Wolfgang Schmidbauer
Der Mensch als Bombe
Psychologie des neuen Terrorismus
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ISBN: 978-3-95530-300-6
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Da Eis nur ein wenig leichter ist als Wasser, sehen wir neun Zehntel eines Eisberges nicht. Die Spitze des Eisbergs ist ein Bild für die erdrückende Übermacht des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren. Sie ist ein Hinweis auf die trügerischen Gewissheiten unserer Wahrnehmung, auf die Illusion, wir hätten mit unserem Blick auf das treibende weiße Gebilde das Wesentliche bereits erfasst und könnten nun darangehen, ihm auszuweichen. Die Spitze des Eisbergs ist auch ein Bild für unsere Psyche: Nur ein Bruchteil dessen, was sich in ihr abspielt, wird uns bewusst. Wir wissen wenig, ahnen so manches, müssen uns öfter, als es uns lieb ist, mit dem Wissen um unser Nichtwissen zufrieden geben, das uns seit Sokrates mehr befriedigt als die fromme Illusion.
Die Ereignisse am 11. September 2001 sind für mich nach und nach ebenfalls zur Spitze einer viel umfassenderen und auch bedrohlicheren Erscheinung geworden. Ich nenne sie den explosiven Narzissmus. Unter Bedingungen, die sicher nicht leicht zu erforschen sind, die im Dunkeln liegen und deren Formen mit ihrer Umgebung verschmelzen, kann der Mensch explodieren. Er verliert jede Struktur, wird unberechenbar, vernichtet andere oder sich selbst. Erfindungen, die in den letzten Jahrhunderten unser Leben mehr und mehr bestimmen, treten mit unserer Psyche in eine verhängnisvolle Wechselwirkung. Wir haben Explosionsmotoren konstruiert, die Wissens-, Kosten- oder Bevölkerungsexplosion zur Metapher unserer Krise gemacht.
So geht es darum, wachsamer zu werden für die seelischen Veränderungen, welche die Dinge anrichten, die uns umgeben. Sie sind nicht nur außen, sondern formen auch unsere innere, seelische Struktur. Die dem Menschen durch die Technik geschenkten Möglichkeiten, durch kleine Bewegungen immense Wirkungen zu erzielen, haben wir in ihrem Gefährdungspotenzial noch kaum erkannt. Es beginnt mit der faszinierenden Macht über die Bilder, welche jedem Kind der Konsumgesellschaft durch die TV-Fernsteuerung geschenkt wird, führt zur Macht über Leben und Tod, die jeder hat, der «am Drücker» einer Waffe ist, steigert sich noch in der Möglichkeit, selbst zur Bombe zu werden. Meine Hypothese ist, dass diese technischen Qualitäten in die Strukturen unseres Selbstgefühls eingebettet werden und auf diesem Weg Gefahren entstehen, welche sich die Lobredner der Machtsteigerung durch unsere explosiven und regressionsfördernden Technologien nicht träumen lassen. Wer von der Konsumgesellschaft so sehr sozialisiert ist, dass sie auch seine geistigen Strukturen prägt, der wird jetzt schnell sagen: Aha, wieder ein Autor, der uns in die Steinzeit zurückzappen will!
Ernster gesagt: Die heute so beliebte Neigung, dem Kritiker entgegenzuhalten, er müsse entweder eine bessere Welt bieten oder den Mund halten, ist ein Kind jener Knopfdruck-Lösungen, in der wir sogleich ein neues Programm brauchen, wenn das alte nicht mehr befriedigt. Es ist leicht, einen Menschen – und damit eine Welt – durch einen explosiven Akt zu vernichten, jedoch unendlich schwer, einen Menschen zu erziehen, ihn zu bilden, ihn – wenn er krank ist – zu heilen. Wenn mir also jemand vorwirft, ich hätte keine schnell wirksame Lösung, dann sage ich aufatmend: Genau so soll es auch sein.
Der explosive Narzissmus bedroht unser Selbstgefühl. Die unmittelbaren Gefahren durch einen Amoklauf oder ein Selbstmordattentat sind geringer als die Gefahren, welche dadurch heraufbeschworen werden, dass wir ihn nicht verstehen, sondern blindlings bekämpfen. Damit werden Prozesse in Gang gesetzt, welche die Übel erzeugen, die sie heilen sollen. Beispielsweise wurde nach dem Amoklauf von Erfurt die Szene der Counter-Strike-Spieler ganz ähnlich dämonisiert wie nach dem Attentat vom 11. September die islamische Kultur. Ginge es um den rationalen Kampf gegen eine äußere Gefahr, müssten wir zunächst untersuchen, welchen Platz von Mordphantasien geprägte Schüler in der Kultur der Computerspieler haben und welchen Platz die Fanatiker des Terrors im Islam. Erst durch die Einsicht in die Abwehrqualität der politischen Reaktionen auf solche Ereignisse wird deutlich, dass wir uns weniger vor äußeren als vor inneren Gefahren schützen wollen. Der Kampf gegen die Disposition zur eigenen Entgleisung in unserem Inneren schreit nach Zeichen, die uns salvieren und andere verdächtigen. Daher entlastet es die Menschen, wenn Computerspiele dämonisiert werden oder eine große, komplexe Glaubensgemeinschaft in Verdacht gerät. Kampf und Flucht, die menschlichen Ur-Affekte, stehen den Primitivreaktionen zum Schutz des Selbstgefühls nahe. Wie ängstliche Spaziergänger, die einen Platz im Inneren der Gruppe suchen, wenn von außen ein bellender Hund herbeiläuft, entlasten wir uns, indem wir möglichst viele andere zwischen den Angreifer und uns selbst bringen. Wir sind keine Counter-Strike-Spieler, wir sind Christen, wir sind sicher vor solchen Entgleisungen, viele andere sind viel näher dran.
