Henner Fürtig
Geschichte des
Irak
Von der Gründung 1921
bis heute
C.H.Beck
Der Irak liegt in einer der ältesten Kulturlandschaften der Menschheit; seine Hauptstadt Bagdad war im Mittelalter das glanzvolle Zentrum der islamischen Welt. Heute scheint der Reichtum des Landes nur noch in seinen immensen Erdölreserven zu bestehen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Begehrlichkeiten unterschiedlicher Mächte wecken. Henner Fürtig bietet in diesem Buch einen allgemeinverständlichen Überblick über die Geschichte des modernen Irak, der 1920 nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches auf Beschluss des Völkerbundes als britisches Mandatsgebiet gegründet wurde. Er beschreibt, wie das Land mit verschiedenen Ideologien und Staatsformen wie der Monarchie und der Republik experimentierte, bis schließlich 1979 Saddam Hussein seine Diktatur aufbaute und das Land danach in zwei verheerende Kriege gegen Nachbarstaaten lenkte. Den dritten, ab 2003 gegen ihn geführten Krieg einer von den USA geführten Koalition überlebte weder er noch sein Regime. Doch alle danach einsetzenden Befriedungsversuche blieben unvollendet. Nicht zuletzt aufgrund der großen ethnischen Vielfalt (Araber, Kurden, Assyrer, Turkmenen) und der religiösen Heterogenität (Sunniten, Schiiten, Christen) kam das Land nicht zur Ruhe und ist mittlerweile in seiner Existenz gefährdet. – Ein unentbehrliches Buch für alle, die die Hintergründe der aktuellen Entwicklungen im und um den Irak besser verstehen wollen.
Henner Fürtig, geb. 1953, gehört international zu den besten Kennern des Irak. Er ist Professor am Historischen Seminar der Universität Hamburg und Direktor des GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur neuesten Geschichte und Politik des Vorderen Orients.
Vorwort
Einführung: Historische Fundamente des modernen Irak
1. Die altorientalischen Reiche
2. Die arabisch-islamische Blütezeit
3. Die osmanische Herrschaft
I. Vom Königreich zur Republik – (1920–1958)
1. Die Gründung des modernen Irak
2. Unabhängigkeit auf dem Papier
3. Im Zweiten Weltkrieg
4. Ein «Bauer» im Ost-West-Schach
5. Der Thron wird zerstört
II. Von der Republik zur Diktatur – (1958–1979)
1. Das republikanische Experiment
2. Fehlversuch der Baʿthpartei
3. Die fragile Republik
4. Die Baʿthpartei kommt zurück
5. Ein Flirt mit dem «Großen Bruder»
III. Von der Diktatur zum Neubeginn – (1979–2003)
1. Saddam Hussein nimmt sich die Macht
2. Der irakisch-iranische Krieg (Erster Golfkrieg)
3. Die Annexion Kuwaits (Zweiter Golfkrieg)
4. Mitgefangen, mitgehangen?
5. Sezierung einer Diktatur
IV. Das neue Jahrhundert: Die staatliche Existenz steht auf dem Spiel
1. Der Irak im Visier des Anti-Terror-Kriegs der USA
2. Die staatliche Rekonstruktion nach der Stunde Null
3. Der ISIS wirft den Fehdehandschuh
Zeittafel
Abkürzungen
Anmerkungen
Literaturhinweise
1. Allgemeine und Überblicksdarstellungen
2. Literatur zu Kapitel I
3. Literatur zu Kapitel II
4. Literatur zu Kapitel III
5. Literatur zu Kapitel IV
Personenregister
Der Irak, das Land zwischen den Strömen Euphrat und Tigris, war im 20. Jahrhundert für viele Jahrzehnte zumeist Zaungast der Geschichte. In der Regel wussten nur Spezialisten mit den verwirrenden Namen und Geschehnissen in diesem Land etwas anzufangen. Die einzigen größeren Gruppen, die sich dem Irak mit dauerhaftem Interesse zuwandten, waren Polit- und Militärstrategen des Kalten Krieges und Geschäftsleute. Selbst als Saddam Hussein kurz nach seiner Machtübernahme 1979 einen achtjährigen blutigen Krieg gegen das Nachbarland Iran begann, schaute die Welt meist weg. Erst als sich der irakische Diktator 1990 anschickte, mit seiner Annexion Kuwaits die politische Landkarte und die ökonomischen Besitzverhältnisse in der für die Weltwirtschaft lebenswichtigen Golfregion zu verändern, geriet er und mit ihm der Irak in die Schlagzeilen der internationalen Medien. 1990/91 sorgten die USA für die umfangreichste logistische Operation seit dem Koreakrieg, stellten sich an die Spitze einer nie zuvor dagewesenen Staatenkoalition und propagierten den Beginn einer «Neuen Weltordnung». Damit erhielt der Zweite Golfkrieg, die internationale Befreiungsaktion Kuwaits, eine wichtige Symbolfunktion: Er manifestierte – historisch eher zufällig – den endgültigen Ausbruch aus dem Prokrustesbett des bipolaren Weltsystems und das Ende des Ost-West-Konflikts.
Kaum waren die letzten Schüsse der Operation «Wüstensturm» verhallt und der Emir von Kuwait erneut auf den Thron gehievt, ließ auch das Interesse am Irak wieder abrupt nach. Darstellungen und Analysen der Diktatur Saddam Husseins und des Leidens des irakischen Volkes durch das internationale Sanktionsregime fanden sich in der Fachliteratur und einschlägigen Bulletins, kaum aber in den Massenmedien – und wenn doch, dann zum spätesten Sendetermin beziehungsweise auf den hinteren Seiten. Zehn Jahre dieser «Funkstille» wurden nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gegen das World Trade Center und das Pentagon jäh unterbrochen. Teile der US-Administration verdächtigten den Irak, in die Anschläge verwickelt zu sein. Obwohl eine überzeugende Beweisführung ausblieb, nahm Präsident George W. Bush den Irak am 29. Januar 2002 in sein Konstrukt einer «Achse des Bösen» auf und erklärte das Land damit zum legitimen Ziel im Krieg gegen den Terror. Danach wurde die Forderung nach einem «Regimewechsel» in Bagdad ein Mantra seiner Reden.
Nur mühsam konnte Bush im Sommer 2002 überzeugt werden, die Lösung der Krise zunächst im Rahmen der UNO zu suchen. Er machte in seiner Rede vor der Vollversammlung am 12. September aber klar, dass er amerikanische Interessen gegenüber dem Irak notfalls auch ohne UNO-Mandat durchsetzen würde. Damit drohte er einen gefährlichen Präzedenzfall an, weil sich so ausgerechnet eine Supermacht über grundlegendes kodifiziertes Völkerrecht hinwegsetzen und Nachahmer einladen würde. Die Einstimmigkeit, mit der der UNO-Sicherheitsrat seine Resolution Nr. 1441 am 8. November 2002 annahm, täuschte über den grundlegenden internationalen Dissens hinweg. Die Resolution forderte Saddam Hussein im Kern auf, frühere Verpflichtungen gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft umgehend zu erfüllen, insbesondere sein Programm von Massenvernichtungswaffen offenzulegen und diese Waffen unter internationaler Kontrolle zu vernichten. Obwohl die Waffeninspekteure unter Führung von Hans Blix und Mohammad el-Baradei am 27. November mit ihren Kontrollen im Irak begannen, konnten ihre Zwischenberichte bis Anfang März 2003 die vorgefassten Meinungen im Sicherheitsrat nicht ändern.
Die USA und Großbritannien zeigten sich außerstande, ihr substantielles Misstrauen gegenüber Saddam Hussein abzulegen, und bewerteten seine Kooperation mit der UNO und ihren Waffeninspekteuren als «Spiel auf Zeit» und nicht als strategische Kehrtwende. Die Abrüstung Iraks und – kaum verhüllt – der Sturz Saddam Husseins müssten daher mit militärischen Mitteln erzwungen werden. Vor allem für Washington galt ein Feldzug gegen den Irak durchaus als logische Fortsetzung des gegen das Taliban-Regime in Afghanistan begonnenen Krieges gegen den Terror. Zu diesem Zweck stationierten die USA bis Anfang März 2003 ein gewaltiges Militärarsenal und knapp 250.000 Soldaten an den Grenzen des Irak, wobei sie von 45.000 britischen Soldaten unterstützt wurden. Nachdem Saddam Hussein ein Ultimatum von US-Präsident George W. Bush vom 18. März, den Irak binnen 48 Stunden zu verlassen, hatte verstreichen lassen, fielen am 20. März die ersten Marschflugkörper auf Bagdad, um den Regimewechsel zu erzwingen. Der Dritte Golfkrieg hatte begonnen.
Das überlegene Kräfteverhältnis der von den USA geführten «Koalition der Willigen» gegenüber den irakischen Gegnern führte rasch zu Ergebnissen. Saddam Hussein wurde gestürzt und das Baʿthregime hinweggefegt. Die eigentliche Überraschung für die Weltöffentlichkeit ergab sich erst aus den Versuchen der USA und ihrer Verbündeten, den Irak unter neuen Vorzeichen wiederaufzubauen. Der schnelle militärische Sieg über Saddam Hussein hatte die US-Regierung in ihrem – durch positive Erfahrungen bei ähnlichen Fällen in Grenada und Panama untermauerten – Plan bestärkt, die Macht unverzüglich an namhafte irakische Exilpolitiker zu übertragen. Die tief gespaltene, weitgehend entwurzelte Exilopposition zeigte sich aber außerstande, den Plan umzusetzen: Chaos und Anarchie griffen um sich, die USA liefen Gefahr, den militärischen Sieg umgehend auf politischem Terrain zu verspielen. In Gestalt der «Coalition Provisional Authority» (CPA) übernahmen sie die Direktherrschaft über den Irak. Jetzt zeigte sich auf eklatante Weise das Fehlen eines fundierten Wiederaufbauplans; die Vorkehrungen waren faktisch nicht über das beschriebene Szenario einer Machtübergabe an pro-amerikanische Exilpolitiker hinausgegangen. In ihrer Not besann sich die CPA auf das Instrumentarium der Briten, der faktischen Herren im Irak zwischen 1920 und 1958, womit sie – wenn auch unfreiwillig – die irakische Wahrnehmung einer erneuten Fremdherrschaft verstärkte.
Die mit Abstand folgenschwerste Parallele zum britischen Vorgehen manifestierte sich in dem Versuch, die Teile-und-herrsche-Politik entlang ethnischer und konfessioneller Trennlinien wiederzubeleben. Als seien Jahrzehnte folgenlos vergangen, besetzte die CPA fortan alle irakischen Regierungs- und Verwaltungsstellen nach einem strikten ethnisch-konfessionellen Proporz. Der unmittelbar intendierte Zweck, das gegeneinander Ausspielen der ethnischen und konfessionellen Gruppen für die eigene Machtsicherung zu nutzen, funktionierte – im Gegensatz zur britischen Mandatszeit – nicht einmal in Ansätzen. Die von den Briten favorisierten arabischen Sunniten (etwa 20 %) hatten das gerade gestürzte Baʿthregime getragen; die arabischen Schiiten waren ob ihrer numerischen Überlegenheit (ca. 60 %) nicht auf US-Unterstützung angewiesen; die Kurden (um 20 %) zeigten sich zwar überwiegend loyal, mit ihnen allein war aber kein irakischer Nationalstaat wiederzubeleben.
Die politische Landschaft des Irak entwickelte sich nun zu einem ethnisch und konfessionell geprägten Flickenteppich, auf dem Konflikte zunehmend gewaltsam ausgetragen wurden und das Gemeinsame, das Nationale, weitgehend in den Hintergrund rückte. Auch nachdem mit dem Rückzug der US-Truppen aus dem Irak 2011 die Souveränität real wiederhergestellt war, blieb das Land tief gespalten und der Wirkungskreis der Zentralmacht beschränkt. 2014 bedeuteten schließlich die Gebietsgewinne des terroristischen «Islamischen Staats im Irak und in Syrien» (ISIS) im Nordirak eine neue Eskalationsstufe im Konflikt in und um den Irak. Das in seiner Existenz bedrohte Land wurde zum Dauerthema in den Weltmedien.
Hier schließt sich der Kreis zu den einleitenden Sätzen: Während der Irak aus dem dunklen Bühnenhintergrund ins grelle Rampenlicht der Weltpolitik katapultiert wurde, blieben verlässliche Informationen über das Land weiterhin Mangelware.
Das Buch wendet sich deshalb bewusst an die große Zahl interessierter, aber auch besorgter und betroffener Menschen, die über die Tagesaktualität hinaus nach Informationen über das Land «im Auge des Taifuns» suchen. Die «Geschichte des Irak» ist kein akademisches Fachbuch oder nüchternes Nachschlagewerk, das Vollständigkeit zum wichtigsten Qualitätsmerkmal erhebt, sondern ein – wissenschaftlich fundierter – Abriss der Geschichte des modernen Irak, der anhand der wichtigsten historischen Protagonisten und der prägenden historischen Zäsuren heutige Ereignisse und Zusammenhänge verständlicher machen will. Diesem Anliegen fielen längere Exkurse zur Vorgeschichte sowie zur Außen- oder Wirtschaftspolitik ebenso zum Opfer wie ausführliche Biographien der handelnden Akteure oder in die Tiefe gehende Ideologiestudien. Der rote Faden des Buches wird dagegen von einer Frage bestimmt: Was hat den Irak zu dem gemacht, was es heute ist?
Hamburg, im November 2015 Henner Fürtig
Der Irak (Mesopotamien) gehört zu den ältesten Kulturlandschaften der Erde. In diesem regenbegünstigten Gebiet des «Fruchtbaren Halbmondes» gingen Jäger und Sammler schon im 10. und 9. Jahrtausend v. Chr. zum Ackerbau über und hielten Vieh. Seit dem 7. Jahrtausend v. Chr. sind dauerbesiedelte Ortschaften im heutigen Nordirak nachgewiesen. In einer vereinfachten Übersicht lassen sich drei Hauptabschnitte der Vorgeschichte des modernen Irak ausmachen.
Ab dem 4. Jahrtausend v. Chr. beschleunigte sich die Entwicklung, als die Mesopotamier das fruchtbare Schwemmland am Unterlauf von Euphrat und Tigris in Besitz nahmen und urbar machten. Zwischen 3200 und 2800 v. Chr. bildete sich hier – nahezu parallel zur ägyptischen – die sumerische Hochkultur heraus. In den blühenden, miteinander in enger, teilweise auch kriegerischer Beziehung stehenden sumerischen Stadtstaaten wie Ur, Uruk, Lagasch oder Umma entstand mit der Keilschrift eine der frühesten Schriften der Menschheit und mit den Zikkurats eine Bauform, die den Vergleich mit den ägyptischen Pyramiden nicht scheuen muss. Zwischen 2340 und 2284 v. Chr. gelang es Sargon, dem Herrscher von Akkad, Mesopotamien erstmals in einem Reich zu vereinen.
Durch Erschöpfung und Versalzung der Böden verfielen die südmesopotamischen Städte um 2000 v. Chr., gleichzeitig entstand aber weiter nördlich mit Babylon der Mittelpunkt eines weiteren Großreiches. Zu den berühmtesten Herrschern des altbabylonischen Reiches (ca. 2000–1500 v. Chr.) gehört Hammurapi, in dessen Regierungszeit zwischen 1792 und 1750 v. Chr. eine der ersten Rechtssammlungen der Menschheit zusammengestellt wurde. Bevor Nebopolassar 626 v. Chr. das neubabylonische Reich begründete, war Assyrien für mehrere Jahrhunderte die vorherrschende Macht in Mesopotamien. Das neubabylonische Reich zerfiel schließlich 539 v. Chr. unter dem Ansturm der persischen Achämeniden, die mit Ktesiphon eine neue Hauptstadt im Zweistromland errichteten. Alexander der Große begründete mit der Eroberung Babyloniens 331 v. Chr. die hellenistische Ära Mesopotamiens, die vor allem durch die Diadochenlinie der Seleukiden geprägt wurde. Ab 141 v. Chr. beherrschten die Parther das Land, die schließlich 220 durch die Sassaniden abgelöst wurden, die letzte Dynastie, die Mesopotamien vor der arabischen Eroberung von Ktesiphon aus regierte.
Zwischen 633 und 640 brach das Sassanidenreich unter dem Ansturm der aus der Arabischen Halbinsel herandrängenden islamisierten Araber zusammen. Der 637 bei Qadisiyya errungene Sieg in der Entscheidungsschlacht diente Saddam Hussein noch im Ersten Golfkrieg, der Auseinandersetzung mit Iran, als Propagandavehikel für die Begründung der «ewigen» Überlegenheit der Araber über die Perser. Obwohl das Zentrum der ersten islamischen Dynastie, der Umayyaden, in Damaskus lag, entstanden im Irak aus Militärlagern Städte wie Basra und Kufa, von denen aus die Islamisierung des Landes rasch voranschritt. Kalif Ali wählte Kufa zu seiner Residenzstadt. Die Auseinandersetzung seiner Söhne Hassan und Hussein mit den Umayyaden fand ebenfalls auf irakischem Boden statt und begründete die zentrale Bedeutung des Landes für den schiitischen Islam. Bereits in der umayyadischen Spätzeit war im Irak ein Wirtschaftsaufschwung zu beobachten. Das Zentrum der arabisch-islamischen Kultur wurde das Land aber erst unter den Abbasiden, die 750 die Umayyaden ablösten und 762 unter Kalif al-Mansur Bagdad gründeten. Unter Harun al-Raschid (Kalif 786–809) und al-Maʾmun (Kalif 813–833) blühten Kunst und Kultur («Tausendundeine Nacht»), aber auch Handwerk und Handel (Verbindungen bis Südostasien und China) sowie die Landwirtschaft (Ausbau des Bewässerungssystems). 836 schuf Kalif al-Muʿtasim mit Samarra die erste Großstadt «aus der Retorte», die bis 883 auch Hauptstadt war.
Indem die Trennung der Untertanen in Araber und Nichtaraber durch die Unterscheidung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ersetzt wurde, öffneten die Abbasiden dem persischen Adel wieder den Zugang zu höheren Ämtern. Nach sassanidischem Vorbild entstand das Amt des Großwesirs neu, wurde die Provinzeinteilung überarbeitet und die Besteuerung nach Bodenkataster eingeführt. Mit den Buyiden (932–1055) übernahmen die Perser auch die reale Macht im Reich und reduzierten den abbasidischen Kalifen auf die Funktion des geistlichen Oberhaupts. Das Zentrum des Buyidenreiches lag in Persien, die erneute Randlage schwächte das Reich. 1055 besetzten die sunnitischen Seldschuken den Irak und beherrschten ihn – mit kurzen Unterbrechungen – bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts. 1258 besiegelte der Mongolenherrscher Hülägü mit der Eroberung Bagdads das Ende des Abbasidenkalifats. Danach lösten sich verschiedene mongolische Dynastien im Irak ab. Das Land verfiel und wurde 1400 von den Armeen Timurs verwüstet. Die Herrschaft der persischen Safawiden zwischen 1508 und 1534 beendete eine lange historische Epoche der Instabilität und des Niedergangs.
1534 eroberten die Osmanen Bagdad und gliederten das Zweistromland, von der einheimischen arabischen Bevölkerung «Irak» genannt, ihrem Reich ein. Dies blieb so bis zum Jahr 1918 (abgesehen von einem kurzen persischen Interregnum 1623–1638). Aber auch für die Osmanen lag die neue Provinz Bagdad an der Peripherie des Staates. Ihre Statthalter waren primär an persönlicher Bereicherung interessiert. Der Irak verarmte, große Teile des lebensnotwendigen Bewässerungssystems versandeten. Unter diesen Bedingungen gelang es auch einzelnen lokalen Herrschern immer wieder, sich der Hohen Pforte gänzlich zu entziehen, so z.B. den «Fürsten von Basra (Afrasiyab)» im 17. Jahrhundert. Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts sorgte die Statthalterschaft der in administrativen und militärischen Fragen erfahrenen Mamluken für eine gewisse Stabilität, wobei die autokratischen Herrschaftsformen allerdings Einheimische nur selten an der Macht teilhaben ließen. Die Mamluckenherrschaft fand mit der Bestallung von Dawud Pascha zum Gouverneur von Bagdad 1817 ihren Höhepunkt und gleichzeitig auch ihr Ende. Dawud Pascha verfolgte – ähnlich wie sein Amtskollege Muhammad Ali in Ägypten – eine von Istanbul unabhängige Politik, die die Modernisierung des kontrollierten Gebietes in den Mittelpunkt stellte. Dawud förderte Handel und Handwerk (Schutz vor ausländischer Konkurrenz), ließ Textilmanufakturen errichten, Straßen bauen und Kanäle (wieder)anlegen und verlegte sich außerdem auf den Aufbau einer 20.000 Mann starken eigenen Armee, die er von französischen Offizieren ausbilden ließ. 1831 beendete Istanbul die Sezessionsbestrebungen mit der Absetzung Dawud Paschas. Der Irak wurde der Direktverwaltung durch Istanbul unterstellt und versank wieder in der Bedeutungslosigkeit. Zwischen 1831 und 1869 bereicherten sich zwölf osmanische Gouverneure an dem Land. Erst Midhat Pascha (1869–1872) verhalf ihm zu einem neuen – wenn auch kurzen – Aufschwung.
In dessen Zeit als Gouverneur erschien immerhin die erste irakische Zeitung und entstand eine erste, mit Pferden betriebene Eisenbahnstrecke; aber auch Schulen, Krankenhäuser und Manufakturen wurden gebaut. Seine Amtszeit war jedoch zu kurz, um Dauerhaftes hervorzubringen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts veranlassten die Osmanen eine Verwaltungsreform im Irak, die 1879 die selbständige Provinz Mossul und 1884 die separate Provinz Basra entstehen ließ: gemeinsam mit Bagdad die territorialen Vorläufer des modernen Irak. Zur selben Zeit traten aber auch die Schwächen des «kranken Mannes am Bosporus», wie das im Niedergang befindliche Osmanische Reich genannt wurde, immer deutlicher hervor.
Einerseits zerrten starke zentrifugale Strömungen an der Einheit des Staates und veranlassten türkische Intellektuelle, Politiker, Militärs und Geschäftsleute, die türkische Identität des Reiches wieder stärker hervorzuheben (Jungtürken). Wie in kommunizierenden Röhren entwickelten sich parallel dazu in den Provinzen Bestrebungen der autochthonen Bevölkerung, die osmanische Herrschaft zu beenden. Auch in den Städten und größeren Ortschaften des Irak bildeten sich Zirkel und Geheimgesellschaften (al-Fatat), in denen die Loslösung vom Osmanischen Reich diskutiert wurde. 1913 forderte Talib Pascha in Basra die Unabhängigkeit des «türkischen Arabien». Nachhaltigere Wirkung erzielte allerdings der 1914 in Istanbul durch den ägyptischen Offizier Aziz Ali al-Misri gegründete al-ahd al-iraqi (der irakische Bund), dem sich zahlreiche irakische Offiziere des osmanischen Heeres anschlossen. Der Bund breitete sich rasch nach Mossul und Bagdad aus, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gehörten ihm auch viele zukünftige irakische Politiker wie Nuri al-Saʿid, Djaʿfar al-Askari, Yasin al-Haschimi, Djamil Midfai, Nadji Schaukat, Maulud Mukhlis und Ali Djaudat an. Al-Ahd al-Iraqi verfocht die arabische Loslösung vom Osmanischen Reich, jedoch nicht zwangsläufig die Gründung eines eigenen irakischen Staates.
Andererseits lud die Schwäche der Hohen Pforte die europäischen Großmächte dazu ein, ihren Konkurrenzkampf um die Aufteilung der Welt auch auf Osmanischem Territorium auszutragen. Im Zentrum britischer Interessen stand dabei die Sicherung der Landbrücke zur Kronkolonie Indien. Zu diesem Zweck hatte sich schon zu Beginn des Jahrhunderts ein britischer Resident in Basra niedergelassen. 1860erwarb die Lynch Company das Monopol für den Schiffsverkehr auf dem Schatt al-Arab, dem Zusammenfluss aus Euphrat und Tigris. Gegen Ende des Jahrhunderts forderte das Deutsche Kaiserreich die Briten aber offen heraus. Es ging ein offizielles Bündnis mit der Hohen Pforte ein und erhielt 1899 die Konzession zum Bau der Bagdadbahn, die Schürfrechte in einem Korridor von jeweils 20 Kilometern links und rechts der Gleise einschloss. Nur weil die deutsche Regierung andere Hauptschauplätze im herannahenden Ersten Weltkrieg ausmachte, ließ sie sich 1911 von London den Verzicht auf den Ausbau der Eisenbahnlinie von Bagdad nach Basra abringen. Nichtsdestotrotz wurde der Irak in die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs hineingezogen.
Am 23. November 1914 besetzten britisch-indische Truppen die Hafenstadt Basra und rückten nach Norden vor. Osmanische und verbündete deutsche Truppen leisteten erbitterten Widerstand. Sie konnten die britisch-indischen Verbände unter General Townshend nach fünfmonatiger Belagerung am 29. April 1916 bei Kut al-Amara zur Aufgabe zwingen. Damit war aber lediglich ein taktischer Sieg errungen. London führte frische Kräfte heran, die ausschließlich dem Kriegsministerium an der Themse unterstellt waren. Am 11. März 1917 marschierten britische Truppen als «Freunde der Araber» in Bagdad ein, zum Jahresanfang 1918 fiel Kirkuk in ihre Hände. Die arabischen «Freunde» hatten allerdings in erster Linie darunter zu leiden. Die rückständigen Klein- und Kleinstbetriebe stellten ihre Produktion weitgehend ein, die vorherrschende Naturalwirtschaft brach fast vollständig zusammen. Hunger und Epidemien grassierten, 90.000 Iraker wurden in «Labour-Corps» gepresst, die übrigen stöhnten unter der hohen Steuer- und Abgabenlast für die kämpfenden Truppen. 1917 kam es zu Hungerrevolten in Nadjaf, Kufa und Abu Zuhair. Als die Hohe Pforte schließlich am 30. Oktober 1918 bei Mudros kapitulierte, war den meisten Irakern deshalb das Ende von vier Jahren Krieg wichtiger als das Ende von vierhundert Jahren Osmanischer Oberhoheit.
(1920–1958)