einen Blick zu, der ihn wohl wie einen strengen Vater wirken lassen sollte. »Sie sind die Chefin. Jetzt müssen Sie entscheiden.«
»Nein, da irren Sie sich.« Linas Stimme war noch immer ruhig und sanft, hatte jetzt jedoch einen stählernen Unterton. »Ich bin nämlich nicht mehr Ihre Chefin. Sie sind entlassen. Sie haben sich in meiner Firma als ebenso unfähig erwiesen wie in der Wahl Ihrer Kleidung. Meine Anwältin wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich werde dafür sorgen, dass sie Ihnen mehrere Vorschläge unterbreitet. Einer davon wird Ihnen vielleicht die Möglichkeit bieten, nicht vor Gericht zitiert zu werden. Einen schönen Tag noch, Mr Rayburn, oder wie meine geliebte, verehrte Großmutter sagen würde: Tu sei un pezzo di merda. Fongule e tuo capra!« Lina erhob sich, strich ihren Rock glatt und ließ ihre lederne Aktentasche zuschnappen. »Ach, wie unhöflich von mir! Sie sprechen ja kein Italienisch. Dann darf ich die weisen Worte meiner Großmutter für Sie übersetzen: Sie sind ein Stück Scheiße. Ficken Sie sich selbst und Ihre Ziege! Arrividerci!«
Lina schritt durch das professionell eingerichtete Büro davon und warf der stark geschminkten Dame am Empfang ein boshaftes Grinsen zu.
Bauchgefühl, sagte Lina sich, trat aufs Gaspedal ihres BMW und flog fast über die Überführung des Highway 51. Sie war auf dem Weg vom Geschäftsviertel im Zentrum von Tulsa zur angesagten Cherry Street, wo sich ihre Bäckerei befand. Beim nächsten Mal würde sie auf ihr Bauchgefühl hören, und wenn es ihr sagte, sie solle schreiend davonlaufen, wäre sie nicht mehr so dumm, den nächstbesten Trottel zu engagieren. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?
Lina seufzte. Sie wusste, was sie sich dabei gedacht hatte. Sie hatte Hilfe gebraucht. Die Verwaltung des Geldes, das ihr Geschäft abwarf, hatte nie zu ihren starken Seiten gehört. Früher hatte das ihr Vater übernommen, doch vor drei Jahren war er mit Linas Mutter zur Großmutter nach Florida in eine Seniorenanlage gezogen. Linas Vater war völlig überzeugt gewesen, dass sie allein mit ihren Finanzen zurechtkommen würde, deshalb hatte sie im vergangenen Jahr nicht vor ihm zugeben wollen, letztlich eingeknickt zu sein und einen Buchhalter angestellt zu haben. Anstatt ihren Vater also um Rat zu fragen, wen sie nehmen solle, hatte sie auf eigene Faust gehandelt und sich vor lauter Stress übereilt für Frank Rayburn entschieden, diesen charakterlosen Schmierfinken.
»Das hast du verdient, weil du dich von deinem Stolz hast leiten lassen«, murmelte Lina vor sich hin und bog nach Osten in die 15th Street ab – die Straße, die nach wenigen Häuserblocks in ein Viertel namens Cherry Street mündete und Lina zu ihrer umwerfenden, wunderschönen und jetzt bankrotten Bäckerei bringen würde.
Ihr Magen zog sich zusammen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, die Schulden zu begleichen und trotzdem ihre beiden Langzeitangestellten sowie ihren Namen und den Standort zu behalten. Lina umklammerte das Lenkrad und wickelte sich mit der anderen Hand eine kurze Haarsträhne um den Finger. Sie würde ihren Namen nicht verkaufen. Das konnte sie nicht.
Pani della Dea oder »Die Brote der Göttin« – der Name klang wie Zauberei. Er war untrennbar mit den herrlichsten Erinnerungen an Linas Kindheit verbunden. Pandolci della dea hießen die Leckereien, die sie mit ihrer geliebten Großmutter an langen Winternachmittagen gebacken hatte, während sie alte Schwarzweiß-Filme schauten und duftenden, mit Honig gesüßten Tee tranken.
»Carolina Francesca, du backst wie eine kleine Göttin!«
Bis heute konnte Lina die Stimme ihrer Großmutter hören, wenn sie ihre Enkelin ermutigte, mit den traditionellen Rezepten aus der alten Heimat zu experimentieren, ihrem geliebten Italien.
