Imprint
Polyamorie. Elastische Herzen
Sina Muscarina
Das vorliegende Buch wurde als Masterarbeit an der Universität Wien, Fakultät für Psychologie verfasst unter dem OriginalTitel: „Polyamorie. Mehr als eine Liebe. Eine biographische Studie über nicht-monogame Beziehungskulturen.
Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2014 Sina Muscarina
Coverfoto: Atma Natalia Stech www.atmastech.com
Coverdesign: Chris Husek www.christianhusek.com
Lektorat: Johanna Vedral www.schreibstudio.at
ISBN 978-3-7375-6795-4
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“
Theodor W. Adorno
„Minima Moralia“
(1951)
Das Lebenskonzept der monogamen Zweierbeziehung wird auch innerhalb der Mainstream-Psychologie und Psychotherapie nur selten in Frage gestellt. Allerdings wird das Konzept der Polyamorie seit etwa zehn Jahren auch im deutschen Sprachraum doch breiter diskutiert. Es erschienen zahlreiche Ratgeber und Artikel in Frauenzeitschriften. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch nennt in einem Interview Polyamorie als eine der Beziehungsformen der Zukunft. [1] Polyamorie steht für ein Beziehungsgeflecht, in dem mehrere Liebesbeziehungen verantwortungsvoll, offen, und verbindlich gleichzeitig entwickelt und gelebt werden.
Innerhalb der Mainstream-Psychologie und Psychotherapie kommt die Erforschung alternativer Lebensformen oft zu kurz oder wird negativ bewertet. Mich interessiert besonders die Sichtweise und die Lebenspraxis von Menschen, die nicht konventionelle Beziehungsformen wie Polyamorie führen, und ich will sie jenseits von traditionellen hegemonialen Bewertungen und Strukturalisierungen erforschen.
Für die vorliegende Untersuchung wurde die biographische Methode mittels narrativer Interviews nach Schütze („Biographieforschung und narratives Interview“, 1983) gewählt, weil mit dieser Methode die Einflüsse auf die Bildungsprozesse eines Individuums in einem speziellen Kontext samt ihrer dazugehörigen Zeitdimension sehr gut beleuchtet werden können. Interviewpartner wurden über zwei deutschsprachigen Foren zum Austausch über Polyamorie (www.polyamory.ch und www.polyamory.at) gefunden. Als Auswahlkriterium war wichtig, dass die Interviewpartner bereits längere Zeit in polyamoren Beziehungen lebten, um biographische Prozesse hinsichtlich Polyamorie erfassen zu können.
Das erste Kapitel befasst sich mit der Eigenart der pointiert monogamen Bindungsform im Gang der Ausprägung der okzidentalen Lebenswelt. Ins Zentrum rückt das Primat der Bindung, die gesellschaftliche Regulierung und Normierung einer auf Monogamie eingeschworenen Sexualität. Anschließend werden die aktuellen Leitbilder der Psychologie und Partnertherapie dargestellt, um den mononormativen Bias in der Psychologie aufzuzeigen. Dazu werden zentrale sekundäranalytische Studien in einer knappen Übersicht vorgestellt. Der leitende Gesichtspunkt ist die Mononormativität in wissenschaftlichen Studien über Partnerschaften und innerhalb der Psychotherapie. Eine polyamoröse Kultur wird unter anderem in Anlehnung an und Abgrenzung zu wissenschaftlichen Theorien über Beziehungen erörtert, welche einen Bias hinsichtlich einer mono-normativen Perspektive aufweisen.
Das zweite Kapitel führt in Geschichte und Definition von Polyamorie ein, beschreibt mögliche Konfigurationen in polyamourösen Beziehungen und gibt einen Überblick über die Literatur zur Polyamorie, die vorwiegend in der Form von Selbsthilfebüchern, Erfahrungsberichten oder gesellschaftspolitischen Erwägungen zum Thema Mehrfachbeziehungen vorliegt und zum großen Teil aus dem englischen und amerikanischen Sprachraum stammt. Ein Unterkapitel über Polyamorie und Liebe beschreibt die Liebesstile nach John Alan Lee und referiert Luhmanns systemtheoretische Sicht auf die Liebe.
Im dritten Kapitel wird der Forschungsprozess reflektiert, die Entstehung der Forschungsfragen geschildert, der Feldzugang dokumentiert, die Auswahl der Interviewpartner begründet, sowie der Prozess der Datenerhebung erläutert.
[1] Ageeth Veenemans : Volkmar Sigusch über Sexualität und Polyamorie (2011), online im Internet, URL: http://www.polyamorie.net/volkmar-sigusch-%C3%BCber-sexualit%C3%A4t-und-polyamorie (24.7.2011)
[2] Der Terminus Heteronormativität umschreibt Heterosexualität als Machtverhältnis, das wesentliche gesellschaftliche und kulturelle Bereiche involviert, er beschreibt die fundamentale Bedeutung heterosexualisierter Geschlechterbeziehung für gesellschaftliche Prozesse und Institutionen (vgl. Hartmann & Klesse 2007). Heteromononormativität ist die Vorgabe, mit ausschließlich einem Partner eine Liebesbeziehung zu unterhalten. Mit diesem Begriff werden Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft definiert, die sich durch die Bevorzugung der monogamen Paarkultur ergeben. Daraus kann eine Stigmatisierung von sexuellen Minderheiten entstehen (Klesse 2007).
[3] „Queer“ bezieht sich auf häretische Dinge, Handlungen oder Personen (Jagose, 2001).