Eine vernünftige und forschende Haltung wird die Kulturen, aus denen die entgleisten Täter kommen oder zu kommen scheinen, nicht dämonisieren, sondern befragen. Sie wird versuchen, herauszufinden, ob diese nicht von sich aus wirkungsvolle Maßnahmen gegen solche Extreme in den eigenen Reihen kennen. Denn wenn sofort eine ganze Gruppe für die Tat eines Mitglieds dämonisiert wird, berauben wir uns einer zentralen Möglichkeit, solchen Taten vorzubeugen.
Die Gruppe wird sich als ganze entwertet, verachtet und nicht verstanden fühlen. Sie wird daher keinerlei Interesse mehr aufbringen, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, um eine Wiederholung zu verhindern. Auf diese Weise können die Täter in der sich defensiv schließenden Gruppe untertauchen, während die Entwertung der Kultur, aus der sie gekommen sind und deren Werte sie missbrauchen, sie scheinbar ins Recht setzt.
«Der Verkehr dröhnte. Aber während des ganzen hektisch scheinenden Tages hatten sich die Kräne auf den unvollendeten Gebäuden kein einziges Mal gerührt.
Technologie ist von Übel. Das hatte E. F. Schuhmacher in Rückkehr zum menschlichen Hass gesagt: Die Botschaft des Friedens zitierte ihn oft, geißelte den Westen mit seinen eigenen Worten. Aber in Teheran umgab uns die Technologie, und einiges daran war so islamisiert oder in den Dienst des Islam gestellt worden, dass seine westliche Herkunft bedeutungslos erschien.»1
Der hartnäckige «Druckfehler» des Übersetzers – Schuhmachers Buch «Small is beautiful» handelt von der Rückkehr zum menschlichen Maß – verdichtet einen Punkt der islamischen Revolution. Die Kritiker der kapitalistischen Konsumgesellschaft, ihrer Mammutkonzerne und ihres technischen Perfektionismus werden als Zeugen gegen die «Teufel des Westens» zitiert.
«Der Westen, oder die Weltzivilisation, die er anführt, wird emotional zurückgewiesen. Er unterminiert, er ist bedrohlich. Gleichzeitig wird er gebraucht, wegen seiner Maschinen, Waren, Medikamente ... Die ganze Zurückweisung des Westens ist gebunden an die Annahme, dass es dort draußen immer eine lebendige, schöpferische, seltsam neutrale Zivilisation geben wird, offen für alle, die sich an sie wenden ... Schmarotzertum ist eine der uneingestandenen Früchte des Fundamentalismus.»2
Wer sich mit kulturellen Entwicklungen beschäftigt, muss sich mit der traurigen Wahrheit auseinander setzen, dass die Menschen immer wieder das Gute, das sie kennen, gegen ein Ideal tauschen, dessen Übel sie oft nicht anders bekämpfen können als durch ein noch höheres Ideal.
«Der Staat verfiel. Aber der Glaube nicht. Das Scheitern führte nur wieder zum Glauben zurück. Der Staat war als Heimat für die Moslems gegründet worden. Wenn der Staat scheiterte, dann nicht, weil der Traum falsch war: Es konnte nur daran liegen, dass die Menschen vom Glauben abgefallen waren. Man begann, nach einem immer reineren Glauben zu rufen.»3
Kurz nach dem 11. September 2001 wurden in New York neue Witze erzählt:
«Kennen Sie den neuen Werbeslogan von American Airlines?»
«??»
«Wir fliegen Sie direkt zu Ihrem Arbeitsplatz.»
«Ein Amerikaner und ein Araber spielen Schach. Wer gewinnt?»
«??»
«Natürlich der Araber. Dem Amerikaner fehlen die Türme.»
Solche Witze erzählen ganz gewiss nicht die Islamisten; in der arabischen Welt wird niemand über sie lachen. Der Scherz über American Airlines ist ein gutes Beispiel für ein klassisches Mittel der Trauma-Abwehr: die Identifizierung mit dem Aggressor. Der Witz greift die bekannten, bis zum Überdruss gehörten Werbesprüche auf und richtet sie gegen die Urheber. Es waren nicht die todessüchtigen Mörder, welche den Jet und seine Passagiere entführten. Es war nicht die Naivität, die Sorglosigkeit der Airline, die das ermöglicht hat. Wir müssen unseren technischen Größenwahn nicht aufgeben. Wir deuten das Attentat in einen Versuch um, unseren Service noch zu steigern. Zufällig hat es beim ersten Mal noch nicht geklappt, aber wir arbeiten daran. Wir sind nicht Opfer eines zu allem entschlossenen Angreifers geworden, der die sorglose Gier unserer Konsumgesellschaft gnadenlos ausnützte. Unser energischer Wille, unsere unvergleichliche Tatkraft ist auch für dieses Ereignis verantwortlich.
