Armin Nassehi
UNBEHAGEN
THEORIE DER ÜBERFORDERTEN
GESELLSCHAFT
C.H.BECK
Moderne Gesellschaften folgen einerseits stabilen Mustern, sind träge und kaum aus der Ruhe zu bringen. Andererseits erweisen sich ihre Institutionen und Praktiken immer wieder als erstaunlich fragil und vulnerabel. In Situationen, die wir Krisen nennen, prallen diese beiden widersprüchlichen Seiten der gesellschaftlichen Moderne besonders heftig aufeinander. Schon die Semantik der Krise suggeriert aber, dass es so etwas wie einen wohlgeordneten Status geben könnte, der sowohl modern als auch nicht-krisenhaft wäre. Der entsprechende Ruf nach mehr Gemeinschaft, Solidarität und Zusammenhalt entspringt unserem sehnlichsten Wunsch, aus einem Guss und womöglich kollektiv handeln zu können. Doch dieser Vorstellung läuft bereits die innere Differenziertheit der Gesellschaft in ökonomische, politische, wissenschaftliche, rechtliche und familiale Logiken zuwider. Die moderne Gesellschaft kennt keinen Ort, an dem diese unterschiedlichen Funktionslogiken nachhaltig aufeinander abgestimmt werden können. Armin Nassehi zeigt in seinem Buch, warum der Versuch einer politischen Bündelung aller Kräfte auf ein gemeinsames Ziel in komplexen Gegenwartsgesellschaften zwangsläufig scheitern muss. Er vertritt die These, dass komplexe Gesellschaften sich fortlaufend selbst als krisenhaft erleben, ohne je in eine Form prästabilierter Harmonie zurückzukehren. Sowohl die sozialwissenschaftliche Literatur als auch die öffentlichen Debatten der Gegenwart verstellen den Blick auf diesen Zusammenhang, indem sie Gesellschaft ausschließlich in der Sozialdimension, d.h. in illusionären Kollektivbegriffen beschreiben. Demgegenüber stellt Nassehi die Sachdimension gesellschaftlicher Strukturen ins Zentrum seiner theoriegeleiteten Gegenwartsanalyse. Dadurch gelingt ihm ein konstruktiver Blick auf eine überforderte Gesellschaft, die in ihrem Unbehagen ihre eigene Problemlösungskompetenz zu vergessen droht. Er deutet zugleich an, was man aus unserem Umgang mit der Pandemie und der Klimakrise lernen kann, um uns für künftige Krisensituationen besser zu rüsten – ohne übersteigerte Erwartungen zu wecken.
Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 2012 Herausgeber der Kulturzeitschrift «Kursbuch». Von ihm erschien bei C.H.Beck zuletzt «Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft» (2019).
Vorwort
1: Einleitung
Das Unbehagen in der Kultur ff.
Die Frage
Risiko Theorie
2: Soziodizee
Theodizee
Handeln/Handlungsfähigkeit
Von der Theodizee zur Soziodizee
Drei Soziodizeen
3: Versuchsaufbau
Änderungsimperative
Evolution
Der Fehlschluss von der Notwendigkeit
auf die Möglichkeit
Gesellschaft der Gegenwarten
Fixierung auf Gegenwarten
4: (An-)Ordnung
Überall Akteure
Versammlungen oder Differenzierungen?
Was für Systeme?
(Un-)Erreichbarkeit
5: Andockstellen
Ambivalenz des Selbstverhältnisses
Sach- und Sozialdimension
Querlagen
Institutionenabhängige Lebenslagen
6: Arrangements
Institutionen
Filigrane Ordnung
Die verborgene Krise
7: Himmel
Gesellschaft als Familienangelegenheit
Moralüberschuss
Ex oriente lux?
Tianxia
Die Welt in Ordnung bringen
8: Organisation
Die Organisation der Gesellschaft
Gesellschaft als Organisation?
9: Offenheit
«Trade-tested Betterment»
Noch einmal: Krise
10: Latenz
Schutzlosigkeit
Physiodizee
Die Ungerechtigkeit des Sprechens
Latenzverlust in der Sachdimension
11: Konsum
Was macht einen Unterschied?
Unterhaltung
12: Was tun?
Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit
Risiko-Lernprozesse
Genügt Evolution?
Ein Beispiel: Sterben als Risiko
Am Ende noch einmal: Latenz
Anmerkungen
1
Einleitung
2
Soziodizee
3
Versuchsaufbau
4 (An-)Ordnung
5
Andockstellen
6
Arrangements
7
Himmel
8
Organisation
9
Offenheit
10
Latenz
11
Konsum
12
Was tun?
Sachregister
Die theoriegeleitete soziologische Beschreibung der Gesellschaft bewegt sich primär in der Sozialdimension und passt sich damit auch anderen Selbstbeschreibungen ihres Gegenstandes an. Dieses Buch versucht zu zeigen, was mit dem soziologischen Verständnis der Gesellschaft passiert, wenn man sich nicht nur auf die Sozialdimension kapriziert, sondern auch die Sachdimension einbezieht. Es schließt damit an mein Buch «Der soziologische Diskurs der Moderne» (Suhrkamp 2006/2009) an, in dem ich die Geschichte des Faches anhand zweier Diskursstränge rekonstruiert habe, die sich vor allem im Hinblick darauf unterscheiden, dass der eine die moderne Gesellschaft als eine Arena in der Sozialdimension beschreibt, der andere als Form des Ordnungsaufbaus mit Schwerpunkt in der Sachdimension. Mit meiner Arbeit «Die Zeit der Gesellschaft» (VS Verlag 1993/2008) liegt eine solche Beschreibung mit Schwerpunkt in der Zeitdimension vor.
Dieses Buch nimmt diese Untersuchungen wieder auf, bewegt sich aber nicht auf dem Terrain der soziologischen Selbstbeobachtung, sondern stellt die Frage danach, welchen Unterschied es macht, gesellschaftliche Herausforderungen im Hinblick auf unterschiedliche Sinndimensionen zu beschreiben. Die COVID-Krise ist dabei nicht primärer Gegenstand des Buches, sondern diese und die Klimakrise dienen als Referenzkrisen, die den soziologischen Blick anleiten.