[4] Schwendter (1971) hat Studien über Subkulturen und alternative Lebensformen publiziert. Dort definiert er den Begriff einer Subkultur als Lebensform eines zusammenhängenden Personenkreises mit gemeinsamen Werten, Normen, sozialen Strukturen und Verhaltensweisen, die von jenen der dominanten Mehrheitskultur erheblich abweichen. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, wer in einer Gesellschaft die Definitionsmacht besitzt, die darüber bestimmt, welches Verhalten von gesellschaftlichen Normen abweicht und welches nicht. So wie Schwendtner vertritt auch Cohen in seiner Theorie der Subkulturen die Ansicht, dass Subkulturen kollektive Reaktionen auf Anpassungsprobleme sind. Diese Probleme entstehen aufgrund gesellschaftlicher Widersprüche, zu denen die vorhandene Kultur keine ausreichenden Lösungsmodelle zur Verfügung stellt (Hecker 2002).
[5] Bateson propagiert die epistemologische Produktivität unterschiedlicher Subjektperspektiven als Differenzinformation (Breuer 2003).
[6] Eine Freundschaft, die auch Sexualität beinhaltet, URL: http://en.wiktionary.org/wiki/friendship_with_benefits (8.1.2013)
[7] „Don‘t ask – don‘t tell-agreement“ ist ein Begriff, der ursprünglich aus dem US-Militär hinsichtlich homosexueller Beziehungen verwendet wurde; er bezieht sich in diesem Kontext auf ein Übereinkommen zum Verschweigen von sexuellen Außenbeziehungen. Es wird nicht danach gefragt und es wird auch nicht davon erzählt.
[8] Ein minimaler Kontrast zeigt sich auch hinsichtlich des Alters: Ellen ist zum Zeitpunkt des Interviews 34 Jahre und Walter 44 Jahre alt.
[9] Der Begriff Empowerment im Sinne von “Selbstermächtigung, Selbststärkung” (Bröckling, 2007, p. 180) beschreibt unter anderem einen Prozess der Transformation auf individueller Ebene, die als Resultat die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten und Veränderungen von Machtverhältnissen im Leben mit sich bringen.
[10] Neologismus aus sapere (lat. wissen) und Sexualität (von lat. sexus). Sexuelle Orientierung, die sich vorwiegend am Intellekt einer anderen Person festmacht.
[11] Shibari ist eine erotische japanische Kunst des Fesselns mit hohem künstlerischem Anspruch.
[12] Bondage bezieht sich auf Praktiken der erotischen Fesselung
[13] Verpflichtung zur ständigen Arbeit an der Reformierung und Optimierung der Persönlichkeit mit Hilfe von diversen Psychotechniken wie Therapie, Selbsterfahrung oder Gruppentherapie.
[14] Psychologische Resilienz definiert die Fähigkeit einer Person auf außergewöhnliche Belastungen ohne psychische Folgeschäden zu reagieren. Diese Widerstandskraft scheint zum Teil erlernbar (Vgl. Wieland, 2011, p. 181).
[15] Polynormativität: Eine Form der Normativität innerhalb Diskursen um Polyamorie, die zum Teil rein sexuelle nicht-monogame Beziehungskulturen abwertet. Diese Abwertung scheint ihre Wurzel im romantischen Liebesdiskurs zu haben, der unter anderem Sexualität nur als positives Element beleuchtet, wenn sie mit Liebe vereint ist. (Vgl: Wilkinson, 2010 & Lenz, 1998 & Klesse 2013 & Mayer, 2011)
[16] Umwertung von Werten: Ein von Nietzsche geprägter zentraler Begriff innerhalb der Moralkritik, welcher Werthaltungen als relativ kennzeichnet und von daher in ihrer Perspektive auf das jeweilige Herrschaftsgefüge ausgerichtet (Vgl. Höffe, 2004, p. 1-15).
[17] Es zeigen sich Kennzeichen eines Empowermentprozesses: Der Begriff Empowerment im Sinne von “Selbstermächtigung” (Bröckling, 2007, p. 180) beschreibt unter anderem einen Prozess der Transformation auf individueller Ebene, die als Resultat die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten und Veränderungen von Machtverhältnissen im Leben mit sich bringen: “ Am Anfang von Empowermentprozessen steht demnach meist eine als traumatisch erfahrene Bedrohung der alltäglichen Lebenszusammenhänge: Oft sind einschneidende und schmerzhafte Erlebnisse […] die ersten Auslöser dafür, sich gegen ein vermeintliches Schicksal zu wehren und aktiv zu werden. Diese Mobilisierungsphase […] ist gekennzeichnet durch Verunsicherung und erste vorsichtige Exploration der eigenen Möglichkeiten. Auf sie folgt eine Phase, in der erste Fortschritte sichtbar werden, der Entwicklungsprozess aber der Unterstützung von außen bedarf.“ (Bröckling, 2007, p.199)
[18] Diskretion (auch Lüge) wird in einer Ehe grundsätzlich als stabilisierend und als der Verbindung zuträgliches Element ersichtlich: „Wenn etwa jeder der Gatten an Wirrnissen, Schwierigkeiten, Unzulänglichkeiten leidet, aber diese gleichsam auf sich zu lokalisieren versteht, während er in das eheliche Verhältnis nur sein Bestes und Reinstes hineingibt und es von allen Abzügen der Person freihält […] erhebt sich daraus doch das Gefühl, dass die Ehe etwas […] an sich Wertvolles ist“ (Simmel, 1993b, p. 352f zit. n. Gottwald 2008)
In ihren „Streifzügen durch die Sittengeschichte“ betonen von Bredow & Noetzel (1990), dass politische Ordnungen immer auch die Sexualität regulieren: Was man darf und was verboten ist, wird in gesellschaftlichen Diskursen bestimmt. Die Regelungen im Sozialen beginnen mit der Regulierung der Sexualität. So gehören als Beispiel das Inzest-Tabu und andere Normierungen des Fortpflanzungsverhaltens zur Basis sozialer Normen.