Schon immer lag im Zynismus eine radikale Weisheit verborgen. Die Identifizierung mit dem Angreifer wirkt auch in den Tätern. Viele der bekannt gewordenen Biographien wie auch die Struktur der Taten drücken aus, dass die Täter in hohem Maß von ebenden technischen Errungenschaften des Westens fasziniert sind, die sie jetzt gegen ihn gerichtet haben. Die Aktion vom 11. September ist ein Verbrechen, aber wir können auch ein Verbrechen unter einem ästhetischen Aspekt betrachten, ohne es damit zu einem rein ästhetischen Ereignis zu machen – wir fügen seinen Dimensionen nur eine weitere hinzu, die uns helfen kann, es besser zu verstehen und künftig wirksamer zu bekämpfen. Unter diesem Aspekt lässt sich nicht leugnen, dass dieses Verbrechen ein hohes Maß an Eleganz und Kreativität enthält: Es ist «gut gemacht» in dem Sinn, dass mit wenigen Mitteln ein Höchstmaß an Wirkung erzielt wurde. Verglichen mit dem wirtschaftlichen Aufwand, mit dem die Amerikaner in Afghanistan und im Irak kämpften, wirkt die terroristische Aktion erst einmal so elegant wie der Kampf Davids gegen Goliath.
Aber dieser Schein trügt. Er vernachlässigt die enorme Leichtigkeit der Zerstörung, gemessen an der großen Mühe von Entwicklung und Aufbau. Die Zivilgesellschaft ist verwundbar, weil sie allen, welche genügend Geld haben, ihre Mittel zur Verfügung stellt – auch ihre Mittel, die Spenderin zu zerstören.
Die waghalsige Verwendung der modernen Technik gegen die Begründer und Produzenten dieser Technik greift eine Tradition der orientalischen Kampfkunst auf, in der es als Ausdruck der höchsten Geschicklichkeit eines Kämpfers gilt, die Stärke eines Gegners auszunützen, um diesen zu besiegen. Der Schlag, mit dem der Schwergewichtsboxer den schmächtigen Aikido-Meister erledigen will, wird von diesem in ein Bewegungsmuster verwandelt, welches schließlich dazu führt, dass der Boxer mit dem Kopf gegen den Türpfosten prallt. Die mögliche Hochschätzung als Husarenstreich, die im Hintergrund der offiziellen Empörung über die Attentate gedieh, verdeckt die massive Selbstbestrafung, welche die Täter an sich vollziehen. Weder sie selbst noch ihre Anhänger können das entkräften. Die so häufig wiederholten Beteuerungen ihres Märtyrertums können diesen Aspekt nur verleugnen, aber nicht widerlegen. Selbstmordtäter fallen ein für alle Male aus der Welt der militärischen Aktionen heraus und betreten einen ganz eigenen Bereich. Das erste Urteil nennt ihn Wahnsinn. Aber wir können in jedem Wahnsinn Eigenheiten entdecken, die sehr viel über die Qualitäten der Vernunft und der Anpassung verraten, welche diesen Wahnsinn geboren haben. Die Beziehung der Fundamentalisten zu der Realität, die sie angreifen, ist selbstquälerisch: Sie lehnen ab, was sie beneiden, sie bekämpfen, worauf sie hoffen, sie sehnen sich nach dem, das sie zerstören. Sie hassen Boeing, weil dort wirkliche Flugzeuge gebaut werden, die unendlich überzeugender sind als alles Reden über den wahren Fortschritt. Und sie hassen sich selbst, weil sie Boeing beneiden.
In dieser Verschmelzung von Neid und Wut wurzelt die absurde Tat. Das Flugzeug wird gekapert, um es in den Racheengel einer mittelalterlichen Welt zu verwandeln. Aber dieses Spitzenprodukt der modernen Technologie für einen solchen Akt zu benötigen zeigt das Elend und Parasitentum der Täter. Die Aktion ist Gottesdienst und Ketzerei in einem. Sie enthält folgerichtig für den Täter Erlösung und Vernichtung, Lohn und Strafe. In dieser Rache vernichten sich die Rächer. Sie bestrafen sich dafür, dass sie zu Schmarotzern an einer Technik geworden sind, die jenen Geisteshaltungen entspringt, die sie verachten. Was auf den ersten Blick schockierend neu ist, wurzelt doch in der Geschichte des Terrorismus, die immer auch eine Geschichte der Auseinandersetzung mit technischen Veränderungen ist.
Seit ich als Therapeut arbeite, haben mich die Hinter- und Abgründe jener menschlichen Eigenschaft beschäftigt, die wir «Idealismus» nennen. Eine der Folgen war die Beschäftigung mit dem Helfer-Syndrom, eine andere die mit der Destruktivität von Idealen, dem Alles-oder-nichts-Prinzip.
Im Gegensatz zu den «orthodoxen» Narzissmustheoretikern war ich immer daran interessiert, wie sich narzisstische Bedürfnisse Einzelner in Gruppen, Institutionen und Organisationen niederschlagen. In diesen Arbeiten entwickelte ich einige spezifische Vorstellungen über soziale Ausdrucksformen des Narzissmus: den pharisäischen, den kannibalischen, den parasitären Narzissmus.
Der pharisäische Narzissmus gewinnt Sicherheit und Selbst-Aufwertung aus der Abwertung anderer («Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner», Lukas 18, 11). Der kannibalische Narzissmus richtet diese Entwertungen mit einem hohen Risiko der Selbstzerstörung gegen jene Personen, von deren Anerkennung sich die oder der Betroffene abhängig fühlen, zum Beispiel gegen einen Elternteil, einen Liebespartner, einen Arbeitskollegen, Mitarbeiter oder Vorgesetzten («Mobbing»). Der parasitäre Narzissmus führt zu Erscheinungen wie Klatsch, Starkult, Denunziation. Eine gegenwärtig aktuelle Form sind die so genannten «Trittbrettfahrer», die behaupten, eine Bombe gelegt oder einen Brief vergiftet zu haben. In diesem Buch will ich eine weitere soziale Form der narzisstischen Störung untersuchen: den explosiven Narzissmus der «menschlichen Bombe».