Das Buch ist zwischen dem Jahreswechsel 2020/21 und Mai 2021 geschrieben worden, also in der vorläufigen Spätphase der Pandemie. Danken möchte ich Gina Atzeni und Magdalena Göbl für kritisches Mitlesen, Jan Gehrmann für Recherchen unterschiedlicher Art und meiner Kollegin Paula-Irene Villa Braslavsky für einige weiterführende Hinweise. Ferner danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern laufender Drittmittelprojekte, deren Ergebnisse und Anregungen Eingang in den Text gefunden haben.
Am meisten habe ich wiederholt Irmhild Saake zu danken. Die Zusammenarbeit mit ihr ist wertvoller denn je.
Kurz nach dem Erscheinungstermin dieses Buches wäre der Münsteraner Soziologe Georg Weber 90 Jahre alt geworden. Er starb im Jahre 2013. Ich hatte ihm in meiner Zeit als junger Wissenschaftler viel zu verdanken, vor allem sehr viele Freiheiten im Denken, die Prämierung von Abweichung und Vertrauen in noch nicht Eingelöstes. Manches inhaltliche Motiv in diesem Buch hätte ihm gefallen.
Dem C.H.Beck-Verlag danke ich für die wiederholt sehr gute Zusammenarbeit und speziell Matthias Hansl für das kompetente Lektorat.
Gewidmet sei das Buch Annette Großlohmann. Sie weiß, warum.
Armin Nassehi
München, Pfingstsonntag 2021.
1
Dass die Gesellschafts- und Kulturentwicklung Kosten verursacht, ist keine originelle Diagnose. Von der Entzauberung und vom Sinnverlust über den Verlust eines wirksamen Kollektivbewusstseins bis hin zur negativen Dialektik reicht dieser Topos, der das Fortschritts- und Zukunftsbewusstsein der Moderne skeptisch begleitet. Und noch im Terminus «Spätkapitalismus» schwingt eine merkwürdige Ambivalenz mit, die sich zumeist wahrscheinlich wenig Rechenschaft darüber ablegt, ob sie dem alten Narrativ seiner geschichtlich verbürgten Überwindung folgt oder doch eher einer Kristallisationsthese, die nicht mehr mit grundlegend Neuem rechnet. Dass die gesellschaftliche Entwicklung beziehungsweise ihre Bewegungsgesetze die eigene Verunmöglichung beinhalten, ist eine intellektuelle Denkfigur, die sich bewährt hat. Sie ermöglicht Kritik, ohne zu konkret werden zu müssen, und sie kann damit alles Konkrete in ihren Bann ziehen. Mit einem solchen Skeptizismus hat die erste Generation der akademischen Soziologie durchaus einen Ton gesetzt – und traf ohne Zweifel einen Punkt, denn sie etablierte tatsächlich eine distanzierte Reflexionsform, die sehr selbstbewussten gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen einen Spiegel vorhielt und die Widersprüche und Ambivalenzen der Selbsterzählungen der Moderne thematisierte. Beschreibungsanlass war letztlich das Krisenhafte an der gesellschaftlichen Entwicklung,[1] die freilich vor allem deshalb als Krise erlebt werden konnte, weil sie eine auf die Zukunft gerichtete und damit offene Zeitperspektive hatte.[2] Dass sich darin eben nicht nur eine utopische Fortschrittsvorstellung, sondern vor allem der Zweifel an den eigenen Möglichkeiten bis hin zu einer zentralen Betonung des Risikos aller Zukunftsorientierung etablierte, ist Teil dieses skeptischen Selbstverständnisses des Modernisierungsprozesses.[3]
«Unbehagen» reiht sich insofern in einen Topos ein, der wenig überrascht, erst recht nicht in diesen Zeiten, in denen sich das, was man «Krisen» nennt, in vergleichsweise kurzer Zeit ablöst. Begrifflich nimmt der Titel dieses Buches Bezug auf Sigmund Freuds späte kulturtheoretische Schrift «Das Unbehagen in der Kultur» (1930). Deren Hauptthese besteht darin, dass die Spannung zwischen dem Individuum und der Kultur mit deren Höherentwicklung eklatant zunimmt. Freud beschreibt einen Menschen, der letztlich nicht wirklich modernitätsfähig ist. In einem «kleinen Kulturkreis» mit hinreichender Übersichtlichkeit sei die Bindung der Menschen aneinander einfacher möglich, weil der Aggressionstrieb «einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet. […] Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben.»[4] Soziale Kohäsion müsse also um den Preis der Abgrenzung erkauft werden, was insofern naheliegt, als das Objekt der Liebe damit erst angemessen qualifiziert werden kann. Nun nimmt die Kulturentwicklung eine Bewegungsrichtung an, die in immer abstraktere und damit unübersichtlichere Formen sozialer Kohäsion mündet, womit die Anforderungen an den Einzelnen durch die Kultur, durch ein starkes Über-Ich größer werden, nämlich entsprechend Gruppennormen zu erfüllen. Der Preis des kulturellen Fortschritts besteht dann darin, dass der Mensch den hohen und differenzierten Anforderungen einer solchen Kultur nicht gerecht werden könne und er deshalb Schuldgefühle entwickeln müsse, die auf anderem Wege zu kompensieren sind.[5] Die Kulturentwicklung verlangt mit zunehmender Komplexität mehr Normenerfüllung und überfordert den Einzelnen dadurch, dass er gewissermaßen haltlos wird. Zugehörigkeitsforderungen werden damit zu Problem und Lösung zugleich – sie sind Lösung, weil sie dem Einzelnen Anerkennung versprechen, sie sind das Problem, weil sie letztlich eine so starke Selbstkontrolle verlangen, die Freud für geradezu widernatürlich hält. Die Kultur verspricht Belohnung für etwas, das die Menschen von selbst nicht einhalten können. «Ganz ähnliche Einwendungen können wir gegen die ethischen Forderungen des Kultur-Über-Ichs erheben. Auch dies kümmert sich nicht genug um die Tatsachen der seelischen Konstitution des Menschen, es erläßt ein Gebot und fragt nicht, ob es dem Menschen möglich ist, es zu befolgen.»