Michel Foucault beleuchtet das Thema Sexualität aus einer historischen Perspektive. Er ist diskursanalytisch orientiert und seine Analysen gehen geschichtlich vor. In seinem 1976 veröffentlichten Werk „Der Wille zum Wissen“ charakterisiert er die historische Entstehung des „Dispositiv[s] der Sexualität“ (Foucault 1983, p. 95). Foucault zeichnet die Diskurse über Sexualität geschichtlich innerhalb Europas nach.
Mit dem Begriff „Diskurs“ benennt Foucault unter anderem verstrickte Machtbeziehungen:
„Eben weil sich Macht und Wissen im Diskurs ineinander fügen, ist dieser als eine Serie diskontinuierlicher Segmente zu betrachten, deren taktische Funktion weder einheitlich noch stabil ist. Genauer: die Welt des Diskurses ist nicht zweigeteilt zwischen dem zugelassenen und dem ausgeschlossenen oder dem herrschenden und dem beherrschten Diskurs. Sie ist als eine Vielfältigkeit von diskursiven Elementen, die in verschiedenartigen Strategien ihre Rolle spielen können, zu rekonstruieren.“ (Foucault 1983, p. 122)
Nach Foucault lassen sich vom 18. Jahrhundert an, „vier große strategische Komplexe […] unterscheiden, die um den Sex spezifische Wissens- und Machtdispositive entfalten.“ (Foucault 1983, p. 125) Diese Komplexe sind nicht gleichzeitig entstanden, sie verfolgen auch kein einheitliches Ziel, sondern sie haben sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem dynamischen Machtkomplex zusammengefügt.
Die vier Dispositive, die Foucault aufdeckt, sind folgende:
„Die Hysterisierung des weiblichen Körpers ist ein dreifacher Prozess: der Körper der Frau wurde als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert – qualifiziert und disqualifiziert; aufgrund einer ihm innewohnenden Pathologie wurde dieser Körper in das Feld der medizinischen Praktiken integriert; und schließlich brachte man ihn in organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper […], mit dem Raum der Familie […], und mit dem Leben der Kinder […]:“ (Foucault 1983, p. 126)
Neben der Hysterisierung des weiblichen Körpers ist ein zweiter Wissens- und Machtkomplex entstanden, der kindliche Sexualentwicklung anvisiert:
„Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes geht von der zweifachen Behauptung aus, dass sich so gut wie alle Kinder sexueller Aktivität hingeben oder hingeben können und dass diese ungehörige (sowohl ,natürliche‘ wie auch ,widernatürliche‘) sexuelle Betätigung physische und moralische, kollektive und individuelle Gefahren birgt;“ (Foucault 1983, p. 126)
Als dritten Bereich arbeitet Foucault die Sektoren Ökonomie, Politik und Medizin heraus, die sich zu Institutionen entwickeln, welche Sexualität als Fortpflanzungsverhalten regulieren:
„Die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens vollzieht sich als ökonomische Sozialisierung über ,soziale‘ oder steuerliche Maßnahmen, welche die Fruchtbarkeit der Paare fördern oder zügeln; als politische Sozialisierung durch Weckung der Verantwortlichkeit gegenüber dem gesamten Gesellschaftskörper […]; als medizinische Sozialisierung, die den Praktiken der Geburtenkontrolle krankheitserregende Wirkungen für Individuum und Art zuschreibt.“ (Foucault 1983, p. 127)
Und schließlich wird der Fokus wieder auf die Medizin geleitet, die unterscheidet, was normale und was pathologische Sexualität ausmacht:
„Und schließlich die Psychiatrisierung der perversen Lust: der sexuelle Instinkt ist als autonomer biologischer und psychischer Instinkt isoliert worden; alle seine möglichen Anomalien sind isoliert worden; man hat ihm eine normalisierende und pathologisierende Rolle für das gesamte Verhalten zugeschrieben; schließlich hat man nach einer Korrekturtechnik für diese Anomalien gesucht.“ (Foucault 1983, p. 127)
Für meine Arbeit ist Foucault insofern relevant, als er den historischen Rahmen absteckt, in dem die Diskurse über Sexualität angesiedelt sind. Er zeigt, dass unter anderem Medizin, Psychologie und Psychotherapie die relevanten Disziplinen sind, deren Worte zum Thema Sexualität Bedeutung haben. Dabei ziehen diese Wissens- und Machtkomplexe nicht an einem einheitlichen Strang, sondern sie streiten innerhalb ihrer Disziplin genauso wie untereinander, sie gehen strategische Schulterschlüsse ein und lösen diese wieder, und sie reflektieren oft die vielfältigen Machtverflechtungen nicht, in denen sie verstrickt sind.