Wer sich so lange wie der Autor mit der öffentlichen Rolle der Psychologie beschäftigt hat, wird sich auch der Risiken jenes Vorgangs bewusst, den wir «Psychologisieren» nennen. Dabei geht es nicht um Aufklärung mit Hilfe einer rationalen Untersuchung, sondern um Verschleierung von Interessen mit Hilfe psychologischer Phrasen.
Angesichts einer Arbeit über politisch so brisante Fragen wie die Selbstmordattentate ist ständige Wachsamkeit gegenüber einem derartigen Missbrauch der Psychologie angezeigt. Denn wenn es nachweisbar wäre, dass alle Selbstmordattentäter aus völlig irrationalen Motiven handeln, erübrigt sich jede Verhandlung, jedes Nachdenken über einen Prozess der politischen Versöhnung in Palästina. Wenn wir davon ausgingen, dass hier verrückte Fanatiker handeln, die an nichts anderes denken können als an den Mord an möglichst vielen Juden, wäre es unsinnig, über eine gerechte Verteilung von Macht, Land und Wasser in der umkämpften Heimat so vieler unterschiedlicher Gruppen nachzudenken.
Umgekehrt stützt die These, dass Selbstmordattentäter entschlossene, seelisch normale Personen sind, die Ideologie der arabischen Seite, welche allein in den Juden die Wurzel aller Konflikte sieht.
Wer psychologisiert, hat von Psychologie im Grunde nichts verstanden. Er missbraucht sein Wissen, um genau jene Rolle zu spielen, die es ihm, zu Ende gedacht, nehmen würde. Es ist die Rolle des Propheten, des Vereinfachers, der über Geschichte, Politik und Kultur nichts mehr wissen muss, weil er «die Seele kennt» – als ob es eine Seele gäbe, die er ohne Wissen um diese äußeren Strukturen erforschen kann.
Respekt gegen Respekt: Auch die politische Analyse greift zu kurz, wenn sie menschliches Verhalten bruchlos aus den Kräften abzuleiten sucht, welche das Handeln von Staaten bestimmen. Gerade in den Berichten über die Selbstmordattentäter in Palästina taucht immer wieder das Motiv der Eltern auf, die nicht verstehen, warum gerade ihr Kind zu einer solchen Aktion fähig war. Geschwister distanzieren sich fassungslos von der Tat eines Bruders, Eltern können nicht glauben, was sie doch wissen, und greifen – wie der Vater Mohammed Attas in Kairo – zu abstrusen Verschwörungstheorien, um sich nicht mit der Tatsache auseinander setzen zu müssen, dass ein nahe stehender Mensch sich in diese Richtung entwickelt hat, die für die meisten Betrachter eine unheimliche Qualität hat.
Wenn eine solche Explosion stattgefunden hat, heißt es oft, Amokläufe und Attentate seien nicht voraussehbar. Die Täter handelten aus Motiven, die dem gesunden Menschen völlig fremd sind. Solche Thesen werden sogar von Forschern vertreten, die beispielsweise behaupten, es gebe keine wissenschaftlich exakten Beweise für einen Zusammenhang zwischen Mediengewalt und Amoklauf, zwischen emotionaler Entwicklungsstörung und der Neigung zur grandiosen terroristischen Tat.
Solche Einwände erinnern mich an die pseudowissenschaftlichen Argumente, mit denen lange Zeit die Unschädlichkeit von Radioaktivität oder DDT in unserer Umwelt begründet wurde. Überall, wo es auch nur das kleinste Interesse gibt, einen Zusammenhang zu bagatellisieren und Warnungen in den Wind zu schlagen, sollte es sich jeder seriöse Forscher verbieten, Harmlosigkeitsbescheinigungen auszustellen.