[6] Das führt dann zu Destruktion oder Autoaggression, vor allem wenn die normativen Forderungen zu stark und zu abstrakt werden. Freud spricht vom «unpsychologischen Vorgehen des Kultur-Über-Ichs»,[7] vor allem in der Forderung des «Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst», die letztlich nicht einzuhalten ist – umso weniger, je höher die moralischen Forderungen werden. Aktueller kann man es kaum formulieren, wie Freud hier schreibt: «Die sogenannte natürliche Ethik hat hier nichts zu bieten außer der narzißtischen Befriedigung, sich für besser halten zu dürfen, als die anderen sind.»[8]
Das Unbehagen, von dem hier die Rede ist, ist ein Unbehagen, das die Positionierung des Einzelnen in seinen sozialen Bezügen meint, es ist eine Asymmetrie zwischen den Ansprüchen der «Kultur» und den individuellen Ressourcen und Möglichkeiten, bei Freud gar eine zwischen der menschlichen Natur und der Kulturentwicklung. Das «Unbehagen in der Kultur» geht letztlich so weit, die Passung zwischen dem Menschen und der menschlichen Vergesellschaftung generell in Zweifel zu ziehen, soweit sie über die Übersichtlichkeit eines bestimmbaren Sozialverbandes hinausgeht. Es ist eine Kritik an der Kultur – im angelsächsischen Sinne würde man von Zivilisation sprechen –, die prinzipiell als nicht lösbar erscheint.[9]
Freuds ganze kultur- bzw. zivilisationskritische Perspektive zielt auf Überforderung – kulturelle Ansprüche, die der Mensch letztlich nicht erfüllen kann. Bei aller hehren Form der Moral und der kulturellen, moralischen und religiösen Ansprüche mündet dies fast zwangsläufig in autoritäre Strukturen, um diese Spannung zu bearbeiten. Das Bezugsproblem bleibt aber die Frage der gesellschaftlichen Kohäsion als Gruppenkohäsion. Moderne Vergesellschaftung sieht aus wie eine Vergesellschaftung in Großgruppen mit hohen Ansprüchen an starke Gruppenkohäsion, an die Zugehörigkeitsbedingungen, an gemeinsame Werte, an normative Vorgaben. Hierin gipfelt die klassische Selbstbeschreibung der gesellschaftlichen Moderne, sich in zumeist politischen Begriffen als Kollektivität darzustellen – bis heute ist das Lieblingsthema in «Krisen», den «gesellschaftlichen Zusammenhalt» zu beschwören. Und je unmöglicher dies erscheint, desto stärker fällt die Beschwörung aus.[10]
Freuds Topos wurde oft variiert. Um es an zwei Beispielen zu verdeutlichen, die in ihren deutschen Übersetzungen bis in den Buchtitel hinein das Motiv des «Unbehagens» zitieren: Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht von «The Malaise of Modernity», in der deutschen Ausgabe: «Das Unbehagen an der Moderne». Die Quelle des Unbehagens ist auch bei ihm der Verlust oder die Unmöglichkeit von sozialer Kohäsion, die er im Individualismus der modernen Kultur ausmacht, die so etwas wie eine unbedingte Zugehörigkeit mit kollektiver Zwecksetzung erschwere, mit der Folge einer Verflachung kollektiver Anstrengungen zur Verbesserung der gemeinsamen Welt. Folge sei ein narzisstischer Individualismus.[11] Die Studie «La Société du malaise» des französischen Soziologen Alain Ehrenberg, auf Deutsch «Das Unbehagen in der Gesellschaft», kommt ebenfalls zu einer Diagnose einer narzisstischen Störung des Individuums in der Moderne, das sein Verhältnis zur kollektiven Ebene und zu den gesellschaftlichen Institutionen nicht angemessen gestalten kann.[12]
Gemeinsam ist diesen Diagnosen des Unbehagens, der Malaise, dass sie sich einerseits auf den Verlust übersichtlicher Zugehörigkeiten beziehen und die unpersönliche Form einer Gesellschaft unter Fremden betonen, dies andererseits vor allem auf «höhere» Formen der Vergesellschaftung anwenden. Das Problem der Moderne, der Gesellschaft, der Zivilisation ist danach vor allem das Problem der Gruppengröße und ihrer sozialen Komplexität. Das Bezugsproblem dieser Diagnosen liegt folglich in der Sozialdimension. Freud ruft die Monströsität von zu großen und zu großartigen Kollektivitäten auf, der Kommunitarist Taylor scheint die Logik familialer Zugehörigkeit als normatives Modell fürs Gesellschaftliche zu sehen, und Ehrenberg beschreibt die Gesellschaft als Quelle einer Erschöpfung, gegen die der Einzelne nicht mehr ankommt. So unterschiedlich diese Diagnosen jeweils ausfallen, so ausschließlich beziehen sie sich allesamt auf die Sinndimension des Sozialen. Sie kennen die Gesellschaft nur als Großgruppenphänomen, nur als sozialen Behälter, und Individuen nur als Gegenüber oder Elemente solcher Großgruppen. Gelungene Vergesellschaftung kann hier nur in Form eines Ausgleichs zwischen einer eher individuellen und einer eher gesellschaftlichen Ebene gedacht werden. Solche Perspektiven tendieren in mitunter erhellender Weise dazu, das Individuum und dessen Leiden zu akzentuieren. Die Gesellschaft bleibt demgegenüber jedoch ein erstaunlich unterkomplexes Phänomen.