Nach dem Erscheinen von Foucaults „Der Wille zum Wissen“ (1976) gab es einige sexualpolitische Entwicklungen. In den westlichen Staaten gab es einerseits Liberalisierungstendenzen, die eine ökonomisch-rechtliche Gleichstellung von nichtverheirateten Paaren genauso ermöglichte wie die homosexueller Paare, andererseits blieben bestimmte Ideale wie die der Monogamie und der Fixierung von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität weitgehend unangetastet. Die Fixierung von biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität zeigt sich beispielsweise bei Transvestismus und Transsexualität. In verschiedenen Cultural Studies (Vgl. Marchart 2008, Posner 1993) setzen sich die Autoren ausführlich mit den Phänomenen Transvestismus und Transsexualität auseinander. Wie Posner (1993) betont, existiere das Phänomen des Transvestismus nur, weil die Gesellschaft einen unterschiedlichen Dress-Code für Männer und Frauen vorschreibe. Würden Männer auch Kleider tragen dürfen, gäbe es die Kategorie „Transvestismus“ nicht.
Die Ordnung der Menschen in die Dichotomie von männlich und weiblich und die Paarbildung von Menschen unterschiedlichen Geschlechts (Heterosexualität) sind fundamentale Elemente unserer Konstruktion einer gesellschaftlichen Realität, ebenso wichtig zeigen sich stabile sexuelle Identitäten. Diese gesellschaftliche Realität fürchtet Transvestismus, Hermaphroditismus und Homosexualität, weil sie die Fundamente unserer gesellschaftlichen Realität öffentlich in Frage stellen (vgl. Posner 1993).
Welches Sexualverhalten eine Gesellschaft als normal etikettiert, hat immer auch mit der Öffentlichkeit unterschiedlicher sexueller Anschauungen zu tun:
„Herstellung von Öffentlichkeit lag immer im Interesse von sexualpolitisch unzufriedenen Minoritäten, deren stärkste unzweifelhaft die weiblichen Menschen gewesen sind. Was öffentlich geworden ist, kann als normal betrachtet werden. Uns liegt an der Normalität als einem radikalen Zustand der Vergesellschaftung, der Schluss macht mit der Einsamkeit, in der ich mich allein, als pervers, nymphoman oder gar verrückt definieren müsste.“ (Katharina Rutschky 1984, zit. nach von Bredow & Noetzel 1990, p. 45)
In diesem Sinne verstehe ich die vorliegende Arbeit unter anderem auch als Beitrag zur Herstellung von Öffentlichkeit für die Anliegen der Menschen, die Polyamorie als Liebesstil leben und vertreten.
Im Folgenden werden die aktuellen Leitbilder der Psychologie und Partnertherapie dargestellt, um den mononormativen Bias in der Psychologie aufzuzeigen. Dazu werden zentrale sekundäranalytische Studien in einer knappen Übersicht vorgestellt.
Der leitende Gesichtspunkt dafür ist die Mono-Normativität in wissenschaftlichen Studien über Partnerschaften und innerhalb der Psychotherapie. Marianne Pieper und Robin Bauer (2005) haben den Begriff der „Mono Normativität“ (Pieper M., Bauer R., 2005, p. 66) entworfen, um die gesellschaftliche Hegemonie der Förderung einer monogamen Paarkultur hervorzustreichen. Dieser Begriff definiert Machtverhältnisse im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs, die sich durch die Bevorzugung der monogamen Paarkultur ergeben. Daraus kann unter anderem eine Stigmatisierung von sexuellen Minderheiten (vg. Klesse 2007) entstehen.
In diesem Sinne definieren Sozialpsychologen und Konstruktivisten das Entstehen einer persönlichen Identität vorwiegend über soziale Interaktionen und im Hinblick auf die in einer Gesellschaft dominanten kulturellen Werthaltungen (vgl. Barker 2005). Barker und Ritchie (2003) reflektieren die Konstruktion von dominanten Leitbildern und Wertvorstellungen hinsichtlich Partnerschaftsformen in unserer westlichen Kultur anhand von Filmen, Pop-Songs und psychologischer Literatur und Forschung über Partnerschaften. Die Hauptelemente dieser Konstruktion sind, dass das erstrebenswerte Ideal der sexuellen Beziehungen heterosexuell und monogam sein soll.
Das Klischee, dass man nicht zwei Menschen zur gleichen Zeit lieben kann und keine Parallelbeziehung eingeht, wenn man in der Partnerschaft glücklich ist, hat in unserem westlichen Kulturkreis eine besondere Bedeutung (vgl. Griffin 2000). Diese Form von Heterosexualität wird in unserem Kulturkreis als eine stabile, dogmatische und nicht hinterfragbare Kategorie mit universeller Gültigkeit dargestellt und selten als das Konstrukt und die Erfindung einer bestimmten Kultur (vgl. Richardson 1998, zit. n. Barker & Ritchie 2003). Nicht-monogame Beziehungsformen sind nicht außerhalb des Wirkungsbereiches von Heteromononormativität bildbar und stehen unter deren Einfluss:
„The construction of the public sphere in heteronormative terms opens the possibilities for ostracising queer identities, sex, affection and relationships outside of the narrow constriction of the private sphere. […] As a result, queer sexualities (such as S/M, same-sex relationships and prostitution) may in fact be regulated by the state across the boundaries of the public/private distinction.“ (Klesse 2007, p. 134).