Der explosive Narzissmus, dessen dramatischer Ausdruck gegenwärtig die menschlichen Bomben sind, speist sich, so paradox es klingt, aus dem Sicherheitsbedürfnis traumatisierter Menschen. Es gibt Kränkungen, die wir ertragen können, und andere, die unsere Psyche überfordern. Dann setzen Verarbeitungsmöglichkeiten ein, die mit dem «Leben aus der Substanz» verglichen werden können, das eine Notsituation auf prekäre Weise stabilisiert. Wenn wir hungern, baut der Organismus erst Fettreserven ab; das schadet ihm kaum, kann sogar den Körper entlasten. Wenn aber diese Reserven aufgebraucht sind, beginnt der Organismus sich selbst zu verzehren; auch innere Organe werden angetastet. Jetzt wird ein langfristiger Schaden in Kauf genommen, um die kurzfristige Überlebenszeit zu verlängern. Stabilisierende Mittel, unser narzisstisches Gleichgewicht zu erhalten, bieten die aktive Bewältigung der Realität, die tröstende Phantasie, die liebevolle Beziehung zu anderen. Aber unter größeren Belastungen reichen solche Mittel nicht aus. Es kommen andere hinzu, die uns nicht so positiv erscheinen, obschon wir doch merken, wie hilfreich sie waren, wenn auch sie versagen. Es sind die Beweise eigener Überlegenheit und Dominanz, der erkämpfte Sieg, die Erniedrigung der Feinde, die Verleugnung und Verdrängung eigener Schwäche. Wir geben dann nicht mehr, um im Austausch etwas zu erhalten, sondern wir rauben, beuten aus, gewinnen Überlegenheit durch Unterdrückung oder Entwertung von anderen. Wird durch eine einzelne oder öfter durch eine ganze Kette von Traumatisierungen die Möglichkeit zerstört, das seelische Gleichgewicht wieder zu finden und das Selbstgefühl zu stabilisieren, entsteht jenes Krankheitsbild, das heute als posttraumatisches Stress-syndrom diagnostiziert wird und früher als Granatenschock oder Kriegsneurose Nervenärzte ebenso beschäftigte wie Literaten, die eine «verlorene Generation» beschrieben. Dieser Zustand ist durch den Verlust der Kontrolle über die eigene Vorstellungswelt charakterisierbar. Zwangserinnerungen (Flashbacks) an die verletzende Situation tauchen auf, ohne dass sich das Opfer wehren kann, das weit lieber seine Peiniger vergessen möchte. Die Reizbarkeit ist erhöht, die Fähigkeit geschwunden, störende Signale auszublenden: Es gibt Traumatisierte, für die selbst das Ticken einer Uhr zu einem derart unerträglichen Lärm wird, dass sie in sinnloser Abwehr den Zeitmesser von der Wand reißen und zertreten.
Eine solche Reaktion zeigt einen Teil der Dynamik einer narzisstischen Explosion: der Reizschutz und die Reizverarbeitung sind geschwächt; parallel dazu ist auch die Fähigkeit der inneren Abwehr reduziert, mit deren Hilfe Primitivreaktionen in Schach gehalten werden. Dieser Aspekt der Traumareaktion ist als Zentralisation beschrieben worden.
Aus der Unfallmedizin ist der Begriff der Zentralisation bekannt. Wenn der Kreislauf eines Menschen gefährdet ist, werden nur mehr die Organe durchblutet, welche für ein Fortbestehen des Lebens absolut unentbehrlich sind: Gehirn, Herz und Lunge. Gliedmaßen, Verdauung, Nieren, Genitalien werden nicht mehr ausreichend versorgt. Der Nutzen dieser vom unwillkürlichen Nervensystem eingeleiteten Umschaltung ist es, den Tod aufzuhalten. Der Preis dafür sind Schäden der vernachlässigten Organe, die – je nach Dauer der Zentralisation – umkehrbar sind oder bestehen bleiben.4
Wird eine Blutmenge von über einem drei viertel Liter entzogen, dann wird diese Kompensation allmählich überfordert. Die Zentralisation charakterisiert den Zustand zwischen einer gerade noch ausreichenden Regulation und dem vollständigen Zusammenbruch, der in kurzer Zeit zum Tode führt.
Als psychische Zentralisation lässt sich eine Reaktion auf extreme Belastungen erwachsener Menschen definieren. Sie tritt ein, wenn über längere Zeit der normale Reizschutz überfordert wird. Es handelt sich um einen Vorgang, der von einer bewussten Konzentration unterschieden werden kann. Die Phantasie- und Gefühlstätigkeit wird eingeschränkt auf das lebensnotwendige Minimum. Die Anstrengungsbereitschaft und das Interesse für alles, was nicht mit dem unmittelbaren, physischen Überleben zu tun hat, nehmen ab. Vergangenheit und Zukunft sind belanglos geworden. Die Gegenwart reduziert sich auf wenige, aber überlebenswichtige Fragestellungen.
Ausdrücke wie nervöses Erschöpfungssyndrom oder Erschöpfungsdepression treffen nur einen Teil dessen, was mit Zentralisation gemeint ist. Vor allem wird von solchen Ausdrücken der spezifische Vertrauens- und Phantasieverlust nicht erfasst, der mit gut erhaltener, möglicherweise sogar überdurchschnittlicher beruflicher Leistungsfähigkeit der Traumatisierten einhergeht.
Eine spezifische Qualität der Zentralisation liegt in der Schädigung der Aggressionsverarbeitung. Eigene seelische Strukturen, die einen gezielten und kontrollierten Einsatz von Aggressionen ermöglichen, sind anscheinend abgebaut worden. Die traumatisierten Kriegsheimkehrer können sich oft nicht vorstellen, dass ihre Frau oder ihre Kinder verletzt reagieren und sich von ihnen zurückziehen, wenn sie sie mit Grobheiten oder Zynismen behandeln, die unter ihren Kameraden als harmlose Scherze gegolten hätten. Die Zentralisation führt dazu, dass die eigene Aggressivität nicht mehr durch Einfühlung in die Verletzung des anderen, sondern durch Angst vor dem gemeinsamen Feind oder vor dem Vorgesetzten reguliert wird.
Der Traumatisierte ist immer ein Vereinfacher, der danach strebt, die Erschütterung seiner Fähigkeiten zur Reizverarbeitung dadurch zu kompensieren, dass er die Probleme, auf die er stößt, zu einem einfachen Muster von Schwarz und Weiß reduziert. Die Extremtraumatisierten zeigen das auf die gröbste Weise, indem sie vor jedem neuen Reiz erschrecken und die kleinste Veränderung des Erwarteten mit einem Wutausbruch beantworten. Aber mildere Formen der Traumatisierung führen ebenfalls dazu, in einer im Prinzip ähnlichen Weise alles abzuwehren, was doppeldeutig ist, eine Ambivalenz enthält, eine eigene Beteiligung an einem Konflikt nahe legt. Alles Erträgliche ist auf der eigenen Seite, alles Unerträgliche dort, wo die eigene Sicht auf die Welt beunruhigt wird. Das Erträgliche ist das einzig Gute, das Unerträgliche das rein Böse, das nichts anderes verdient als Vernichtung.
Warum sollen wir uns mit solchen Mechanismen beschäftigen? Weil wir in guten Zeiten der kulturellen Entwicklung die Traumatisierten erkennen, behandeln, zum Teil heilen, zum Teil doch in ihren zerstörerischen Reaktionen zügeln können. In schlechten Zeiten aber beginnen sie, uns zu regieren. Aus ihrer Mitte entstehen Propheten und Politiker, die fähig sind, ihre eigenen Verletzungen zu kompensieren, indem sie Macht gewinnen. Dann beschäftigen sich demokratisch gewonnene Mehrheiten mit ihrer Selbstauflösung. Es geht zum Beispiel nicht mehr um die komplexen Konflikte zwischen Deutschen und Juden, zwischen Christen und Muslimen, sondern nur darum, die eine Seite als das Unglück der anderen darzustellen. Vertreibung des Gegners aus dem eigenen Bereich und – wenn dies nicht möglich ist – seine physische Vernichtung erscheinen plötzlich als die einzige und eben deshalb auch als gerechte Lösung. Das Schlagwort ist die erste Waffe des Terrors. Traumatisierte entfalten ihn, um ihre geistige Welt vor den Überforderungen einer offenen und toleranten Wahrnehmung zu schützen. Die Welt wird einfachgeredet. Die Vergleiche verlieren ihre Metaphorik. Eine ganze, fremde Kultur ist «der Satan», «unser Unglück», «der Erbfeind».
Ein neues Schlagwort ist «die Globalisierung». Wenn die vielen Verflechtungen der Moderne auf diese Formel gebracht werden, wird oft sehr deutlich, wie sich die Anforderungen an unsere Reizverarbeitung und die konkreten Möglichkeiten von Bevölkerungsmehrheiten gleich einer Schere öffnen. Das öffentliche Unbewusste ist von Bildern dominiert, in denen schier unverwundbare Helden die Welt wieder und wieder gegen alle Wahrscheinlichkeit vor Superbösewichten oder Angreifern aus dem Weltraum retten, die zunächst alle Trümpfe in der Hand haben.
Mir scheint, dass kein nachdenklicher Mensch heute die seelische Belastung abweisen kann, die dadurch entsteht, dass wir in einer Welt leben, deren Unübersichtlichkeit, ja Undurchschaubarkeit uns mit jedem Schritt bewusster wird, den wir erkennend in sie eindringen. Dieser Belastung standzuhalten, ihr nicht durch den Rückgriff auf Gewissheiten einer tradierten Offenbarung auszuweichen oder sie mit Schlagworten niederzuknüppeln ist mühevoll. Es wird nie zu einer guten Lösung und ist doch die beste, die wir haben. Camus hat diese Situation mit der Metapher von Sisyphos beschrieben: eines Menschen, welcher der Last des nicht Erreichbaren standhält, ohne zu verzagen.
Wer sich die forschende Haltung bewahren kann und daher allen Lösungsvorschlägen eine provisorische Qualität zuschreibt, ist sicher besser als der Rechtgläubige jedes Evangeliums davor geschützt, den Gefahren des explosiven Narzissmus zu erliegen. Aber er muss sich mit der bitteren Einsicht auseinander setzen, dass die Verführungskraft der Vereinfacher parallel mit der latenten Verletzung unserer Sicherheitsbedürfnisse durch eine stärker vernetzte und technisch wie organisatorisch immer reichere Welt zunimmt.
Besonders unheilvoll an den gegenwärtigen Problemen scheint die Verbindung von verletzter Sicherheit, Neid und explosivem Narzissmus. Ein Modell bieten die vielen Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen. Wer immer aus seiner Heimat verjagt wurde, und wie auch immer dieses Schicksal politisch zustande kam, er wird nicht nur in seiner, sondern auch in der Lebenszeit seiner Kinder und Enkel diese Verletzung spüren und günstige Umstände brauchen, um sie zu überwinden. Er muss unendlich viel Neues verarbeiten und ist dazu schlechter fähig als die Menschen, denen sein Schicksal erspart blieb. Kein Wunder, dass er sie um ihre Ruhe beneidet und ihrem Glück noch eine Gegenprojektion seines eigenen Unglücks hinzufügt: Sie haben alles, was ihm fehlt. So ist es eigentlich eher staunenswert, wie friedfertig und dankbar viele Vertriebene sind.
Die Rachephantasie gehört zum Inventar der Kränkung. Je schwerer das Trauma wiegt, desto weniger ist es auch möglich, die Destruktivität dieser Phantasie zu erkennen. Sie erscheint gerecht, sie macht die Welt überschaubarer und einfacher, sie ebnet den Unterschied zwischen den Vertriebenen und den Beheimateten ein, indem sie auch den Beheimateten ihre Heimat zerstört. Dann sind alle wieder gleich, und aus den Trümmern wird eine neue Welt wachsen.
1 V. S. Naipaul: Eine islamische Reise. München [dtv] 2001, S. 56, Erstausgabe 1981
2 Ebd. S. 249
3 Ebd. S. 139
4 Vgl. W. Schmidbauer: «Ich wusste nie, was mit Vater ist!» Das Trauma des Krieges. Reinbek [Rowohlt] 1998
Wie so viele soziale Neuerungen verdanken wir den Begriff des Terrorismus der Französischen Revolution, und wie andere Begriffe hat auch das Regime des Terrors (régime de la terreur) der Jahre 1793 und 1794 seine Bedeutung gewandelt. Ursprünglich war es durchaus positiv gemeint, als energische Wiederherstellung staatlicher Ordnung und Bekämpfung aller Feinde der bürgerlichen Revolution mit öffentlichen Tribunalen und Hinrichtungen. Maximilien Robespierre verkündete, dass der Terror ein Ausdruck der Tugend sei, wenn er beabsichtige, sie auf kürzestem Weg herzustellen. Sein Terrorismus trug durchaus Züge, die wir bis in die Gegenwart finden: Er war organisiert, zielbewusst, eindrucksvoll, absolut rücksichtslos und rechthaberisch; indem sich Robespierre mit der absoluten Moral identifizierte, maßte er sich auch das Recht an, für eine nur ihm sichtbare Zukunft alles zu zerstören, was ihm gegenwärtig im Weg stand.
Robespierres Terrorregime spiegelt bereits einen Zug, der spätere Terroristen immer wieder geprägt hat: die Eskalation der Gewalt. Der Terror wird gesteigert, um die Einsicht abzuwehren, dass er nicht bewirkt, was von ihm erwartet wird. Immer mehr Menschen wurden als Verräter abgeschlachtet, bis Robespierre den Fehler beging, von einer neuen Liste von Todeskandidaten zu sprechen, ohne genau zu sagen, wen er meinte. Alle fühlten sich bedroht. Deshalb einigten sich Extremisten und Gemäßigte darauf, Robespierre und seine engsten Gefolgsleute hinzurichten.
Im späten 19. Jahrhundert machten sich zwei neue soziale Phänomene bemerkbar: die Massenpresse und der aufrührerische Terrorismus. Beide verdankten einen großen Teil ihrer Existenz jüngsten technischen Entwicklungen: dem Dynamit, das 1866 erfunden worden war, und der Rotationspresse, die 1848 eingeführt und 1881 vervollkommnet wurde. Beide Erfindungen traten bald in Wechselwirkung. «Wahrheit kostet zwei Cent die Kopie, Dynamit vierzig Cent das Pfund. Kaufe beide, lies die eine, nutze das andere!» So erklärte das Anarchistenblatt «Wahrheit» (Truth) in San Francisco.1
Terrorismus ist «Propaganda der Tat», ein Begriff, der dem italienischen Revolutionär und Kämpfer gegen die Bourbonenherrschaft, Carlo Pisacane zugeschrieben wird. «Die Propaganda der Idee ist ein Gespenst», behauptete der Garibaldi-Vorläufer. «Ideen gehen aus Taten hervor und nicht umgekehrt, das Volk wird nicht frei durch Bildung, sondern gebildet in der Freiheit.»2
Auch beim politischen Terrorismus aus dem Untergrund, der das Bild unserer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Thema prägt, macht sich die Spirale der Gewalt bemerkbar. Die wohl erste wichtige Organisation, welche die Propaganda der Tat umsetzte, war der «Volkswille», Narodnaya Wolya, eine 1878 in Russland gegründete Gruppe, die vom Zaren eine Verfassung verlangte und angesichts der Apathie ihrer Zeitgenossen und der Macht despotischer Traditionen schließlich die Aufmerksamkeit durch Gewalttaten von jenem Typus herausforderte, die man später «anarchistisch» nannte. Damals machten sich die Täter noch Skrupel, die angesichts der gegenwärtigen Selbstmordattentate altmodisch wirken, brachen beispielsweise das vorbereitete Attentat ab, sobald sie sahen, dass ihr Ziel von seinen Kindern begleitet war. Der größte Erfolg der Narodnaya Wolya – der Mord an Zar Alexander am 1. März 1881 – durch vier voneinander unabhängig arbeitende, zum Äußersten entschlossene Täter führte auch zum Untergang der Gruppe: Ein Täter überlebte und verriet die Organisation an den Staatsapparat. Das Attentat selbst brachte, wie es bis heute gelungene Attentate tun, den anarchistischen Gruppen großen Zulauf; sie versuchten, in London eine Art Internationale zu gründen, die freilich mehr auf Willensbekundungen beruhte und keine straffe Organisation aufwies – das hätte auch zum Konzept des Anarchismus nicht gepasst, machte ihn aber für die autoritären Polizeiapparate umso bedrohlicher und schwerer zu fassen.
Die nächsten prominenten Opfer waren Kaiserin Elisabeth von Österreich und der amerikanische Präsident William McKinley, der 1901 von dem Anarchisten Leon Czolgosz getötet wurde. Diese Tat an der Schwelle zum 20. Jahrhundert beleuchtet besonders nachdrücklich die intellektuelle und narzisstische Qualität des Terrors. Der Aufstieg des Präsidenten wurde durch die Entwicklung der modernen Massenpresse gefördert; während des Wahlkampfs druckten zwei Zeitungen – herausgegeben von Pulitzer und Hearst – zum ersten Mal Auflagen in Millionenhöhe.
Das bedeutete eine dramatische Veränderung der Kommunikationsmöglichkeiten und dessen, was wir heute Informationslandschaft nennen. Bei Aristoteles ist die Größe eines (Stadt-)Staates durch die Reichweite der menschlichen Stimme bestimmt, die bei günstiger Anordnung des Publikums (etwa in einem Amphitheater) höchstens von zwanzigtausend Personen gehört werden kann. Diese Reichweite der einzelnen Stimme wird durch die Rotationspresse auf das Mehrhundertfache gesteigert, durch die elektronischen Medien auf das Mehrtausendfache – die stürzenden Türme des World Trade Center haben sicher mehr als zwei Milliarden Menschen gesehen.
Parallel dazu werden aber immer mehr Menschen von der Möglichkeit ausgeschlossen, die Hürde zu überspringen, welche den Zugang zu dieser enorm gesteigerten Multiplikation des Ego abriegelt. Pressefreiheit im Kapitalismus gilt nur für einen: für den Besitzer der Zeitung. Während die Redefreiheit für alle galt, half die Pressefreiheit vor allem dem Unternehmer, der ein Massenblatt gründete, und denen, die an seiner Macht und seinem Reichtum auf verschiedene Weise teilhaben konnten. Die Macht, Aufmerksamkeit, Geltung, Bedeutung und Prestige zu verteilen, kann nicht ausgeübt werden, ohne Hass und Neid zu erregen. Je mehr diese Macht wächst, desto stärker werden auch diese Affekte. Der Terrorismus ist ein wichtiges Mittel, sie auszudrücken.
Leon Czolgosz, der 1901 den amerikanischen Präsidenten William McKinley tötete, erklärte seine Tat so: «Ein Mann sollte nicht so viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, während andere keine erhalten!» Im Anarchismus berühren sich die Extreme: «Keine Macht für niemand!» weckt als Schatten «Alle Macht für mich!». Luchini, der Mann, der die österreichische Kaiserin Elisabeth 1898 erdolchte, sammelte Zeitungsausschnitte und wollte jemand töten, der wichtig war, um endlich die Aufmerksamkeit zu haben, auf die er nicht verzichten konnte.
Die Entwicklung der Massenmedien hängt nicht nur eng mit der des Terrorismus, sondern auch eng mit der des Nationalismus zusammen. Beiden steht eine Form (halb-)intellektueller und theatralischer Gewalt nahe, die man bis heute in gemilderter Form in der Sportberichterstattung beobachten kann, in der ein aggressiver Nationalismus der Reporter die Entgleisungen der Hooligans im ersten Schritt verbal vorwegnimmt und im zweiten dann empört als «unsportlich» verurteilt. Die Massenmedien erzeugen Spracheinheiten; die latente Gewalt der Spracheinheit wird zu einem zentralen Thema des Massenmediums.
Unter dem Druck dieser Entwicklungen gärte es seit dem 19. Jahrhundert in den klassischen Vielvölkerstaaten Europas und Kleinasiens: in der Donaumonarchie und im Osmanischen Reich. Überall gewannen «Freiheitskämpfer» an Einfluss, und auf vielen Bühnen wurde mit den verschiedensten Rollenbezeichnungen das klassische Stück gespielt: «Vom Räuber zum Staatsmann!», «Vom Verräter zum Nationalhelden!», «Vom Terroristen zum Diplomaten!» «Erfolgreiche» Rechtsbrecher und Gewalttäter verwischten in den Geschichtsbüchern ihre blutigen Anfänge und richteten später mit energischer Gewalt über jene, die nichts anders getan hatten als sie selbst.
Selbst ausführliche Darstellungen der Geschichte des Terrorismus tun sich schwer, die Zahl der Legierungen aus aggressivem Nationalismus und anarchistischer Verschwörung aufzulisten, die im 19. Jahrhundert in den unterschiedlichsten Staaten und Gruppen entstanden, kämpften, in den meisten Fällen vergingen, in den seltensten etwas erreichten. Eine dieser Gruppen, die «Jungbosnier», löste den Ersten Weltkrieg durch das Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo aus. Hier wirkte die klassische Strategie des terroristischen Freiheitskampfes wie der Funke im Pulverfass. Diese Strategie sieht so aus: Der «Unterdrücker» wird durch terroristische Aktionen bewegt, sein «wahres Gesicht» zu zeigen. Sein Gegenterror wird dann propagandistisch benutzt, um Verbündete zu gewinnen. In diesem Ringen geben verschiedene Faktoren den Ausschlag über Erfolg oder Scheitern in einer Auseinandersetzung, die schließlich auch zum Urteil der Geschichte führen, ob es sich um (kriminelle) Terroristen oder um (heroische) Freiheitskämpfer handelte.
Wenn es den Tätern gelingt, mächtige Verbündete in dritten Ländern zu gewinnen oder die eigene Bevölkerung geschlossen gegen einen Feind zu mobilisieren, der seine Macht aus der Zersplitterung und Uneinigkeit der Beherrschten gewann, haben sie gute Chancen. Wenn es dritten Ländern nicht opportun scheint, sie zu unterstützen, und die Gruppe, die gewonnen werden soll, durch die Aktionen eher irritiert und abgeschreckt wird, werden die Terroristen scheitern. Von der Schlagkraft, Energie, heroischen Rücksichtslosigkeit der Gruppe selbst hängt einiges ab, aber es ist eine törichte Fiktion, die zu unendlich viel sinnlosem Blutvergießen geführt hat und wohl noch führen wird, davon auszugehen, dass es der radikale Wille und persönliche Todesmut sind, die aus dem verachteten Terroristen den glänzenden Freiheitshelden machen.