»Sì, bambina, halte dich zuerst an das Rezept, wie es geschrieben steht, dann fange an, ein wenig hinzuzufügen – hier ein bisschen, da ein bisschen. So machst du dir die Rezepte zu eigen.«
Lina hatte sie sich tatsächlich angeeignet, und zwar mit einer Hingabe und einem Eifer, von dem selbst ihre Großmutter beeindruckt war, einer außergewöhnlich guten Köchin. Linas Oma hatte vor ihren Freundinnen so sehr von den Backkünsten der Enkelin geschwärmt, dass Lina nach und nach gebeten wurde, den Bekannten anlässlich eines Geburtstags oder Jubiläums etwas Besonderes zu backen. Als Lina ihren Abschluss an der Highschool machte, besaß sie bereits einen festen Kundenstamm, hauptsächlich pensionierte Witwen und Witwer, die den Geschmack selbstgebackenen Brotes zu schätzen wussten.
Als die Großmutter ihr angeboten hatte, einen Aufenthalt in Florenz zu finanzieren, um sich dort an der berühmten internationalen Kochschule Apicius ausbilden zu lassen, begann Lina, an ihrem Traum zu feilen – der Traum, eine eigene Bäckerei zu besitzen. Als sie klein war, hatte die Oma ihr immer eingeflüstert, Italien und das Backen lägen ihr im Blut. Nachdem sie Apicius erfolgreich abgeschlossen hatte, folgte Lina dem Geflüster ihrer Kindheit zurück nach Tulsa. In sich trug sie ein kleines Stück von Italien, von italienischer Finesse und Romantik und von der erstaunlichen Vielfalt seiner Brote und Backwaren. Auch bei Linas Traum unterstützte die Großmutter sie. Gemeinsam entdeckten sie ein heruntergekommenes altes Haus mitten im Zentrum des Künstlerviertels von Tulsa, auch bekannt als Cherry Street. Sie hatten es gekauft und im Laufe der Zeit ein funkelndes kleines Florenz daraus gemacht.
Lina schüttelte den Kopf und stellte das Radio aus. Sie konnte Pani della Dea nicht untergehen lassen. Das würde nicht nur ihr das Herz brechen; auch ihre Großmutter träfe es bis ins Mark. Und was wäre mit ihren Kunden? Die Bäckerei war Treffpunkt einer angenehm vielschichtigen Stammkundschaft, die hauptsächlich aus örtlichen Exzentrikern, Berühmtheiten und Pensionären bestand. Es war mehr als nur eine Bäckerei. Es war ein einzigartiger gesellschaftlicher Dreh- und Angelpunkt.
Und was würden Anton und Dolores tun? Die beiden arbeiteten nun seit über zehn Jahren für Lina. Es klang sicherlich wie ein Klischee, dass sie mehr als Angestellte waren, aber sie waren Linas Familie, besonders da sie selbst keine Kinder hatte.
Wieder seufzte Lina, dann atmete sie tief durch. Trotz der Schrecken des Tages zogen sich ihre Mundwinkel nach oben. Der Geruch von brennendem Kiefernholz wehte durch die heruntergelassenen Fenster des BMW. Lina fuhr gerade an »Grumpy’s Garden« vorbei, dem kleinen Geschäft am Eingang zum Cherry-Street-Viertel, und wie üblich hatte »Grumpy«, eine sehr nette Dame namens Shaun, mehrere ihrer großen, runden Aztekenöfen in Betrieb, so dass sich der charakteristische Geruch von Kiefernholz über die Gegend legte.
Lina spürte, wie sich der Krampf in ihrem Bauch auflöste. Sie schaltete runter und fuhr langsamer mit Rücksicht auf die Fußgänger, die hier die Straße überquerten, von Antiquitätengeschäften zu New-Age-Buchhandlungen, von schicken Inneneinrichtern zu ausgefallenen Restaurants liefen. Und im Herzen des Viertels, zwischen einem angesagten kleinen Wellnesstempel und einem traditionellen Schmuckladen, lag schließlich Pani della Dea.
Wie üblich gab es nur wenige Parkplätze an der Straße. Lina bog in die Gasse, um den Wagen in einer der reservierten Buchten hinter dem Gebäude abzustellen. Kaum war sie ausgestiegen, spürte sie ein nur allzu vertrautes Gefühl: Etwas versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es war immer dasselbe Gefühl, auch wenn es in Stärke und Intensität variieren konnte. Heute war es so, als hätte jemand in der Ferne Linas Namen ausgesprochen, und der Wind hätte das Echo an ihr Bewusstsein herangetragen, ohne dass ihre Ohren etwas wahrgenommen hätten. Sie schloss die Augen. Für so was hatte sie eigentlich keine Zeit … nicht heute.
Beinahe umgehend bedauerte Lina diesen Gedanken. Nein, sie würde sich durch finanzielle Probleme nicht in ihrem Wesen verändern lassen – und diese besondere Fähigkeit war ein Teil von ihr. Sie war eine Gabe.
Lina schaute sich um, spähte in die dunklen Ecken zwischen den Häusern.