Jamieson (2004) sieht in ihren Forschungen aber eine Tendenz zur Lockerung dieser strengen normativen Ideale, weil das Ausleben von Sexualität außerhalb einer monogamen Partnerschaft auf mehr Akzeptanz in unserer Kultur stoße. Allerdings sei das Ideal immer noch die monogame Paarbeziehung. Um die besondere Wertschätzung der monogamen Paarbeziehung zum Ausdruck zu bringen, wird vor allem die sexuelle Exklusivität betont. Beziehungen außerhalb dieser Exklusivität nehmen die Form von heimlicher Untreue und somit Verfehlung der Partnerschaft an. Eine offene Form von nicht monogamen Beziehungen wird nicht in Erwägung gezogen (vgl. Jamieson 2004).
Im Lichte dessen definieren Reibstein und Richards (1993) die derzeit dominanten Wertvorstellungen für eine monogame Ehe.
Sie arbeiten in ihren soziologischen Studien drei Modelle für eine Ehe heraus, wie sie in unserer Kultur derzeit favorisiert und unterstützt werden:
Die Bedeutung der Aufdeckung einer heimlichen, parallelen Beziehung in diesen Ehemodellen kann im Lichte dessen verschiedene Dimensionen annehmen:
Beim Modell der alles inkludierenden Ehe bedeutet eine aufgedeckte, ehemals heimliche, parallele Beziehung, dass der Partner etwas innerhalb der Beziehung vermisst, das man ermitteln und in die Ehe integrieren sollte. Die Intention ist also die Wiederherstellung der ursprünglichen Situation und das Beenden der parallelen Beziehung, da diese als Indikator für eine Schieflage in der ehelichen Beziehung gesehen wird. Ungelöste Eheprobleme werden als die Ausgangsbasis für das Eingehen einer parallelen Beziehung gesehen.
Beim Modell der segmentierten Ehe wird die parallel zur Ehe verlaufende, meist heimliche Beziehung als etwas Isoliertes oder sogar Komplementäres gesehen, das keinerlei Auswirkungen auf die Ehe hat. Die zumeist heimliche Beziehung wird von der sie unterhaltenden Person als Bereicherung der Ehe empfunden.
Der außereheliche Partner wird in diesem Modell vorzugsweise als Objekt und Stabilisator der ehelichen Beziehung behandelt, anstatt als eigenständiges Subjekt und eigenständige Beziehung.
Im Modell der offenen Ehe wird eine Zweitbeziehung meist nur dann geduldet, wenn es sich um eine rein sexuelle Beziehung handelt und diese Beziehung keinen zu großen Raum einnimmt. Ein Verlieben in den Parallelpartner wird meist genauso als Versagen innerhalb der Ehe gewertet wie beim Alles inkludierenden Modell (vgl. ebda.). Diese Modelle lassen sich auch auf nicht verheiratete Paare ausweiten, denn es wird im Allgemeinen vorausgesetzt und erwartet, dass man sich beim Eingehen einer Partnerschaft an monogamen Modellen orientiert (vgl. Griffin 2000).
An dieser Stelle kann man deutlich erkennen, dass bei den derzeit dominanten Wertvorstellungen für eine Ehe ein Bias zugunsten der Mononormativität und einer heterosexuellen Paarkultur vorhanden ist. Auch in der Psychologie wird generell wenig Aufmerksamkeit auf nicht-monogame Beziehungsformen innerhalb der westlichen Kultur gelenkt (vgl. Barker 2005). Die Literaturanalyse zeigt deutlich: Der herrschende Mainstream über eine beziehungspsychologische Normalität in der persönlichen Entwicklung ist das Eingehen einer lebenslangen oder seriellen monogamen Partnerschaft. Dieses Konstrukt ist die „Kernfamilie“. Die heteronormative Orientierung in der Beziehungs- und Familienforschung und auch in den Sexualwissenschaften (vgl. Klesse 2007, p. 11) zeigt deutlich, dass das Ideal der Zweierbeziehung stark in der heterosexuellen Kultur verankert ist. Individuen, die aus diesem Modell herausfallen, bleiben unbeachtet oder werden diskriminiert:
„Gayle Rubin (1992) has demonstrated that heterosexuality is integrated into a wider system of sexual stratification which does not only privilege heterosexuality, but also couplehood, monogamy, marriage, and the privatisation of sexuality. According to Rubin´s analysis, sexual acts are attributed differential status depending on which identities, genders, body parts, relationship status, styles of touch, numbers of partners and emotional undercurrents are involved.“(Klesse 2007, p. 11)
Die Leitideologie in der euro-amerikanischen Literatur und Kultur ist, dass echte Liebe nur zwischen zwei Personen wirklich wahrhaftig und verantwortungsvoll stattfinden könnte und dass diese Liebe für immer sei. Dieses kulturelle Programm verbunden mit dieser Erwartungshaltung wird als „fairy-tale-syndrom“ bezeichnet (vgl. Orion 2007, p. 3), weil die Realität der steigenden Scheidungsraten und die hohe Rate an heimlichen oder tolerierten Liebes- und Sexaffären ein anderes Bild zeigen. Weiters ist die „serielle Monogamie“, das heißt das Eingehen einer exklusiven Partnerschaft nach der anderen, derzeit der am meisten bevorzugte Partnerschaftsstil. Diese Erfahrungswerte sprechen also gegen das „one person for the rest of your life“- Ideal (vgl. Emerson, zit. nach Orion 2007, p. 3).