Nehmen wir das Beispiel Ehrenbergs, um die mit solchen Perspektiven verbundene Sackgasse näher zu beleuchten: Sein «erschöpftes Selbst», das die Vorlage auch für gegenwärtige Diagnosen etwa von Andreas Reckwitz bildet,[13] lässt sich nur von einem Modellsubjekt unterscheiden, das bei Ehrenberg vor allem an der Idee psychischer Gesundheit ansetzt. Das Subjekt in der Krise zu wähnen, ist insofern nicht originell, als schon die Figur des individuellen Subjekts vor allem als Leiden an der Welt dargestellt werden kann – zunächst als sündiges Gegenüber Gottes, dann als eine von Neigungen korrumpierte individuelle empirische Person, die bei Kant von dem Konstrukt eines vernünftigen Wesens abgegrenzt wird, über die Hegel’sche Konzeption eines Subjekts, das dem Allgemeinen unterworfen ist, ja bei dem Freiheit und Unterwerfung eine Synthese eingehen, bis hin zu Freuds grundlegendem Unbehagen des empirischen Subjekts in der Kultur. Man könnte die Reihe mit Foucaults diszipliniertem Subjekt und Derridas Dekonstruktion des Subjekts weiterführen. Das Subjekt ist Krise – es findet sich als literarische Figur vor, nicht zuletzt als gebrochenes Selbstverhältnis. Der Horizont ist stets eine explizite oder implizite Idee gelungener Subjektivität – als gebe es hinter dem durch die Welt korrumpierten Subjekt noch ein eigentliches, ein wirkliches, ein heiles Subjekt, das freizulegen die eigentliche Aufgabe der Selbstwerdung ist.[14]
Das legt der Krisenbegriff nahe, und das gilt auch für die Krisensemantik der Gesellschaft. Die Krisenmetaphorik kapriziert sich auf Fehlentwicklungen, die nur Fehlentwicklungen sein können, weil man hinter der Gesellschaft eine gute Gesellschaft oder eine angemessene Version davon vermuten kann,[15] denn andernfalls hätte die Krisenmetaphorik keinen Informationswert. Unbehagensdiagnosen der genannten Art jedenfalls suggerieren dies implizit – außer die Freud’sche Vorlage vielleicht, aus der man letztlich nur die Konsequenz ziehen könnte, dass jede höhere Vergesellschaftung der menschlichen Natur zuwiderläuft. Jedenfalls bleibt die Seite der Gesellschaft in all diesen Diagnosen merkwürdig unterbestimmt. Gesellschaft wird stark mit Kollektivität assoziiert, mit einem mehr oder weniger politischen Raum des Zusammenhalts und möglicher Solidarität. Man könnte all dies nun soziologiehistorisch rekonstruieren und etwa zeigen, wie bei Émile Durkheim oder auch bei Talcott Parsons oder Norbert Elias, erst recht bei Jürgen Habermas ein Steigerungsverhältnis von gesellschaftlichen und individuellen Komplexitätsanforderungen beschrieben wird, mit starken Implikationen für Überforderungen und Krisendiagnosen.[16]
Worum es in diesem Buch geht, ist nicht eine Wiederholung dieser Diskussion, erst recht nicht als Klassikerexegese. Worum es hier geht, ist eine tatsächlich gesellschaftstheoretische Überforderungsdiagnose, die weniger aus dem Steigerungsverhältnis von gesellschaftlicher Komplexität und individueller Informationsverarbeitung dann Überforderungsdiagnosen am Individuum selbst festmacht – ganz in der Tradition eines überforderten Selbst wie bei Ehrenberg und Reckwitz oder als Klage über den Verlust sozialer Kohäsion wie bei Taylor oder etwa in Francis Fukuyamas zivilreligiös anmutender Diagnose mangelnden Aufgehobenseins des Subjekts in einem gesellschaftlichen Ganzen.[17] Solche Diagnosen münden am Ende notwendigerweise in politische Appelle, in denen die gesellschaftlichen Strukturen selbst merkwürdig unterbestimmt bleiben. Man denke etwa an Hartmut Rosas Resonanztheorie,[18] deren einzelne Elemente durchaus etwas für sich haben, aber in der Summe geradezu ein Paradebeispiel für eine sehr voraussetzungsreiche Setzung gelingenden Lebens sind, für die die Komplexität der Gesellschaft selbst nur ein Hindernis darstellt. Das Ergebnis ist neben einer erwartbaren Kritik an Steigerungslogiken und Wachstumsimperativen eine erstaunlich bürgerliche Kritik am «Weltverstummen», die sich dafür den eher unterbestimmten Begriff der «Entfremdung»[19] ausborgt.[20] Der blinde Fleck jedenfalls ist hier die Gesellschaft, also die Frage nach der Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst und dem daraus resultierenden Unbehagen.
Die empirische Forschung über mögliches Unbehagen, über Lebenszufriedenheit, über Well-Being, hilft nur bedingt weiter. Sie ist nicht zufällig insbesondere Forschung über die angemessenen Indikatoren zur Messung von Lebenszufriedenheit. Dabei fällt auf, dass die Einschätzung der persönlichen Lebenszufriedenheit zumeist positiver ausfällt als die Einschätzung der gesellschaftlichen Gesamtlage und erheblich positiver als die Krisennarrative in der Öffentlichkeit. Obwohl diese eher zunehmen, hat sich die subjektiv erlebte Lebenszufriedenheit in Deutschland in allen Schichten erhöht, und es ist seit 2005 sogar zu einer Homogenisierung des Zufriedenheitsniveaus gekommen.[21] Es ist hier nicht der Ort, dies ausführlich zu diskutieren, aber die Literatur zu subjective well-being zeigt sehr deutlich, dass Lebenszufriedenheit einerseits stark vom Einkommen abhängig ist. Jedenfalls geht es stets um Einkommensrelationen und den wirtschaftlichen Gesamtstatus eines Landes.[22] Von besonderer Bedeutung sind andererseits auch Faktoren wie Vertrauen in das soziale Umfeld und Institutionen sowie die Gefahr des Statusverlustes – wobei Ersteres eher als erklärende Variable in wohlhabenderen Ländern, Letzteres in weniger wohlhabenden Ländern gilt[23].
Es weist einiges darauf hin, dass Lebenszufriedenheit bzw. das Unbehagen an der eigenen Lebenssituation viel mit dem Gefühl der Selbstwirksamkeit (d.h. mit dem Gefühl, aufgrund eigener Kompetenzen selbst etwas bewirken und sich eigenständig aus schwierigen Lagen befreien zu können) zu tun hat, auch viel damit, ob man das Funktionieren der gesellschaftlichen Institutionen schlicht voraussetzen kann. Wer genauer hinsehen muss, verliert Vertrauen, wer Vertrauen verliert, fühlt sich ausgeliefert, wer sich ausgeliefert fühlt, erlebt eine große Distanz zur «Gesellschaft», was das dann immer heißt.[24]
Nun sind solche Ergebnisse insofern erwartbar, als sie exakt die Semantik wiedergeben, mit der sich Personen selbst beschreiben und die ihre Lebenslage ausmacht, zumal das Konstrukt «Lebenszufriedenheit» erwünschte Antworten wohl kaum vermeiden kann. In jedem Falle, darauf weisen Untersuchungen international hin, gibt es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit, Armut und Lebenszufriedenheit,[25] was einerseits auf eines der großen sozialen Probleme verweist, aber andererseits die Grundlage der Fragestellung gar nicht erreicht: warum und wie die moderne Gesellschaft mit sich selbst überfordert ist. Soziale Ungleichheit ist ein Aspekt davon, aber nicht der einzige.
Es sollte deutlich geworden sein, dass das Motiv des «Unbehagens» an der oder in der Kultur, Zivilisation, Moderne oder Gesellschaft zumeist das Unbehagen des Individuums in und an sozialen Strukturen meint. Das ist ein gut eingeführter Topos, und er liegt nahe, wird die Gesellschaft doch spätestens mit der Individualisierung von Lebenslagen, der Etablierung von entscheidungsbasierten Lebensverläufen und nicht zuletzt der Unterbestimmung von konkreten Lebenslagen auch aus der Perspektive von Individuen erlebt und beschrieben. Das Leiden an der Welt ist dann vor allem ein Leiden an sich selbst, wie ja der Ausgangspunkt mit Freuds kulturtheoretischer Diagnose exakt das auf den Punkt bringt: Die Kritik an der modernen Kultur und dem «unpsychologischen Vorgehen des Kultur-Über-Ichs»[26] findet ihre normativen/diagnostischen Kriterien in der Natur des Menschen, nicht in der Struktur der Kultur/Gesellschaft. Und komplementär dazu verfehlt die Vorstellung einer «guten» Gesellschaft am Ideal der Kollektivität und des gesellschaftlichen Zusammenhalts die gesellschaftlichen Bedingungen des Unbehagens. Die eine Seite ist eine außergesellschaftliche Natur des Menschen, die andere das Ideal eines gesellschaftlichen Zusammenhalts ausschließlich im Sinne einer starken Großgruppenkohäsion. Beide Denkungsarten müssen den Eigensinn der Gesellschaft im Dunkeln lassen.
Meine Frage kehrt die Denkrichtung um: Sie nimmt die Frage der Selbstüberforderung der Gesellschaft ernst, sie sieht im Krisenerleben der Moderne vor allem eine Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst. Es geht hier also nicht nur um die Überforderung von handelnden Personen, von Individuen, von Menschen in einer bestehenden Gesellschaft. Es geht auch und vor allem um eine Überforderung gesellschaftlicher Handlungs-, Reaktions- und Gestaltungsmöglichkeiten, die insbesondere etwas damit zu tun haben, dass die Strukturen und die Form der Gesellschaft sich selbst überfordern. Die Gesellschaft nutzt ihre Eigenkomplexität zur Lösung von Problemen – und sie stößt gleichzeitig an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität. Das meint Überforderung mit sich selbst.
Man kann es an der COVID-Krise sehr deutlich herausarbeiten: Die Überforderung, die Unfähigkeit der Bewältigung, die Konflikte usw. kaprizierten sich nicht auf das Virus, nicht auf seine chemische/biologische Existenz, nicht auf die Virushaftigkeit des Virus, sondern auf die Gesellschaft selbst, die an sich selbst erlebt hat, dass sie ihre Routinen offenbar nicht schnell genug, nicht genau genug, nicht konsequent genug, wie auch immer, auf die Herausforderung einstellen konnte. Die öffentlichen Konflikte waren gesellschaftliche Konflikte, also Konflikte innerhalb der Gesellschaft, nicht der Gesellschaft mit dem Virus – und selbst wenn es in den Sozial- und Kulturwissenschaften inzwischen en vogue ist, die Art und Zahl der «Akteure» auch auf nicht-menschliche Akteure zu erweitern (z.B. Viren, darauf werde ich zurückkommen), bleibt es eine innergesellschaftliche Konfliktlinie bzw. ein innergesellschaftlicher Verarbeitungsprozess. Für exakt diesen Verarbeitungsprozess interessiert sich dieses Buch.
Wenn man seit nunmehr dreieinhalb Jahrzehnten sozialwissenschaftlich in der universitären Lehre tätig ist, stößt man immer wieder auf ein ähnliches Motiv, an dem junge Studentinnen und Studenten manchmal geradezu verzweifeln wollen und in dem sich ein großer Teil jenes Unbehagens ausdrückt, von dem hier gehandelt werden soll. Die Erfahrung lautet: Diese Gesellschaft hat fast alles Wissen, fast alle Ressourcen, die meisten Mittel und auch die Gelegenheit, die großen Probleme der Welt zu lösen – von sozialer Verelendung über schreiende Ungerechtigkeit bis hin zum Klimawandel oder der ökologischen Zerstörung. Und doch sieht es so aus, als sei genau das nicht möglich, obwohl es doch offenkundig möglich ist. Die Frage lautet: Wie können die Menschen, kann die Menschheit, kann die Gesellschaft so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint? Warum streben die Handelnden, obwohl sie doch die Mittel dazu hätten, nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Lösungen wahrscheinlicher machen würde?
Um dieser Art Unbehagen geht es hier, um die Frage, wie sich die moderne Gesellschaft auf selbsterzeugte Probleme einstellen kann – selbsterzeugt meint ein Doppeltes: Es sind einerseits Probleme, die direkt der gesellschaftlichen Praxis entstammen. Die Gesellschaft kann sich vollends zerstören, weil sie selbst Waffen auf einem entsprechenden technologischen Niveau erzeugt hat, die das ermöglichen; der Klimawandel und die ökologischen Schäden sind nicht «Natur», sondern Folge gesellschaftlicher Praktiken; soziale Ungleichheit ist nicht gottgegeben, sondern selbstgemacht; selbst eine Pandemie geht auf gesellschaftliche Routinen zurück. Andererseits sind es selbsterzeugte Probleme, weil gesellschaftliche Instanzen, Institutionen oder Funktionssysteme wie Politik, Wissenschaft, Bildung, Recht oder Ökonomie nur die Herausforderungen in den Blick bekommen, die sie in den Blick bekommen oder die entsprechende Aufmerksamkeit erzeugen. So sind seit Anfang 2020 bis zum Manuskriptschluss dieses Buches ca. 3,7 Millionen Menschen weltweit an COVID verstorben, in Deutschland ca. 90.000, das am stärksten betroffene Land sind die Vereinigten Staaten mit fast 600.000 Toten. Die Welt ist in Aufruhr, und es findet eine beispiellose Reaktion darauf statt. Im Vergleich dazu haben nach Daten der Welthungerhilfe im Jahr 2019.690 Millionen Menschen, das ist jeder 11. Mensch, gehungert, mit einem Schwerpunkt auf Subsahara-Afrika und dem indischen Subkontinent. Besonders betroffen sind Kinder.[27] Die Aufmerksamkeitsökonomie ist eine gesellschaftlich erzeugte Form der Selektivität von Informationen, und zugleich werden «Probleme» insofern selbst erzeugt, als sie etwa vom politischen System als «lösbare Probleme» konstruiert werden – im Rahmen dessen, was zur Verfügung steht.
Selbsterzeugte Probleme kennen auch nur selbsterzeugte Lösungen, und selbsterzeugte Lösungen kennen nur selbsterzeugte Probleme. Diese radikale Immanenz der Gesellschaft ist es, die in diesem Buch rekonstruiert werden soll. Dabei wird es nicht um die COVID-Krise gehen, die COVID- und die Klimakrise werden lediglich kursorisch als Referenzkrisen herangezogen, um zu verdeutlichen, worum es geht. Es ist kein Krisenbuch, kein Buch über die Krise oder über Krisen, es ist auch keine Zeitdiagnose mit starken Sätzen für Lösungsvorschläge – es ist ganz explizit der Versuch einer Theorie, einer Theorie der überforderten Gesellschaft. Wer das Buch gelesen haben wird, soll zumindest in die Lage versetzt worden sein, die Immanenz von Krisen und ihre Bearbeitungsform besser zu verstehen. Und er oder sie soll Krisen dann nicht mehr für vorübergehende Phasen halten, die nach ihrer Lösung verschwinden. Das würde der Immanenz der Gesellschaft widersprechen.
Was ich mit Unbehagen meine, habe ich angedeutet, ein Unbehagen daran, dass diese unfassbar leistungsfähige Gesellschaft so viel kann und doch so wenig. Dass ich das auf eine Selbstüberforderung zurückführe, habe ich auch angedeutet. Bleibt noch zu klären, dass im Untertitel nicht nur von der überforderten Gesellschaft die Rede ist, sondern von einer Theorie der überforderten Gesellschaft. Wer Theorie in den Titel schreibt, sollte sich dazu verhalten können.
Was ist eine Theorie? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. In der Soziologie gibt es dazu unterschiedliche Traditionen. In der empirischen Sozialforschung wird unter einer Theorie eine empirisch getestete Hypothese verstanden, die so lange gilt, bis sie falsifiziert worden ist. Dieser Sprachgebrauch funktioniert gut in der hypothesentestenden Sozialforschung, verschweigt aber, dass bereits die Formulierung von Hypothesen und Fragestellungen nicht beliebig ist, sondern methodisch kontrolliert erfolgen sollte. Praktisch macht man das zumeist so, dass man auf vorherige Forschung verweist, deren Kenntnis in Kombination mit einem Forschungsinteresse forschungsrelevante Fragestellungen ergibt. Aber auch hier bleibt ein Rest – nämlich mindestens die Frage nach der Methodologie oder die Frage danach, wie das Feld angemessen zu beschreiben ist, was ja auch nicht zufällig oder ganz hemdsärmelig geschehen kann, sondern irgendeine Selbstkontrolle braucht.[28] Aber so weit muss man meistens nicht gehen – die Routine des Forschens und die Erwartung von peer-reviews in Zeitschriften und Verlagen erzeugt genügend Konventionen, mit denen man dann konventionell umgehen kann. Nur wer abweicht, muss das begründen, die Wiederholung ist meistens nicht begründungspflichtig.
In der soziologischen Theorie, also dort, wo Soziologie mit dem Ziel betrieben wird, sich theoretisch zu etwas zu verhalten oder eine Theorie-Aussage zu machen, verhält es sich anders. Hier stellt sich die Frage radikaler, weil die sagbaren Sätze nicht durch selbsterzeugte Daten oder wiederholbare Methoden eingeschränkt werden. Hier ist mehr möglich, und das gereicht diesem Teil der Soziologie nicht immer zum Vorteil. Aber auch hier gibt es Konventionen. Eine der Konventionen ist die Geschichtsschreibung des eigenen Faches, die sich selbst nicht nur als ein Nacheinander von Forschungsergebnissen beschreibt, sondern vor allem als ein Nacheinander von Theorien, die meistens mit Namen belegt sind und in Lehrbüchern in eine Systematik gebracht werden. In den meisten soziologischen Instituten, die ich kenne, ist deshalb oft der Erstkontakt mit dem Fach für junge Studentinnen und Studenten eine Konfrontation mit solchen «Theorien» – von Marx über Weber und Durkheim bis Bourdieu, Parsons, Luhmann und Latour.[29] Man muss diese Klassiker kennen, das ist gar keine Frage, aber ist das Referenzspiel mit ihnen «Theorie»?
Der Literaturwissenschaftler Peter V. Zima hat jüngst ein monumentales, mehr als 1000-seitiges Werk mit dem Titel «Soziologische Theoriebildung» vorgelegt.[30] Zima rekonstruiert Theoriebildung als Geistergespräch, also als explizite und implizite Bezugnahmen von Texten aufeinander, in denen man gewissermaßen die Selbstbewegung von begrifflichen Gebäuden im Dialog von Texten rekonstruieren kann. Das ist hochgradig anregend, aber es ist typisch, dass dieser Art Theoriebildung von einem Literaturwissenschaftler stammt, also einem Textwissenschaftler, dessen Gegenstand ohnehin das dialogische Prinzip der Intertextualität ist.[31] Ich erwähne dies deshalb, weil an diesem Beispiel deutlich wird, was unter «Theorie» zu verstehen ist. Es ist die methodisch (selbst-)kontrollierte Form der Gegenstandskonstitution – wobei ich Zima gar nicht zustimmen würde. Für einen Literaturwissenschaftler ist der Gegenstand von «Theorie» jenes intertextuelle Geistergespräch, für einen Soziologen wäre das zu wenig (oder zu viel, wie immer man es sieht). Aber Zima zeigt methodisch sehr deutlich, womit sich «Theorie» befasst: mit der Frage der Gegenstandskonstitution – über die man dann durchaus streiten kann. Von dem Literaturwissenschaftler jedenfalls lässt sich lernen, dass der Gegenstand nicht da ist, sondern konstituiert werden muss. Und literaturwissenschaftlich wird er anders konstituiert als soziologisch.
Wenn also die Frage nach «Theorie» beantwortet werden soll, geht es darum, dass die Gegenstandskonstitution Gegenstand konkreter Entscheidungen ist und nicht einfach auf Konventionen gesetzt wird. Theoretische Argumente sind solche, die sich zumuten, die Gegenstandskonstitution selbst kontingent zu setzen, also etwa das Verhältnis von Begriff und Gegenstand oder die Frage nach den erkenntnisleitenden Unterscheidungen oder auch nach der Art des jeweiligen Gegenstandes reflexiv behandeln und zugleich zum Gegenstand expliziter Entscheidungen machen. Was wir sehen, hängt stark von den Kategorien, Unterscheidungen und Begriffen ab, die wir dabei verwenden. Das gilt für jegliche Art kognitiver Verarbeitung von Informationen und Daten – und das gilt in besonderem Maße für solche wissenschaftliche Operationen, die Entscheidungen darüber treffen, was sie sich überhaupt ansehen sollen.
In den Naturwissenschaften ist das manchmal insofern einfacher, als zwischen die Erkenntnis und den Realgegenstand oftmals Apparate, Messgeräte, Wahrnehmungshilfen usw. geschaltet sind. Schon die Art solcher Messgeräte beinhaltet eine Entscheidung über die Konstitution des Gegenstandes. Aus der medizinischen Diagnostik ist Ähnliches bekannt. Die Elektrokardiografie und die Echokardiografie werden beide bei der Herzdiagnostik eingesetzt – ihr Gegenstand ist das Herz, beide arbeiten nicht-invasiv, aber genau genommen konstituieren sie ihren Gegenstand unterschiedlich. Die eine Methode misst Ableitungen der durch die Herzaktivität entstehenden Ströme, die andere kann per Ultraschall Hohlräume, Blutverteilung und die unmittelbare Materialität des Herzens (etwa Herzklappen, Herzwände etc.) sichtbar machen. Nun soll hier nicht das Fach Richtung Kardiologie gewechselt werden, aber dieses sehr einfache Beispiel zeigt, dass Messgeräte bereits deutliche Entscheidungen darüber beinhalten, was an interpretierbaren Informationen verfügbar werden soll bzw. kann. Darin steckt bereits eine «Theorie» in dem Sinne, dass nicht einfach zufällig etwas detektiert wird, sondern dass es eine theoretisch kontrollierte Entscheidung ist, was man als Output des jeweiligen Messgerätes zu sehen bekommt. Entscheidend ist, dass sich die Entscheidungen letztlich nur an sich selbst scharfstellen können – sie können nur durch Annäherungswerte, durch Erfahrung, durch Anwendung wirklich sehen, was ihre Entscheidungen bedeuten, denn es kann keine Realitätsprüfung jenseits der konkreten Messung geben. Man kann sehr wohl triangulieren, also etwa ein Herz zuerst mit dieser und dann mit jener Methode untersuchen, aber das ändert nichts daran, dass der jeweilige Beobachter stets an seine eigene Perspektive gebunden ist.
Aus dieser Paradoxie kommt man nicht logisch heraus, aber ansatzweise schon durch die eigene Praxis, also in der Zeit, in der sich die Ergebnisse kondensieren und dann auch bewähren können. Entscheidend ist aber, dass solche Perspektiven Gegenstand von Entscheidungen sind. Sie beinhalten eine «Theorie» dessen, was sie tun, die sich dann nur dadurch bewähren kann, dass sie sich bewährt, dass man daran anschließen kann.
Dasselbe gilt auch für theoretische Entscheidungen in den Sozialwissenschaften. Diese arbeiten mit selbsttragenden Unterscheidungen, sie erzeugen den Blick, mit dem sie auf die Welt sehen, selbst. Sie sind stets geprägt von vorherigen wissenschaftlichen Entscheidungen, von Konventionen, von Innovationen, auch von Interessen und Bornierungen, manchmal sogar von außerwissenschaftlichen Kriterien, vielleicht sogar ästhetisch oder durch schlichte Gewohnheit. Im Falle der Sozialwissenschaften kommt noch hinzu, dass theoretische Entscheidungen Teil ihres Gegenstandes sind, weswegen man ihnen stets vorhalten kann, dass sie einer «Ideologie» folgen, verstrickt sind in ihren Gegenstand, vielleicht unaufgeklärte selektive Blickrichtungen haben, vom Standpunkt des Forschers nicht zu trennen, von Vorurteilen geprägt sind – all das stimmt und ist beim besten Willen keine besonders überraschende, auch keine besonders komplexe Diagnose. Aber auch die Einsicht in solche Standortgebundenheiten und Restriktionen ändert nichts daran, wie stark die Konstitution des Gegenstandes von begrifflichen, methodischen, theoretischen Entscheidungen abhängig ist, die ihres paradox selbsttragenden Charakters nicht entkleidet werden können – es sei denn, man trägt die Kritik der Standortgebundenheit als Kritik a priori vor und simuliert an sich selbst so etwas wie einen Standort der Standorte. Das geht auch, aber dann muss man reflexive Formen der Selbstbeobachtung durch Engagement ersetzen. Auch dafür gibt es freilich einen Markt, sogar einen akademischen, weniger einen wissenschaftlichen.
Es war nun mehrfach von Entscheidungen die Rede. Nach diesem Verständnis ist «Theorie» ein Risiko, denn Entscheidungen verweisen auf Zurechnungsmöglichkeiten. Theoretische Vorentscheidungen entlasten davon, zufällig richtig gelegen zu haben, oder von der Gefahr, falsch zu liegen. Man kann dann immer noch richtig oder falsch liegen – aber es ist nun ein Risiko, das einem zugerechnet wird. Und exakt dieses Risiko geht der Untertitel ein. Es liegt hier keine Zeitdiagnose vor, die es dem Autor und den Leserinnen und Lesern leicht macht, auch kein Debattenbeitrag in der gesellschaftlichen Krisenerzählung, gerührt vom eigenen Engagement und zielend auf die, deren Lob einem am besten gefällt. Ein politisches Pamphlet schon gar nicht.
Im Fokus dieses Buches steht dies: die Überforderung der Gesellschaft mit sich selbst, die sich in krisenhaften Selbsterzählungen äußert. Die These lautet, dass die Struktur der Gesellschaft selbst jene Restriktionen enthält, die einerseits zu einer permanenten Überforderung an selbsterzeugten Problemlagen führen, die andererseits die Basis für Lösungsperspektiven sein können. Man kann nicht daran vorbeisehen, dass die moderne Gesellschaft tatsächlich überfordert ist mit den selbsterzeugten Krisen, derer sie nur mit den eigenen Bordmitteln gewahr und habhaft wird. An der COVID-Krise und an der Klimakrise lässt es sich geradezu paradigmatisch ablesen: Die Krisenhaftigkeit dieser beiden Ereignisse zeigt deutlich, dass die Gesellschaft vor allem sich selbst als krisenhaft erlebt, dass verschiedene Perspektiven innerhalb der Gesellschaft die Krisenhaftigkeit mit ihren je eigenen Mitteln bearbeiten – denn andere haben sie nicht. Die folgenden Überlegungen gehen von der Zustandsdeterminiertheit[32] der Gesellschaft aus, also davon, dass die Gesellschaft in ihren jeweiligen Instanzen und Systemen jeweils nur mit den Mitteln arbeiten kann, die ihr zur Verfügung stehen.[33]
Ich wähle wenig überraschend eine weitgehend systemtheoretische Vorgehensweise[34] – eine Perspektive, mit der ich schon lange arbeite und deren sozial- und gesellschaftstheoretisches Design einen eminent empirischen Zugang eröffnet.[35] Sie interessiert sich dafür, wie sich Ordnung innerhalb von Systemen und in ihrem Verhältnis zur Umwelt in je eigensinnigen Prozessen aufbaut. Sie interessiert sich dafür, wie die interne Differenzierungsform der Gesellschaft die gesellschaftsinternen Verarbeitungsregeln von Informationen und Handlungsmöglichkeiten prägt. Sie interessiert sich dafür, wie eine solche Gesellschaft Probleme imaginiert, die sie lösen kann, und wie sie mit eher unbestimmten Herausforderungen umgeht. Wahrscheinlich wird man von «Krisen» dann sprechen, wenn der gesellschaftlichen Praxis auffällt, dass sich bestimmte Ereignisse und Vorgänge nicht in habitualisierte und institutionalisierte Reaktionsroutinen einordnen lassen. Dann muss von der bloßen Auswahl von Entscheidungsalternativen auf Entscheidung unter Bedingungen von Unsicherheit umgestellt werden. Zugleich muss Sicherheit wiederhergestellt werden. Eine solche Theorie lässt sich von dem Satz leiten, dass Systeme nur sehen, was sie sehen können, aber nicht sehen, was sie nicht sehen können. Es geht darum, «daß jede Beobachtungsoperation eine eigentümliche Kombination von Blindheit und Sicht ist […] und daß es die Blindheit für Bestimmtes ist, die Sichten auf Bestimmtes eröffnet, und daß diese Sichten ohne Blindheiten nicht zustandekämen.»[36] Diagnosen, Pamphlete, Streitschriften, Kritik gerieren sich oft, als könnten sie von der narrativen Position eines auktorialen Erzählers her argumentieren. Ein auktorialer Erzähler erzählt von außen, kann alle Elemente der Erzählung kontrollieren, sie hin und her schieben, sich Konstellationen imaginieren und Relationen festlegen.[37] Man könnte sagen: Wunsch und Wirklichkeit fallen hier zusammen. So zu erzählen, wäre eine insuffiziente theoretische Entscheidung. Die hier zugrundeliegende Theorie rechnet hingegen mit der Eigendynamik ihres Gegenstandes, und sie ist nicht auktorial, sondern folgt eher der Perspektive eines Beobachters, der selbst im Gegenstand vorkommt und seine ganz eigene Blindheit besitzt – eine Blindheit, die es ihm ermöglicht, die Entscheidung als eine Selektivität zu behandeln. Man kann die Dinge auch anders beschreiben. Erst das gibt der konkreten Beschreibung überhaupt einen Informationswert.
Die nachfolgenden Analysen gehen also das Risiko «Theorie» ein, d.h. sie kontrollieren ihren Gegenstand und ihre empirischen Aussagen an sich selbst – was übrigens auch dem Gegenstand selbst entspricht, dessen multiple, gleichzeitige, polyphone Eigendynamiken exakt das tun: ihre Möglichkeiten an sich selbst scharfzustellen. Deshalb ist die erkenntnisleitende Hypothese, die moderne Gesellschaft sei vor allem mit sich selbst überfordert, der entscheidende Zugang zu den nachstehenden Überlegungen – was immer dieses «Selbst» sei, das man narrativ so schön als ein Wir oder als das entsprechende Prädikat im «kollektiven» Handeln ansehen kann und dem man dann einen solidarischen Zusammenhalt wünscht.
Gerade weil das «Selbst» offen ist und aus analytischen Gründen auch zunächst offenbleiben muss3839sinderzeugt