»Wo bist du, meine Kleine?«, lockte sie. Dann konzentrierte sie sich, und ein verschwommenes Bild erschien vor ihrem inneren Auge. Lina lächelte. »Komm, Miezi, Miezi!«, rief sie. »Ich weiß, dass du da bist. Du brauchst keine Angst zu haben!«
Mit einem jämmerlichem Miau wagte sich eine magere rotbraune Katze zögernd hinter dem Müllcontainer hervor.
»Ja, guck mal da! So ein zartes Blümchen bist du! Komm her, mein Schätzchen. Jetzt ist alles gut.«
Wie unter Hypnose spazierte die kleine rote Katze in Linas ausgestreckte Arme. Der war es egal, ob das verfilzte, schmutzige Fell des Tieres ihr sehr teures, sehr sauberes Seidenkostüm beschmutzte. Sie knuddelte die räudige Katze. Mit vor Bewunderung großen Augen schaute die Kleine zu ihrer Retterin empor und belohnte Lina mit einem Schnurren aus tiefster Kehle.
Lina konnte sich nicht erinnern, dass sie irgendwann einmal keine besondere Verbindung zu Tieren gehabt hätte. Schon wenn sie als kleines Kind einfach nur ruhig im Garten saß, wurde sie nach kurzer Zeit von Kaninchen, Eichhörnchen und sogar von nervösen Feldmäuschen besucht. Hunde und Katzen liebten sie. Pferde folgten ihr wie Schoßhündchen. Selbst Kühe, die nach Linas Kenntnis ein großes, schlichtes Gehirn hatten, muhten ihr liebevoll zu, wenn sie ihnen beim Grasen näherkam. Schon immer hatten Tiere sie gemocht, doch erst als Jugendliche war Lina klar geworden, wie außergewöhnlich ihre Begabung war.
Sie konnte Tiere verstehen. Nun ja, nicht im wörtlichen Sinn. Sie war kein Dr. Doolittle oder so was; sie konnte sich nicht mit Tieren unterhalten. Sie sah sich selbst gerne als eine Art Pferdeflüsterer, nur dass ihre Fähigkeit nicht auf Pferde beschränkt war. Dazu gab es noch eine Besonderheit, die die meisten Menschen nicht besaßen. Manchmal wurde ihr eingeflüstert, dass eine Katze ihre Hilfe brauchte. Dieses Flüstern fand nur in ihrem Kopf statt – es war wie eine Leitung, in die sie sich einstöpseln konnte.
Lina wusste, dass das sonderbar war.
An der Highschool hatte sie eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Tierärztin zu werden. Im Sommer zwischen ihrem zweiten und dritten Highschooljahr hatte sie sogar ein Praktikum in einer Tierklinik gemacht. Dort hatte sie gelernt, dass ihre besondere Beziehung zu Tieren definitiv nicht Blut und Parasiten einschloss, die im tierärztlichen Alltag jedoch regelmäßig auftraten. Schon bei dem Gedanken daran musste sich Lina vor Ekel schütteln und kratzen.
»In einer Bäckerei hat man nie und nimmer mit Blut oder Parasiten zu tun«, sagte sie zu der kleinen roten Katze, bog aus der Gasse nach links und holte tief Luft.
»Magnifico«, murmelte sie mit der Stimme ihrer Großmutter.
Das verlockende Aroma frisch gebackenen Brotes besänftigte ihre Sinne. Lina schnupperte andächtig, erkannte den Duft von Oliven, Rosmarin und Käse, verbunden mit den süßen Gerüchen von Butter, Zimt, Nüssen, Rosinen und Likören, mit denen Gubana, die Spezialität des Hauses, zubereitet wurde. Dabei handelte es sich um einen süßen Hefekuchen aus dem Friaul, einer kleinen Region östlich von Venedig.
Lina blieb vor dem großen Schaufenster ihrer Bäckerei stehen. Wohlwollend nickte sie angesichts der stimmig auf Stufen angeordneten Kristallteller, die eine Auswahl italienischer Backwaren präsentierten. Sie war von Stolz erfüllt. Wie immer war alles perfekt.
Lina schaute in den Laden hinein und sah, dass ungefähr die Hälfte der ein Dutzend mosaikverzierten Cafétische besetzt war. Nicht schlecht, dachte sie, für einen späten Freitagnachmittag. Sie verlagerte das Gewicht der Katze auf ihrem Arm und sah auf die Uhr: Es war fast vier, um fünf wurde geschlossen; normalerweise war die letzte Stunde ziemlich ruhig und entspannt.
Vielleicht war das eine Antwort. Sie könnte länger öffnen. Aber würde sie dann nicht mehr Personal einstellen müssen? Anton und Dolores arbeiteten bereits Vollzeit, und Lina selbst war auch fast immer da. Würden die zusätzlichen Kosten für einen weiteren Angestellten nicht jeden Gewinn auffressen, den sie mit längeren Öffnungszeiten erwirtschaftete?
Sie spürte, dass sie heftige Kopfschmerzen bekam.
Lina zwang sich ruhig zu bleiben und blinzelte an ihrem Spiegelbild in dem auf Hochglanz polierten Schaufenster vorbei. Sie sah die neuen Fresken an den Wänden – Teil der teuren Renovierung, die gerade abgeschlossen worden war. Doch sie war ihren Preis wert gewesen.
Lina hatte eine bekannte ortsansässige Künstlerin beauftragt, die Wände von Pani della Dea mit Szenen aus dem alten Florenz zu bemalen. Diese Gemälde schufen zusammen mit den traditionellen Lampen und Cafétischen eine Atmosphäre, die den Stammgästen das Gefühl vermittelte, sie hätten die Straßen Tulsas verlassen und befänden sich im magischen, sinnlichen Italien.
»Gehen wir mal rein und schauen, was wir mit dir machen«, sagte Lina zu der Katze, die immer noch zufrieden in ihren Armen schnurrte. »Zuerst kümmere ich mich um dich, dann überlege ich, was ich wegen des Geldes unternehme«, fügte sie hinzu und bedauerte, dass man nicht so leicht an Geld kam wie an Katzen.
Das Windspiel über der Tür klingelte, als Lina die Bäckerei betrat. Kurz blieb sie stehen und genoss die vertraute Szene. Anton hantierte an der Cappuccinomaschine, summte dazu den Refrain des Liedes »All That Jazz« aus dem Musical Chicago. Dolores erklärte einem Pärchen mittleren Alters, das Lina nicht kannte, den Unterschied zwischen Panettone und Colomba. Die beiden waren die Einzigen im Geschäft, die Lina fremd waren.
Mehrere Kunden grüßten, und Anton schaute auf. Seine vollen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, als er Lina entdeckte, doch beim Anblick der Katze in ihren Armen machte er eine resignierte Miene.
»Sieh mal einer an, da kommt unsere furchtlose Streiterin – die Katzenmutti.« Er winkte in Linas Richtung.
»Fang bloß nicht so an, Anton, sonst nehme ich dir die DVD von Chicago wieder weg, die ich dir zum Geburtstag geschenkt habe«, sagte Lina mit gespieltem Ernst.
Sein vorwurfsvoller Blick verwandelte sich in ungläubiges Staunen. Er verschränkte die Hände über seinem Herzen, als hätte Lina ihn gerade erstochen. »Du tust mir weh!«
Kichernd gab Dolores die Bestellung des Pärchens in die Kasse ein. »Er trommelt schon den ganzen Tag zu ›All That Jazz‹ herum. Das ist schlimmer als seine Moulin-Rouge-Phase.«
»Musicals sind bei mir keine Phase, sie sind meine Leidenschaft«, bemerkte Anton.
»Dann müsstest du mich ja bestens verstehen. Tieren zu helfen ist meine Leidenschaft«, entgegnete Lina.
Anton verdrehte die Augen und seufzte demonstrativ. »Ich finde es mehr als beunruhigend, dass ich die Nummer der Straßenkatzenrettung auswendig weiß.«
»Ruf da einfach an«, befahl Lina, aber Anton wählte bereits. Sie zwinkerte ihm dankbar zu.
»Hallo, Lina! Ich hatte so gehofft, Sie heute zu sehen!«
Lächelnd ging Lina zu dem Tisch, der dem Fenster am nächsten stand. Anstatt jedoch die dunkelhaarige Frau zu begrüßen, die sie zu sich herübergewinkt hatte, widmete sie sich zuerst dem Zwergschnauzer, der seinem Frauchen auf einem scharlachroten Kissen brav zu Füßen saß.
»Dash, du siehst heute aber hübsch aus!« Die Katze wand sich in ihren Armen, doch Lina beruhigte sie mit geistesabwesendem Streicheln.
»Das will ich auch hoffen. Er kommt gerade vom Hundefrisör.«
Lina grinste den gut erzogenen kleinen Hund an. »Ein Tag im Schönheitssalon, was? Schätzchen, den könnten wir alle gebrauchen.« Sie wandte sich an Dahs Frauchen: »Wie ist das Olivenbrot heute, Tess?«
»Hervorragend. Einfach hervorragend, wie immer.« Tess hatte einen unverkennbaren Oklahoma-Akzent, träge und melodisch. »Und dieser Pinot Grigio San Angelo, den Anton empfohlen hat, passt wirklich perfekt dazu.«
»Das freut mich zu hören. Wir freuen uns über zufriedene Kunden.«
»Weshalb ich mit Ihnen sprechen wollte. Der Verband der Dichter und Schriftsteller hat den jährlichen Preis von Oklahoma vergeben. Nächste Woche wird es mehrere Veranstaltungen zu Ehren der Preisträgerin geben. Ich hätte gerne eine Auswahl Ihrer hervorragenden Brote zum Abendessen.«
Linas Gedanken schlugen Purzelbaum. Tess Miller war die Vorsitzende des Verbandes der Dichter und Schriftsteller von Oklahoma, außerdem die Moderatorin einer sehr beliebten regionalen Talkshow – und eine der treuesten Kundinnen von Pani della Dea. Seit Jahren kam sie mit Dash auf ihrer täglichen Gassirunde in der Bäckerei vorbei; Lina hatte sogar ein Hundekissen für den Zwergschnauzer anfertigen lassen, das in einem speziellen Fach unter der Kasse aufbewahrt wurde. Mit Sicherheit gab es keine bessere Kandidatin, bei der sie ihre geschäftliche Expansion beginnen konnte. Auch wenn Lina noch nicht genau wusste, wie diese Expansion aussehen sollte.
»Ach, Tess …« Sie räusperte sich. »Natürlich liefere ich Ihnen gerne so viel Brot, wie Sie brauchen, aber ich würde Ihnen auch gerne unsere jüngst erweiterte Speisekarte vorstellen.«
»Na, das wäre ja einfach wunderbar! Alles, was Sie sich ausdenken, kann nur lecker sein. Ich könnte mich am Montag bei Ihnen melden. Sie machen mir ein paar Menüvorschläge, und ich teile Ihnen die genauen Daten mit, ja?«
Automatisch nickte Lina und wandte sich dann lächelnd vom Tisch ab. Das Lächeln verließ ihr Gesicht auch dann nicht, als sie sich zur Theke begab und im Vorbeigehen jeden der Gäste kurz ansprach. Erst als sie den Tresen erreicht hatte und in die schockierten Gesichter von Anton und Dolores blickte, schwand ihre Selbstgewissheit.
»Hast du gerade von einer gecaterten Abendveranstaltung gesprochen?«, flüsterte Anton.
»Und von einem Menü?«, quietschte Dolores.
Lina wies mit dem Kopf in Richtung Hinterzimmer, dann trat sie durch die cremefarbene Schwingtür, die Küche, Vorratsraum und ihr Büro vom Rest des Geschäfts abtrennte. Ihre beiden Angestellten huschten ihr nach. Lina stopfte die überraschte rote Katze in die Tragebox, die sie aus dem Mantelschrank holte.
»Ich wisst doch, dass ich heute einen Termin mit meinem Buchhalter hatte, oder? Er hatte keine guten Nachrichten. Ich habe Schulden. Viele Schulden. Beim Finanzamt.«
Anton erbleichte und sog geräuschvoll die Luft ein.
»Oh, Lina! Ist es wirklich so schlimm?« Dolores klang wie eine Zwölfjährige.
»Ja.« Besorgt sah sie die beiden an. »Es ist wirklich schlimm. Wir werden einiges verändern müssen.« Sie registrierte die entsetzten Blicke der beiden. Sofort füllten sich Antons Augen mit Tränen. Dolores’ bereits blasses Gesicht verlor auch noch die letzte Farbe.
»Nein, nein, nein! Das nicht! So schlimm ist es auch wieder nicht – ihr behaltet eure Arbeit. Wir alle behalten unsere Arbeit.«
»O Gott! Ich muss mich hinsetzen.« Anton wedelte sich Luft zu.
»In mein Büro. Schnell. Und niemand kippt mir um!« Lina hob die Katzenbox hoch und machte auf dem Weg ins Büro glucksende Geräusche, um die Katze zu beruhigen. Über die Schulter sagte sie: »Ich will auch keinen weinen sehen. Ihr wisst doch …«
Anton beendete den Satz: »Beim Backen ist kein Platz für Tränen.«
Dolores nickte zustimmend.
Lina setzte die Katzenbox neben ihrem Schreibtisch ab und nahm dahinter Platz. Anton und Dolores ließen sich auf die beiden plüschigen Antiksessel davor sinken. Niemand sagte ein Wort.
Zögernd machte Anton eine vage Geste in Richtung der Katze. »Patricia von der Katzenrettung meinte, sie würde heute etwas später Feierabend machen. Wenn du willst, kann ich das kleine rote Ding auf dem Heimweg bei ihr abgeben. Das ist wirklich kein großer Umweg«, schloss er mit einem schwachen Lächeln.
»Danke, Anton! Auch wenn du die Katze ein ›kleines rotes Ding‹ genannt hast, werde ich dein freundliches Angebot annehmen.«
»Also, eigentlich wollte ich ›kleines rotes Biest‹ sagen, aber ich habe mich zusammengerissen«, erwiderte er. Das war schon eher der alte Anton. Er wirkte nicht mehr so, als würde er jeden Moment hyperventilieren.
»Was haben wir jetzt vor?«, fragte Dolores.
Wie man es von ihr kannte, wartete sie auf das Resümee. Dolores war zwar erst achtundzwanzig, arbeitete aber schon seit zehn Jahren für Lina. Sie hatte Dolores eingestellt, weil sie nicht nur ein Händchen fürs Kuchenbacken hatte und gut mit älteren Menschen zurechtkam, sondern weil Lina viel von Dolores’ nüchterner Sachlichkeit hielt. Damit war das Mädchen das perfekte Gegengewicht zu Anton, der – Lina warf ihrem Mitarbeiter einen kurzen Seitenblick zu, der mit übereinandergeschlagenen Beinen dasaß, seine Augen immer noch verräterisch feucht glänzend – deutlich dramatischer veranlagt war. Die drei passten gut zusammen, und Lina wollte, dass es auch so blieb.
»Wir erweitern unsere Speisekarte«, sagte sie bestimmt.
Dolores nickte nachdenklich. »Gut, das können wir machen.«
Anton kaute an seinem Daumen. »Meinst du damit, dass wir auch Sandwiches aufnehmen oder so?«
»Das weiß ich noch nicht genau«, antwortete Lina langsam. »Hatte noch keine Zeit, mir das näher zu überlegen. Ich weiß nur, dass wir mehr Geld verdienen müssen. Und das geht nur, wenn wir mehr Kunden bekommen. Leuchtet doch ein, dass wir eine größere Gruppe ansprechen, wenn wir unsere Speisekarte erweitern.«
Anton und Dolores nickten einträchtig.
»Das Abendessen von Tess Miller ist ein guter Anfang«, bemerkte Dolores.
»Abendessen«, klagte Anton. »Das klingt so, keine Ahnung, so banal.«
»So banal wie ›pleite‹?«, fragte Lina.
»Nein!«, entfuhr es ihm.
»Eben.«
»Was wollen wir denn nun anbieten?«, fragte Dolores.
Lina fuhr sich mit den Fingern durch ihr akkurat geschnittenes Haar. Sie hatte keinen blassen Schimmer.
»Wir werden eine Auswahl aus unserer erweiterten Speisekarte servieren. So bekommen wir Übung und machen Werbung.«
»Und die erweiterte Speisekarte sieht wie genau aus?«, wollte Dolores wissen.
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, gestand Lina.
»Unfassbar, dass ich heute nicht eine winzig kleine Beruhigungstablette mit zur Arbeit genommen habe.« Anton kaute an seinem Daumennagel.
»Hör auf mit dem Nägelkauen!«, befahl ihm Dolores. »Wir finden schon eine Lösung.« Sie sah Lina an. »Oder?«
Linas Herz zog sich zusammen. Die beiden sahen aus wie zwei kleine Vögelchen, die erwartungsvoll zu ihr hochschauten.
»Na klar«, sagte sie mit zuversichtlicher Stimme. »Ich muss ja nur …« Sie zögerte. Ihre Sprösslinge blinzelten sie mit großen Augen an und warteten auf das Ende des Satzes. »Ich muss ja nur … hm … ein Brainstorming machen«, schloss sie.
»Ein Brainstorming? Was man sonst immer macht, bevor man einen Aufsatz schreibt?« Seit Ewigkeiten besuchte Anton sporadisch die Abendschule des Tulsa Community College; diese Arbeitsweise war ihm vertraut.
»Na, klar!«, rief Dolores fröhlich. »Lina hat mindestens zehntausend Kochbücher zu Hause. Sie muss nur ein bisschen drin rumblättern und ein paar Rezepte für tolle Menüs raussuchen.«
»Dann sagt sie uns Bescheid, und wir machen uns an die neuen Kreationen!«, stieß Anton hervor. »Wie köstlich! Ich kann es kaum erwarten!« Er griff nach Dolores’ Hand und drückte sie. »Tut mir total leid, dass ich zuerst so negativ war. Fast hätte ich unser Bäckermotto vergessen.«
Die beiden grinsten sich an, dann legten sie einträchtig die Hand aufs Herz, als würden sie den Fahneneid leisten, und sprachen feierlich wie aus einem Mund: »Beim Backen muss man aus jeder Situation das Beste machen.«
Lina hatte das Gefühl, in der Bäckerhölle gelandet zu sein, aber sie nickte aufmunternd und lächelte. Dolores hatte teilweise recht, Lina hatte zu Hause tatsächlich eine eindrucksvolle Sammlung von Kochbüchern – gefüllt mit großartigen Rezepten für Brote und Kuchen. Sie besaß allerdings nur sehr wenige Bücher mit Rezepten für komplette Menüs. Ehrlich gesagt kochte sie nur selten mehrere Gänge. Hier eine kleine Portion Pasta, da ein bescheidener Salat und ein nettes Glas Chianti – das war Linas Vorstellung von einer kompletten Mahlzeit. Backen war ihre Spezialität, ihre Leidenschaft. Kochen war, nun ja, langweilig.
Sie war nicht in ihrem Element, musste sie sich eingestehen. Die ganze Sache war ihr alles andere als vertraut. Ein wenig fühlte sich Lina wie ein Spatz, der sich abmühte, die Kuckuckskinder in seinem Nest zu füttern. Sie lächelte und nickte ihren Küken zu.
»Also, ich glaube, wir haben uns lange genug von der Front ferngehalten. Da wir jetzt einen Plan haben, könntet ihr beiden doch die nächste Stunde übernehmen und den Laden für mich zumachen, oder? Ich gehe nach Hause und fange schon mal mit dem Brainstorming an.«
»Tess hat gesagt, sie würde dich am Montag wegen des Menüs fürs Abendessen anrufen, nicht?«, fragte Dolores.
»Das hat sie gesagt, ja.« Lina bemühte sich zu vermeiden, dass Panik in ihre Stimme kroch.
»Oh, ist das aufregend! Ich wette, an dem Dinner nehmen bestimmt alle möglichen Berühmtheiten teil.« Anton wackelte mit seinen gezupften Augenbrauen. »Von der Medienberichterstattung ganz zu schweigen.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Forsch verließ Lina ihr Büro.
Als sie ihren Kunden einen kurzen Abschiedsgruß zurief und hastig durch die Tür verschwand, hörte sie, wie Anton zu Dolores sagte, sie würden aufregende neue Outfits zu der aufregenden neuen Speisekarte brauchen.
Linas Großmutter hatte oft gesagt, Fluchen sei gewöhnlich und wenig damenhaft; nur Bauern und Männer ohne Ehre im Leib würden fluchen. Andererseits war sie der Meinung, dass ein gut artikulierter, gut gewählter italienischer Fluch ein Zeichen großer Kreativität war. Vor ihrer Bäckerei gab Lina eine Tirade in Italienisch von sich, die damit begann, das Finanzamt könne zur Hölle fahren, und damit endete, dass die Beamten nichts anderes seien als verflixte, ätzende rompicoglioni – Nervensägen. Nur um auf Nummer sicher zu gehen, flocht sie noch mehrere »Scheiße« und »Verdammt« ein, natürlich auf Italienisch. Ihre Großmutter wäre stolz auf sie gewesen.
Als die Leute sich nach ihr umdrehten, hielt Lina inne und bemühte sich, langsam und tief durchzuatmen. Sie war eine intelligente, erfolgreiche Geschäftsfrau. Hey, sie konnte sogar eloquent auf Italienisch und Englisch fluchen, auch wenn sie versuchte, es in ihrer Muttersprache so selten wie möglich zu tun. Grandma hatte recht gehabt, es klang einfach nicht sehr gut erzogen. Wie kompliziert sollte es schon sein, sich ein paar neue Gerichte auszudenken? Auch wenn es ums Kochen ging und nicht um Backwaren.
Lina begann, eine Haarsträhne zu drehen, ertappte sich jedoch dabei und zwang ihre Hand, nicht wieder durchs Haar zu fahren. Das Problem war nicht, dass sie sich keine neuen Rezepte einfallen lassen konnte. Das Problem war, so erkannte sie jetzt, dass sie sich über Pani della Dea den soliden Ruf erarbeitet hatte, einzigartige, leckere Brote zu backen. Sie konnte nicht einfach irgendein Pesto über Nudeln kippen und einen Salat an den Rand legen. Wenn es nicht gut würde, konnte sie es vergessen. Der Name Pani della Dea stand für höchste Güte, und Lina war entschlossen, dass er niemals weniger bedeuten würde.
Sie sollte ihre Großmutter anrufen; die hätte bestimmt jede Menge Ideen, die sie nur zu gerne mit ihrer geliebten bambina teilen würde.
»Aber wie Anton sagen würde: Ich bin doch kein Baby mehr«, murmelte Lina vor sich hin. »Gütiger Gott, ich bin dreiunddreißig. Es wird langsam Zeit, dass ich aufhöre, immer zu Oma zu laufen.«
Linas Selbstgespräch wurde vom sorglosen Gelächter zweier Frauen unterbrochen, die gerade aus einem Antiquariat auf der anderen Straßenseite kamen. Finster blickte Lina hinüber und wünschte sich, sie hätte sich um nichts anderes zu kümmern, als mit einer Freundin nach einem neuen Buch zu suchen.
Dann wurde ihr Gesichtsausdruck nachdenklich. The Book Place war ein wunderbares Antiquariat mit einer großen Auswahl an Belletristik und Sachbüchern. Viele zufriedene Stunden hatte Lina in dem Labyrinth aus Regalen verbracht. Bestimmt konnte sie in den Stapeln dort ein großartiges altes Kochbuch finden, ein Buch, das schon jahrelang vergriffen war, und darin stände dann ein Rezept, das das magische Italien mit seinen Zutaten perfekt repräsentierte.
Ja, dachte Lina, als sie die Straße überquerte und den Autos auswich, The Book Place war der richtige Ort, um mit ihrem Brainstorming zu beginnen.
Der Stapel Bücher war einschüchternd. Zehn alte, interessant aussehende italienische Kochbücher. Beim Stöbern hatten sie nicht so dick gewirkt – zehn waren ihr auch nicht zu viel erschienen. Aber jetzt, wo sie ordentlich aufgetürmt zu einem Stapel auf der Glasplatte des Couchtischs lagen, schienen sie sich vervielfacht zu haben.
Hätte sie nicht einfach ein paar Bücher aussortieren können, bevor sie die Buchhandlung verließ?
»Beim Backen muss man aus jeder Situation das Beste machen«, rief sie dem dicken schwarz-weißen Langhaarkater in Erinnerung, der auf einem schwarz-weiß bezogenen Bänkchen thronte. Lina musste über die farbliche Übereinstimmung schmunzeln. Sie kaufte gerne Einrichtungsgegenstände, die farblich zu ihren Haustieren passten, auch wenn der Kater das nicht zu würdigen wusste. Er warf einen kurzen, gelangweilten Blick zu Lina hinüber und peitschte als Reaktion auf ihre Verkündung des Bäckermottos mit dem Schwanz.
»Flecki-Floh von und zu Santoro«, sprach sie ihn mit seinem vollständigen Namen an. »Du bist ein hübsches Tier, aber du hast keine Ahnung vom Backen.«
Zu ihren Füßen schnarchte die alte englische Bulldogge, als würde sie Lina zustimmen.
»Benimm dich, Edith Anne«, schalt sie den Hund halbherzig. »Du weißt deutlich mehr übers Fressen als übers Backen.«
Edith seufzte zufrieden, als Lina sie hinter dem rechten Ohr kraulte. Mit ihrer freien Hand griff sie zu dem ersten Buch. Es war eine dicke Schwarte mit dem Titel Entdeckungen im historischen Italien. Lina klappte es mittendrin auf und begann, einen langen, komplizierten Absatz über die korrekte Zubereitung von Kalbfleisch zu lesen. Erschrocken schlug sie das Buch wieder zu. Kalbfleisch war in Italien sehr beliebt, doch für Lina bedeutete es, kleine Kuhbabys zu verspeisen. Entzückende, glupschäugige Kälbchen.
»Vielleicht kann man ohne die entsprechende Vorbereitung nicht aus einer sehr schwierigen Situation das Beste machen«, sagte Lina zu der schnarchenden Bulldogge. »Weder beim Backen noch anderswo.« Vorsichtig legte sie das Buch zurück auf den Tisch, als sei es eine Bombe, die ohne weiteres explodieren konnte, wenn sie nicht mit Samthandschuhen angefasst wurde.
»Ich glaube, für diese Vorbereitung hier braucht man ein schönes Glas italienischen Rotwein«, sagte sie zu Flecki-Floh von und zu. Mit zusammengekniffenen Augen sah der Kater sie an und gähnte.
»Ihr beide seid mal wieder überhaupt keine Hilfe.«
Kopfschüttelnd erhob sich Lina vom Tisch und steuerte auf ihren Weinschrank zu. Ihrer Meinung nach war ein Rosso Sangiovese Monte Antico die perfekte Vorbereitung für jede schwierige Situation – beim Backen wie anderswo.
»Vielleicht sollte ich literweise leckeren italienischen Wein zu meinem neuen Menü ausschenken, dann sind meine Kunden im Nu so betrunken, dass sie nicht mehr darauf achten, was sie essen«, sagte sie über die Schulter zu ihren Tieren, während sie sich ein Glas rubinroten Wein einschenkte. Doch sie brauchte keine Antwort von ihnen, um zu wissen, dass sie gerade Blödsinn von sich gegeben hatte. Wenn das so wäre, hätte sie eine Kneipe und keine Bäckerei, und Anton bekäme einen Schlaganfall. Lina drückte den Rücken durch, griff nach einer Tüte mit schokoladenüberzogenen Erdnüssen, der perfekte Snack zum Sangiovese, und marschierte zurück ins Wohnzimmer. Sie machte es sich auf der Couch bequem, schlug ihren Notizblock auf und nahm das nächste Buch vom Stapel: Kochen mit Italien.
Der Hund und die Katze hoben den Kopf und sahen Lina fragend an.
»Mögen die Spiele beginnen«, erklärte sie düster.