Nicht-monogame Beziehungen sind historisch gesehen ein Kennzeichen sexueller Liberalisierungstendenzen in der westlichen Gesellschaft (vgl. Klesse 2006). Vor allem in den 60-ern und 70-ern des vorigen Jahrhunderts haben diese Liberalisierungsbewegungen die kulturellen und politischen Diskurse in vielen sozialen Bewegungen geformt. Es wurde unter anderem mit neuen bzw. alternativen Beziehungsformen experimentiert und die „Kernfamilie“ als Repressionsinstitution kritisiert. Subkulturen entstanden, die mehr Raum für andere erotische, sexuelle und intime Identitäten geschaffen haben. Vor allem die Bewegung der Homosexuellen hat ein reichhaltiges Repertoire an nicht-monogamer Sexualität und Intimität entwickelt (vgl. ebda). Der Psychotherapeut Ellis hat erstmals 1958 sein Werk „Sex without guilt in the 21st century“ publiziert, bei dem er unter anderem in einem Kapitel über seine Erfahrungen mit der Zensur seines Buches aufgrund seiner sehr liberalen Einstellung zu Sex und Beziehungen spricht. In diesem Buch beschreibt er die Entstehung von neuen Formen nicht-monogamer Beziehungen und spricht sich für einen Wertepluralismus in persönlichen Beziehungen aus:
„Being passionately in love with two people simultaneously often leads to complications in our culture. But the fact remains that few individuals passionately love only one person for their entire lifetime. Many are deeply in love several times during their lives and in some of these instances they passionately love two or more persons simultaneously“ (Ellis 2003,p. 124)
Rogers hat 1972 sein Werk „Becoming Partners“ publiziert, in dem er wertneutral über ein Experiment einer offenen Ehe berichtet:
„When you have an internal center of evaluation, it is this […] type of judgement on which you rely and which guides your next behaviours. It also implies that you are not governed by the „shoulds“ and „oughts“ which all aspects of our culture are so ready to substitute for the values you are discovering in and by yourself.“ (Rogers, 1972, p. 208)
Rogers plädiert hier für ein Wertesystem, das sich nicht an den Restriktionen unserer normativen Gesellschaft orientiert, sondern an einem jeder Person innewohnenden, davon unabhängigen Wertesystem.
Die Partnertherapeuten Nena und George O´Neill publizierten 1972 ihr Buch „Open Marriages“, in dem sie empirische Studien mit Personen, die unter anderem nicht-monogame Beziehungsformen führten, durchgeführt haben (Robbins 2005, Keener 2004).
Nach einem Aufbruch in den 1960er Jahren sind zwei Dekaden später in der Literatur spürbare Tendenzen zur Restauration älterer ordnungsökonomischer und ordnungspolitischer Vorstellungen zu verzeichnen. Das gilt im Besonderen auch für die Zurückdrängung von Experimenten im Umkreis des Austestens nicht-monogamer und nicht-institutionell zentrierter Lebensformen. Eine politisch und ökonomisch motivierte Abwertung der Alternativen fand im Zeichen der Rückkehr zu konventionellen Lebensformen statt (vgl. Rubin 2001, Keener 2004, Robbins 2006, Barker 2004 u.a.). Wilske (2006) sieht in diesem in den 80er Jahren aufgekommenen geistigen Klima, das dazu tendiert, die 68er-Bewegung häufig negativ zu beurteilen (in Presse und Literatur), einen weiteren Hinweis für diesen „Rollback“ (Restauration alter Werte) in der Herstellung von Wertorientierungen. Auch Kröll (2009) bestätigt, dass es in den 1980ern eine massive kulturelle Restaurationsbewegung hinsichtlich der traditionellen Institution der ehezentrierten Kernfamilie gegeben hat. Ausgehend von den USA ist in der Zeit der Reagan-Ära versucht worden, eine Stabilisierung der sozialen Ordnung zu schaffen, die während der Zeit der 68er-Bewegung ins Wanken geraten war.
Kritische Sozialwissenschaftler konnten feststellen, dass der ursprünglich rege Forschungsstrom zu verschiedensten Werthaltungen während der 80er zum Versiegen kam (vgl. Harrisons & Huntington 2004). Im Werk des Soziologen George Gilder hat dieser Trend seinen Ausdruck und seine öffentliche Unterstützung gefunden, im Sinne von Restaurationstendenzen der vorherrschenden Mainstream-Kultur (Hecker 2002). Gilder, ein Unterstützer der amerikanischen republikanischen Partei, für die er auch Reden verfasste, kritisierte den Feminismus und die sexuelle Liberalisierung, indem er unter anderem damit argumentierte, dass diese liberalen Tendenzen die sozialisierte Position von Männern als Väter und finanzielle Unterstützer untergraben, und somit im weiteren Sinne auch den Kapitalismus unterwandern (vgl. Kröll 2008). Forschungen und Bücher zu alternativen Lebensvorstellungen werden vorwiegend im Eigenverlag oder in Kleinverlagen gedruckt, was konkret auch bei Literatur zu nicht-monogamen Beziehungen festgestellt werden kann (vgl. Robbins 2005):
Robin und Bauer (2006) sehen Forschungen zu nicht-monogamen Beziehungen zu einem grossen Teil ausgeschlossen aus dem Wissenschaftsdiskurs, weil der wissenschafliche Fokus einen Bias zugunsten der Erforschung monogamer Beziehungswelten nachweist.
„Non-monogamous patterns of intimacy as a valid way of relating continue to be largely excluded from the social scientific discourse, since theories of and research on primary relationships are rooted in a mono-normative perspective.“ (Robin M. & Bauer R., 2006, p.?)
Harrisons und Huntingtons Buch „Streit um Werte“ (2004) kann unter anderem als Beispiel für jene Restaurationstendenzen im Zuge einer Sorge um soziale Stabilität interpretiert werden. In einer darin veröffentlichten Studie von Edgerton ist unter anderem ein Plädoyer für alte ökonomische und soziale Stabilitätswerte herauszulesen, unter anderem auch für die Erhaltung der ehezentrierten Kernfamilie:
„Der Glaube, […] dass das Leben früher idyllischer war als heute und dass die Menschen ein Gemeinschaftsgefühl hatten, das ihnen verloren ging, spiegelt sich nicht nur in Filmen und Romanen unserer populären Kultur, sondern ist auch im Gelehrtendiskurs tief verankert. Dieser Auffassung zufolge ist menschliches Elend die Folge des Zerfalls der Gesellschaft […], von Klassenkämpfen und konkurrierenden Interessen, die große Gesellschaften […] plagen.“ (Edgerton in Harrison & Huntington 2002, p. 190)
Im Zuge dessen ist auch in der Psychologie ein massiver Rückgang in den Forschungen zu alternativen Lebensstilen festzustellen, d.h. es gibt einen akademischen Bias zugunsten der Monogamie und der Kernfamilie als Norm in der Psychologie (vgl. Keener 2004). Robbins (2005) erklärt hierzu:
„The lack of research may reflect biases supposedly moral and ethical, and may additionally indicate a shortage of funding and support for the investigation of polyamorous relationship practises.“ (Robbins, 2005, p. 8)
Es wird hier deutlich, dass Möglichkeiten alternative Lebensformen zu erforschen, beschnitten werden können, sowohl durch einen ethischen Bias als auch finanzielle Grenzen durch fehlende Forschungsgelder. Rubin (2001) erklärt das fehlende Interesse folgendermassen:
„A lack of research funding and limited academic rewards for examining personal and family choices that are often viewed as being at odds with achieving status, acceptance, and success in contemporary society may be an[…] explanation.“ (Rubin, 2001, p. 712)
Jackson (2003) und Barker (2005) erklären dieses Phänomen unter anderem in einer möglicherweise bedrohlichen Wirkung, die diese Lebensformen auf die als stabil angenommenen sozialen Werthaltungen ausüben, denn alternative Lebensformen wie nicht-monogame Lebensformen problematisieren und hinterfragen die dominante Art, über Beziehungen zu denken, und werden daher entweder dämonisiert oder verdrängt. Bei dieser Form eines Umgangs mit einem Konflikt kann das Interesse der Aufrechterhaltung von bestehenden Machtstrukturen gelten (vgl. Wimmer 2005). Demzufolge gibt es in der Paradigmenbildung der okzidental orientierten Sozial- und Kulturforschung eine meist implizite Tendenz, den Konflikt im Namen einer Ordnungsharmonie abzuwerten, das heißt ihn als zerstörerisches Element für die hegemoniale soziale Ordnung und deren reibungsloses Funktionieren zu interpretieren (vgl. Coser 1956 zit. n. Wimmer 2005).
Die Ursache von Fehlverhalten wird in der Psychologie meist in der Psyche der Individuen gesucht und soll durch Integration und Einfügen des Individuums in die soziale Ordnung behoben werden. Integration geschieht hier durch Normierungen und Therapie, um soziale Gesundheit zu ermöglichen. Die Aufrechterhaltung der strukturellen Ordnung im Sinne einer Stabilität wird als positiv erachtet, die negativen Konsequenzen eines vielleicht zu starren Systems oder die positiven Potenziale zur Veränderung des Systems werden nicht ins Auge gefasst. Ein Konflikt wird per se als Abweichung gesehen, aus dem Bild einer funktionierenden Gesellschaft ausgegrenzt und auf individuelles Fehlverhalten reduziert (vgl. Wimmer 2005).
Vor diesem Hintergrund wird die Konfliktbewältigung innerhalb einer Beziehungsstruktur nicht als Trigger zum Wandel von Bedingungen vorgenommen, sondern als Hinweis zur Wiederanpassung und Eingliederung der Individuen an die Normen vorgegebener Strukturbedingungen. Coser thematisiert den Konflikt aber als Chance zu einem soziokulturellen Wandel von Strukturbedingungen, die mitunter auch krank machen können (vgl. Wimmer 2005). In der Psychologie kann so eine Tendenz gesehen werden, alternative Lebensformen als problematisch und abnormal zu porträtieren (vgl. Rubin 2001). Nicht-monogame Lebensformen werden in unserer Kultur in der Regel ausgeblendet, und in den wenigen Fällen, wo sie zur Sprache gebracht werden, liegt der Fokus meist darauf, diese Lebensformen als seltsam oder dysfunktional zu präsentieren (vgl. Barker 2005).
Anderlini-D’Onofrio (2005) stellt fest, dass westliche Kulturen Monogamie mit der Fähigkeit zur wahren Liebe verknüpfen würden. Dementsprechend sei in der Literatur eine Tendenz festzustellen, sich gegenüber nicht-monogamen Kulturen aus diesem Grund überlegen zu fühlen – gelegentlich begleitet von einer unterschwelligen Tendenz, diese zu beneiden. Es gibt nur wenig wissenschaftliche Literatur über positive Aspekte von nicht-monogamen Beziehungen. In ihrer Literaturanalyse stellt Robbins (2005) fest, dass die wissenschaftliche Literatur über nicht-monogame Beziehungen hauptsächlich die negativen Aspekte dieser Lebensform herausgreife und typischerweise einen ganz bestimmten kulturellen, religiösen oder sozialen Kontext als Norm präsentiere (vgl. Robbins 2005). Orion (2007) assoziiert hier einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung von nicht-monogamen Beziehungen und der negativen Bewertung von patriarchaler Polygynie durch unsere Kultur. Nicht-monogame Beziehungen werden als etwas gesehen, das nur Männern als Unterdrückern der Frau zugute kommt und nicht als etwas, das auch Frauen zu gute kommen kann.
Masson (1988) kritisiert, dass auch die Psychotherapie nicht immun sei gegen politischen und ideologischen Druck. Menschen, die versuchen würden, nichtkonformistisch zu leben, würden Gefahr laufen, unter Umständen in bestimmte Kategorien für Abweichungen von der Norm eingeteilt zu werden, oder veranlasst werden, sich an die vorherrschende Norm anzupassen. Psychotherapie könne unter anderem auch als Ausdruck der vorherrschenden Meinung in einer Gesellschaft gesehen werden. Einen weiteren Hinweis dafür, dass die Psychotherapie einen stabilisierenden Einfluss auf die Erhaltung dominanter Leitbilder unserer Kultur bieten könnte, liefert Ernst Bornemann (1997) mit seiner Kritik am Boom der Psychogruppen seit den 70ern: Durch die Reduktion auf das Subjekt in diesen Gruppierungen werde die Gesellschaft entpolitisiert. Es sei eine Illusion, dass die gesellschaftsbedingte Entfremdung und Fassadenhaftigkeit durch die Begegnung in einer Psychogruppe verändert werden könne. Die Energien, die in einer Psychogruppe entfacht werden, gingen unter anderem gesellschaftsverändernden Zwecken verloren, weil so das Anliegen des Klienten kurzfristig gemindert und auf ein persönliches Problem reduziert werde. Es bliebe daher die Illusion aufrecht, dass die Probleme des Klienten größtenteils privater Natur seien und nicht gesellschaftsbedingt erzeugt werden (vgl. Bornemann 1997). Masson kritisiert im selben Ton (1988), dass Therapeuten eine Tendenz hätten, die Schwierigkeiten ihrer Klienten als selbsterzeugt und rein subjektiv zu sehen. Sie sähen die Klienten wenigstens zum Teil für ihre Probleme verantwortlich und würden weniger gesellschaftliche Ursachen annehmen. Auch in den Diskursen über Selbsthilfe werde eine starke Tendenz sichtbar, soziale Prozesse zu psychologisieren und auf das Individuum zu beschränken. Diese Kritik kann auch auf die aktuell zugängliche Selbsthilfe-Literatur in Bezug auf nicht-monogame Beziehungen erweitert werden, weil dort dieselben Tendenzen sichtbar werden. Im Lichte dessen wird ignoriert, wie Gefühle in einer ganz bestimmten historischen Gegebenheit und unter ganz bestimmten Machtverhältnissen konstruiert werden (vgl. Klesse 2006).
Diesbezüglich hält Hillman (1993) fest, dass die dominierende Sprache in der Psychotherapie hinsichtlich Familie und Beziehungen zum großen Teil in Bezug auf das Aufrechterhalten von oder einer Rückführung zu den alten familiären Werten der Kernfamilie formuliert sei. Er sieht aber aktuelle soziologische Gegebenheiten und Wandlungen dagegen sprechen, weil die Kernfamilie in dieser Form nicht mehr das dominante Muster darstellt. Die aktuellen Muster des familiären Zusammenlebens und wie Leute sich beziehungsmäßig untereinander verhalten, zeugen von einer massiven Veränderung dieser Werte. Hillmann kommt zu dem Schluss, dass das Ideal der Kernfamilie und dementsprechende soziale Beziehungen nur in der Fantasie der Psychotherapeuten existieren, die auf ein bestimmtes bürgerliches zahlungsfähiges Klientel zugeschnitten sei:
„The government and therapy are in symbiotic, happy agreement on the propaganda […] about family. Yet family, we know sociologically, does not exist anymore. […] Ad the actual patterns of family life, how people feel and act in the families that still exist have changed radically. […]. The idea of family only exists in the bourgeois patient population that serves psychotherapy. In fact, the family is largely today a […] therapist's fantasy.“ (Hillmann, 1993,p. 13)
Die von bürgerlichen Traditionen beeinflusste Therapielandschaft mystifiziert dieses Ideal bewusst, mit dem Ziel Klienten zu erhalten:
„For therapy, it’s keeping up an ideal in place so that we can show how dysfunctional we all are. It keeps the trade going […]. We need clients.“ (Hillmann, 1993, p. 14)
Hillmann sieht die Aufrechterhaltung des Ideals der Kernfamilie so als Methode , um zu zeigen, wie dysfunktional potentielle Klienten seien und daher dringend eine Therapie benötigen. Aus dem Mainstream einer partnerpsychologischen Normalität fallen nach dem Paartherapeuten Mary (2002) unter anderem die Partnerschaften, die mit alternativen (zum Beispiel nicht-monogamen) Beziehungsformen experimentieren, heraus. Mängel in einer normalen monogamen Partnerschaft führen Partnerschaftstherapeuten tendenziell zumeist nicht auf einem Mangel an der Institution Ehe oder auf die psychischen Kosten lebenslanger Monogamie zurück, sondern auf die Persönlichkeit des betreffenden Menschen: