Simon Hall

1956

Welt im Aufstand

Aus dem Englischen von
Susanne Held

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett -cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»1956. The World in Revolt« im Verlag Faber & Faber,

London, 2016

© Simon Hall, 2016

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung dieser Abbildungen: Don Cravens/Getty Images (M. L. King), Gerard Sioen/Getty Images (F. Castro u. Che Guevara), ullstein bild – ullstein bild (Demo in München),
ullstein bild – ullstein bild (Elvis Presley)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94859-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10949-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

I. Winter
Die alte Ordnung bekommt Risse

1. Montgomery

2. Guy Mollet gibt sich geschlagen

3. Die Geheimrede

4. »Massive Resistance«

II. Frühling
Die Sehnsucht nach Freiheit

5. Der lange Weg

6. Rückzug aus dem Empire

7. Das Palestro-Massaker

8. Etappe eines gewaltigen, weltweiten Kampfes

III. Sommer
Der Geist der Revolte

9. Brot und Freiheit

10. Der PetŐfi-Kreis

11. Zornige junge Männer

12. Im Handstreich

13. Der Marsch der Frauen

14. Herrschaft des Pöbels

IV. Herbst
Revolution und Reaktion

15. Geheimtreffen in Sèvres

16. Polnischer Oktober

17. Aufstand

18. Suez

19. Unternehmen Wirbelsturm

20. Sierra Maestra

21. Freiheit auf der Anklagebank

... und die Folgen

Anhang

Dank

Abkürzungen

Anmerkungen

Auswahlbibliographie

Bildnachweis

Personen-, Orts- und Sachregister

Für meine Eltern

Prolog

»Man kann für dieses Jahr mit sehr viel mehr Recht als je zuvor sagen, dass die Zukunft vom Mut, von der Entschlossenheit und der Kraft demokratisch gesinnter Menschen abhängt.«

New York Times, 1. Januar 1956

In den letzten Minuten des Jahres 1955 hoben die 400 000 auf dem Times Square(1) in New York(1) versammelten Feiernden die Augen erwartungsvoll empor zum Dach des Times Tower. Zwanzig Sekunden vor Mitternacht, als ein mit bunten Glühbirnen bestückter Ball seinen gut 21 Meter weiten Abstieg von der Spitze des Fahnenmastes begann, johlte und trötete die Menge in Erwartung des neuen Jahres. Der Lärm steigerte sich stetig, nur noch wenige Sekunden waren bis Mitternacht zu überbrücken, da erloschen plötzlich sämtliche 180 Glühbirnen, und der Ball vollendete seine Reise in völliger Finsternis. Auch die knapp zwei Meter hohe Zeitanzeige fiel aus. Ein Kurzschluss in der Stromversorgung hatte zur Folge, dass die Lichter, die das Jahr 1956 von allen vier Seiten des Turms einleuchten sollten, erst um 00:15 Uhr wieder aufstrahlten.1

Während die Feierlichkeiten in New York zur Farce verkamen, wurden sie in Japan zur Tragödie. Im Zuge einer Zeremonie im Yahiko-Schrein(1), rund 240 Kilometer nördlich von Tokio, wurden über hundert Menschen zu Tode getrampelt und 75 verletzt. Die Katastrophe ereignete sich während eines Gerangels um die traditionellen Reisbällchen – Mochi –, die in eine Menge von etwa 30 000 Menschen geworfen wurden. Ein Augenzeuge berichtete, die Leute in der Nähe des Altars seien eine steile Treppe hinuntergeströmt und »mit den eintreffenden Besuchern zusammengestoßen«. Einige »fielen von der Treppe herunter oder wurden von der ankommenden Menschenwoge erdrückt«. Schnell breitete sich Panik aus, was auch daran lag, dass lediglich elf Polizeibeamte vor Ort waren: »Von überall her tönten Schreie, und Männer, Frauen und Kinder stürzten unter die trampelnden Füße.« Der Druck der Masse brachte außerdem eine zwei Meter hohe Mauer zum Einsturz, was noch weitere Opfer forderte. Die New York Times berichtete, dass man die »verhüllten Leichen an die Eingänge legte, wo sie von den Hinterbliebenen abgeholt wurden«.2

Das Jahr begann unheilvoll – ein Jahr, dem viele prognostizierten, es werde besondere Herausforderungen mit sich bringen. So warnte beispielsweise General Francisco Franco(1), der nun schon seit fast 18 Jahren als Diktator Spanien regierte, in seiner Neujahrsbotschaft, dass »die Gefahren, die die Welt bedrohen, größer sind als je zuvor«.3 Die Londoner Times forderte in ihrer ersten Ausgabe des neuen Jahres zu »Mut« im Angesicht der »Krisen« auf, die »uns zweifellos bevorstehen«. Gleichzeitig versicherte Premierminister Anthony Eden(1): »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um jederzeit und bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Spannungen zwischen den Nationen abzubauen.«4 Und er äußerte seine »große Vorfreude« auf das bevorstehende Gipfeltreffen mit Präsident Eisenhower, ein Treffen, das, so seine Überzeugung, »zum Frieden auf der Welt beitragen« werde.5

Das neue Jahr gab durchaus auch Anlass zu Optimismus. Am 1. Januar versicherte Reverend Martin Luther King Jr.(1) von der Kanzel der Baptistenkirche in der Dexter Avenue in Montgomery, Alabama(1), seiner Gemeinde, es gebe »keine bessere Art und Weise«, das neue Jahr zu beginnen, als mit dem festen Glauben an einen mächtigen Gott – einen Gott, der »es vermochte, die gigantischen Berge des Widerstands zu überwinden und die ungeheuerlichen Gipfel des Bösen einzuebnen«. King, der junge aufsteigende Stern in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, gab zu, dass das Ausmaß an Unmenschlichkeit unter den Menschen sowie die grauenhaften Realitäten des modernen Krieges »jeden von uns die Macht unseres Gottes in Frage stellen lassen«. Aber, so King(2) weiter, die Überzeugung, dass das Gute letztlich im Kampf gegen das Böse siegreich sein werde, bilde die Wurzel des christlichen Glaubens. Der Boykott der nach Rassen getrennten Stadtbusse ging in seinen zweiten Monat: King forderte seine Gemeinde dringend dazu auf, in ihrem gegenwärtigen Kampf gegen das Böse nicht nachzulassen, und er fügte hinzu, es gebe keinen Grund, sich Sorgen zu machen, denn »Gott vermag alles. Sorgt euch nicht wegen der Rassentrennung. Sie wird verschwinden, weil sie Gott gegen sich hat.«6

Am 1. Januar erlebte die Welt außerdem, wie eine neue, unabhängige Nation geboren wurde: Im Sudan endete nach über einem halben Jahrhundert die anglo-ägyptische Herrschaft. Während einer Zeremonie auf dem Rasen des Palasts in Khartoum(1) mit zweitausend geladenen Gästen erklärte der neue Premierminister Ismail el-Azhari(1): »Es gibt in der Geschichte des Landes Sudan und seines Volkes kein größeres Ereignis als das heutige … Wenn dieser Tag das Ende unseres Kampfes um Unabhängigkeit markiert, so markiert er zugleich den Beginn unserer Aufgabe, unseren zukünftigen Fortschritt zu gestalten.« Und während die Kapelle die sudanesische Nationalhymne anstimmte und Kanonen Salut schossen, stellte sich el-Azhari neben den Anführer der offiziellen Opposition, um die blau-gelb-grüne Trikolore des neuen Staates zu hissen, während gleichzeitig von Offizieren der sudanesischen Streitkräfte die britische und die ägyptische Flagge eingeholt wurden.7

Im französischen Teil Nordafrikas war die Situation sehr viel weniger verheißungsvoll. Ende Dezember hatten französische Streitkräfte nach einer Angriffswelle von marokkanischen Kämpfern eine größere Militäroperation in der Nähe des Rif-Gebirges(1) gestartet und über 50 Rebellen getötet; außerdem reagierten sie mit großer Härte auf Sabotage- und Terrorakte in Algerien, wo einem Zeitungsbericht zufolge am Freitag, dem 30. Dezember, in einer einzigen Provinz über 20 Rebellen getötet wurden (nur wenige Wochen später warnte Albert Camus(1), wenn die europäische und die muslimische Bevölkerung keinen Weg zu einem friedlichen Zusammenleben in gegenseitigem Respekt fänden, wären sie »verdammt, zusammen – mit Wut im Herzen – zu sterben«).8

Der jugoslawische Präsident Josip Tito(1) erklärte in seiner Neujahrsbotschaft, die er während eines Besuchs bei Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser(1) verfasste, dass das Volk Afrikas »nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung« strebe, und er verurteilte die »zivilisierende Mission« europäischer Imperialisten als kaum mehr denn als einen Vorwand, um »schwache und unterentwickelte Länder zu dominieren«. Tito war jedoch optimistisch, dass »eine Zeit der friedlichen Beilegung internationaler Probleme angebrochen« sei – dass »Krieg als Mittel zur Lösung von Streitigkeiten nicht mehr akzeptiert« werde.9

Auch in Moskau(1) war die Rede von Frieden. Am 31. Dezember erklärte der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Bulganin(1), es sei – vorausgesetzt, man stieße auf hinreichend viel guten Willen und Verständigungsbereitschaft – möglich, dass im Jahr 1956 bedeutende Fortschritte in Richtung einer »Beendigung des Kalten Krieges« erzielt werden könnten.10 Im weiteren Verlauf des Abends hießen Bulganin und Nikita Chruschtschow(1), Generalsekretär der Kommunistischen Partei der (1)Sowjetunion(1), gut 1200 Gäste zu einem üppigen Staatsbankett willkommen. Unter den Gästen, die sich im riesigen Georgssaal des Kreml einfanden, waren auch auswärtige Diplomaten, und die Feier dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Außer Essen, Champagner und Musik gehörten Ansprachen zum Abend, zahlreiche Toasts wurden ausgebracht und man tanzte, wobei sich vor allem hohe sowjetische Regierungsbeamte hervortaten: Die New York Times berichtete, Bulganin(2) »sei, umgeben von einer Schar Mädchen, umherstolziert«.11

In Key West(1) war die Szenerie eine ganz andere: Hier erholte sich Präsident Eisenhower(1) von einem Herzinfarkt im September, er brachte seine Zeit mit Malen, Golfspielen und gelegentlichen Spaziergängen zu. Man hatte zwar ein »festliches Abendessen im Familienkreis« geplant, doch war es »unsicher, ob der Präsident bis Mitternacht aufbleiben würde, um das Neue Jahr zu begrüßen«.12

Die führenden Politiker der Welt sprachen in ihren Reden die Schwierigkeiten an, die vor ihnen und der Welt lagen, sie brachten ihren Wunsch nach »Frieden« zum Ausdruck oder versprachen eine bessere Zukunft. Aber sie sollten sich schon bald mitgerissen – manche sogar hinweggefegt – sehen von einer Reihe außerordentlicher, abwechselnd dramatischer, schockierender und weltverändernder Ereignisse, die nicht einmal die scharfsinnigsten Beobachter hätten voraussehen können.

Mehr als ein Jahrhundert ist inzwischen vergangen, seit der renommierte italienische Marxist Antonio Gramsci(1) beklagte, dass Historiker durch ihre Hochachtung vor der Chronologie den irreführenden Eindruck vermittelt hätten, dass bestimmte Jahre »wie Berge sind, über die sich die Menschheit hinwegbewegen musste, um sich dann in einer neuen Welt in neuen Lebenszusammenhängen zu finden«.13 Doch seine Worte scheinen auf taube Ohren gefallen zu sein. Unter Historikern hat sich die Gewohnheit, ein spezielles Jahr als besonders bedeutsam oder beachtenswert einzustufen, nicht nur gehalten, vielmehr hat diese Tendenz sogar noch zugenommen. Allein in den letzten zehn Jahren sind Dutzende Bücher erschienen, welche die Quintessenz einer Epoche, den Sinn größerer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungsbögen in die Geschichte eines einzelnen Jahres zu packen versuchen.14 Diverse Autoren haben zwar wichtige Einzelaspekte des Jahres 1956 herausgehoben, doch das kollektive Drama dieses Jahres – und das Gefühl der Zeitgenossen selbst, in einer bedeutungsschweren Zeit zu leben – ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Auffällig ist der Kontrast zum Jahr 1968, das von vielen (und sehr lautstark) als ein weltweites »Jahr der Revolte« bezeichnet wird.

Diese historische Nachlässigkeit verweist auf eine allgemeinere Tendenz, in den 1950er-Jahren eine eher glanzlose Zeit zu sehen: eine Zeit, so wird uns vermittelt, in welcher die kriegsmüden Völker Westeuropas damit beschäftigt waren, ihre ruinierten Volkswirtschaften wieder aufzubauen und anschließend die Zwänge der Sparprogramme abzuschütteln, während sich in den Vereinigten Staaten praktisch die gesamte Nation im Griff einer erstickenden Konformitätskultur befand. Verglichen mit dem Erregungspotential des Krieges gegen den Faschismus einerseits und der farbigen Gegenkultur und den energischen Protestbewegungen der 1960er-Jahre andererseits kann es kaum überraschen, dass die »drögen« 1950er-Jahre häufig nur stiefmütterlich behandelt wurden.15

Mitte der 1950er-Jahre standen nun allerdings große Teile der Welt am Rand dramatischer Veränderungen: Schwelende soziale, wirtschaftliche und politische Spannungen und die stetig zunehmende Enttäuschung über die Nachkriegsordnung bildeten eine brisante Mischung. Zehn Jahre nach dem Sieg über Nazideutschland klangen die Ideale, für die sich die Alliierten angeblich im Zweiten Weltkrieg eingesetzt hatten, in den Ohren vieler Menschen zunehmend hohl. Die Atlantik-Charta, vereinbart vom britischen Premierminister Winston Churchill(1) und dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt(1) im August 1941 und später sowohl von (1)Frankreich als auch von der (2)Sowjetunion gutgeheißen, hatte die Vision einer Nachkriegswelt entworfen, die auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, internationaler Zusammenarbeit und »Freiheit von Furcht und von Not« beruhte.16 Doch das Zögern der europäischen Großmächte, sich von ihren imperialen Zielen zu verabschieden, der Zwang und Terror, mit dem die Kommunisten ihre sogenannten »Volksdemokratien« in Osteuropa errichteten, und die Entschlossenheit, mit der weiße Suprematisten sowohl in den (1)USA als auch in Südafrika die Aufrechterhaltung der Rassentrennung verteidigten, ließen diese hehren Absichtserklärungen zur Farce werden. Unter den Besiegten, den an den Rand Gedrängten und Unterdrückten war die tiefe Enttäuschung angesichts der vielen nicht erfüllten Hoffnungen kurz davor, in Gewalt umzuschlagen.

Im Jahr 1956 standen auf der ganzen Welt gewöhnliche Leute auf und erhoben ihre Stimme, sie gingen auf die Straßen und Plätze, riskierten Gefängnisstrafen, griffen zur Waffe, ja verloren ihr Leben bei dem Versuch, größere Freiheiten zu erkämpfen und eine gerechtere Welt aufzubauen. Konfrontiert mit einer beispiellosen Herausforderung ihrer Macht, schlugen die Wächter der »Alten Ordnung« in dem verzweifelten Versuch, ihre Autorität aufrechtzuerhalten, oftmals unbarmherzig zurück. Es war ein monumentaler Kampf, der die Nachkriegswelt von Grund auf verändern sollte. Höchste Zeit also, die Geschichte dieses bemerkenswerten Jahres lückenlos zu erzählen.

I. Winter


Die alte Ordnung bekommt Risse

Martin Luther King Jr., 27-jähriger Anführer des Bus-Boykotts von Montgomery, ruft am 30. Januar 1956 von der Veranda seines durch einen Sprengstoffanschlag beschädigten Hauses zu friedlichem Verhalten auf. Neben ihm, von rechts nach links: Feuerwehrhauptmann R. L. Lampley, Bürgermeister W. A. Gayle (in Uniform) und Polizeikommissar Clyde Sellers.

1. Montgomery

»Bei der Abfassung zukünftiger Geschichtsbücher wird man sagen können: ›Hier lebte ein Volk, ein schwarzes Volk, krausgelockt und dunkelhäutig, ein Volk, das den moralischen Mut aufbrachte, sich für seine Rechte zu erheben. Damit injizierten die Angehörigen dieses Volkes einen neuen Sinn in die Adern der Geschichte und der Zivilisation.‹«

Martin Luther King Jr.(3)

Kurz vor halb zehn am Abend des 30. Januar 1956, einem Montag, hielt ein helles Auto vor dem weißen Holzhaus in der South Jackson Street 309 in Montgomery, Alabama(2), dem Wohnhaus des Pfarrers. In diesem bescheidenen, 1912 errichteten Haus wohnten Reverend Dr. Martin Luther King Jr., Pastor der Dexter Avenue Baptist Church, seine Frau Coretta(1) und ihre zwei Monate alte Tochter Yolanda(1). Ein Augenzeuge berichtete, das Auto habe kurz angehalten und sei dann »mit hoher Geschwindigkeit« wieder davongefahren.1 Coretta hielt sich gerade im Wohnzimmer auf und plauderte mit einer Bekannten, als sie »von draußen von der Veranda einen heftigen Aufprall hörte«. In letzter Zeit hatte es eine Unmenge von Drohanrufen gegeben, sodass sie ihre Bekannte sofort ängstlich in den hinteren Teil des Hauses bat. Nur wenige Sekunden später erfolgte eine »ohrenbetäubende Explosion«, gefolgt von »Rauch und dem Geräusch von zersplitterndem Glas«.2 Eine halbe Dynamitstange war an der Südseite der Veranda explodiert, hatte ein Loch in den Boden gerissen und das Dach beschädigt. Auch die Vorderfenster des Hauses gingen zu Bruch; das gesamte Wohnzimmer, das Arbeitszimmer und das Musikzimmer waren mit Scherben übersät.3

Besorgte Nachbarn kamen herbeigelaufen, und Coretta(2) rief in der First Baptist Church an, wo ihr Mann, eine führende Figur in dem seit acht Wochen andauernden Boykott der nach Rassen getrennten Stadtbusse, zu einer großen Versammlung sprach. Sie berichtete, das Haus sei bombardiert worden, und bat darum, dass man schnell Leute herschickte, allerdings vergaß sie zu erwähnen, dass niemand verletzt worden war.4 Am selben Tag, nur wenige Stunden zuvor, hatte King(4), der Präsident der kürzlich gegründeten Montgomery(3) Improvement Association(1), vor 2000 dicht gedrängten Zuhörern eine Rede gehalten. Jetzt, da die Versammlung sich dem Ende zuneigte, stand er auf einer Plattform vor der Kirche und wartete die Kollekte ab.5 Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte King sehen, dass einer der Saalordner sichtlich aufgewühlt mit Ralph Abernathy(1) sprach, dem mit King befreundeten Pastor der Kirche. Dann eilte Abernathy die Treppen hinunter, tauchte allerdings nur wenige Minuten später mit besorgter Miene wieder auf. Offensichtlich stimmte irgendetwas nicht. King winkte Abernathy zu sich herüber und erfuhr jetzt: »Euer Haus ist bombardiert worden.« Auf die Frage, ob mit seiner Familie alles in Ordnung sei, antwortete Abernathy mit finsterer Miene: »Das überprüfen wir grade.«6

Nur wenige Tage zuvor hatte King eine schwere persönliche und spirituelle Krise durchgemacht. Am Donnerstag, dem 26. Januar, war er von zwei Polizisten auf Motorrädern angehalten worden, angeblich war er in einer 25-Meilen-Zone 30 Meilen pro Stunde gefahren. Nachdem er mehrere Stunden in einer dreckigen Gefängniszelle verbracht hatte, wurde King freigelassen. Der unerfreuliche Zwischenfall hatte ihn allerdings stark verunsichert – es war das erste Mal gewesen, dass er festgenommen wurde, und auf dem Weg zum Gefängnis war in ihm kurz die Sorge aufgekommen, man werde ihn womöglich lynchen.7 Am folgenden Tag, als King nach einem MIA-Treffen spät abends nach Hause kam, erhielt er wieder einen dieser zahlreiche Drohanrufe: »Nigger, wir haben jetzt genug von dir und deinem Scheiß. Wenn du nicht innerhalb von drei Tagen die Stadt verlässt, pusten wir dir das Gehirn raus und lassen dein Haus hochgehen8

In jener Nacht fand King(5) keinen Schlaf und saß verzweifelt am Tisch in der Küche. Er sei damals, so gab er später zu, kurz davor gewesen aufzugeben: »Mit der unberührten Kaffeetasse vor mir überlegte ich, wie ich von der Bildfläche verschwinden konnte, ohne wie ein Feigling dazustehen.« Um Mitternacht vergrub er verängstigt und erschöpft sein Gesicht in den Händen und begann laut zu beten. Später schrieb King: »Die Worte, die ich in jener Nacht an Gott richtete, sind mir noch lebhaft im Gedächtnis. ›Ich setze mich für etwas ein, das ich für richtig halte. Aber jetzt habe ich Angst. Die Leute schauen zu mir als ihrem Anführer auf, und wenn ich mich ihnen gegenüber nicht stark und mutig zeige, werden auch sie ins Wanken kommen. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich habe nichts mehr. Ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich allein nicht mehr weitermachen kann.‹« Und King erinnerte sich weiter: »In diesem Augenblick erlebte ich die Gegenwart des Göttlichen, wie ich Gott noch nie zuvor erlebt hatte. Es schien, als könnte ich die ruhige Versicherung einer inneren Stimme vernehmen, die sagte: ›Setz dich für Gerechtigkeit ein, setz dich für die Wahrheit ein, und Gott wird dir immer beistehen.‹ Unmittelbar darauf begannen meine Ängste zu verfliegen. Meine Unsicherheit verschwand. Ich war bereit, allem die Stirn zu bieten9

Die Bombardierung seines Hauses(4), nur drei Tage später, stellte Kings frisch erworbene Entschlossenheit dann auf eine harte Probe. Als er von dem Angriff erfuhr, gab er die Neuigkeit an die Zuhörer weiter, erklärte, er müsse sofort gehen, und schlug vor, alle sollten sich jetzt still nach Hause begeben. »Wir machen weiter«, sagte King(6), »in dem festen Glauben, dass das, was wir tun, richtig ist, und in dem noch festeren Glauben, dass Gott in diesem Kampf auf unserer Seite steht.«10 Als er vor seinem Haus eintraf – noch immer wusste er nicht, ob seine Frau und das Baby in Sicherheit waren –, empfingen King chaotische Szenen. Der Verkehr hatte sich gestaut und eine Menschenmenge aus mehreren Hundert Afroamerikanern hatte das Haus umstellt. Die Polizei bemühte sich nach Kräften, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Jo Ann Robinson(1), eine Englischlehrerin am Alabama State College(1) und führende Aktivistin, schilderte, wie die Polizei »vergeblich versuchte, die Leute dazu zu bewegen, den Bereich des Anschlags zu verlassen. Die Menge war gefährlich ruhig, die Atmosphäre spürbar angespannt. Einer der Polizisten rief: ›Geht doch nach Hause, Leute, es ist niemand verletzt.‹ Keiner rührte sich; keiner sagte ein Wort. Das Schweigen war anklagend, nervtötend, bedrohlich …«11 Ein Schwarzer schlug einem Polizisten sogar vor, die Sache mit Waffen auszutragen: »Ich bewege mich nirgendwohin. Das ist ja genau das Problem; ihr Weißen schubst uns ständig rum. Und jetzt hast du deine 38er und ich hab meine, also tragen wir’s doch aus Mehrere Männer und ältere Jugendliche hatten Messer und Flaschen mit abgeschlagenen Hälsen dabei, ein gewaltsamer Aufstand war also eine sehr reale Möglichkeit. Daher konnte es auch kaum überraschen, dass Bürgermeister W. A. Gayle(1) und Polizeipräsident Clyde Sellers(1), die kurz nach der Explosion vor dem Pfarrhaus eingetroffen waren, »totenbleich« waren. Eilig schritt King über seine zerstörte Veranda, betrat das Haus und begab sich sofort ins Schlafzimmer. Als er seine Frau und sein Kind unverletzt vorfand, war er überwältigt vor Erleichterung.12 (5)Dann begab sich der 27 Jahre alte Prediger, noch immer in Mantel und Anzug, zurück auf die Veranda und bat um Ruhe. »Im Handumdrehen«, so erinnerte er sich später, »trat vollständige Stille ein.« Nachdem er mitgeteilt hatte, dass seine Frau und seine Tochter in Sicherheit waren, bat er die Menge, friedlich zu bleiben: »Wir glauben an Recht und Ordnung. Bitte werdet nicht panisch … Lasst eure Waffen stecken. Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. Gott hat das gesagt, vergesst das nicht. Wir plädieren nicht für Gewalt. Wir wollen unsere Feinde lieben. … Ich habe diesen Boykott nicht angefangen. Ihr habt mich gebeten, als euer Sprecher aufzutreten. Ich möchte, dass jeder weit und breit in diesem Land weiß: Wer mich aufhält, hält nicht diese Bewegung auf. Wenn ich aufgehalten werde, wird unsere Arbeit fortgesetzt. Denn was wir tun, ist richtig. Was wir tun, ist gerecht. Und Gott ist mit uns Die Menge rief: »Amen« und »Gott segne dich, Bruder King.« Jahre später beschrieb Coretta(3) die emotionale Reaktion auf die außergewöhnlichen Worte ihres Mannes: »Viele Leute weinten. Ich konnte auf ihren Gesichtern Tränen schimmern sehen … sie waren zutiefst bewegt, wie in heiliger Verzückung Sicher war es ein bemerkenswerter Auftritt unter größtem Druck gewesen. (6)

Als nun Clyde Sellers(2) versuchte, zu der Menge zu sprechen, erhob sich ein Chor aus lauten, wütenden Buhrufen, was King noch einmal zum Eingreifen nötigte: »Vergesst nicht, was ich gerade gesagt habe. Hört den Polizeichef an.« Auf Sellers’ Zusicherung von »Polizeischutz für die Familie King« und seine Absage an jede Form von Gewalt folgte die Ankündigung von Bürgermeister Gayle(2), er werde sich »wenn nötig bis zu meinem letzten Atemzug dafür einsetzen, dass die Schuldigen gefunden und verurteilt werden«. Und er bot eine Belohnung von 500 Dollar an. King(7) bat schließlich alle, »heimzugehen und ruhig zu schlafen«. »Geht heim und macht euch keine Sorgen«, sagte er. »Seid so ruhig, wie ich und meine Familie es sind. Wir sind nicht verletzt – und vergesst nicht, wenn mir irgendetwas zustoßen sollte, dann sind andere da, die meinen Platz einnehmen werden13 Robinson(2) erinnerte sich, dass die Menge sich nach dem Ende von Kings Ansprache allmählich wegbewegte, »wie eine gewaltige Welle, die still, ruhig und gehorsam flussabwärts strömt«. Und man hörte einen weißen Polizisten ausrufen: »Wenn dieser Niggerprediger nicht gewesen wäre, wären wir jetzt alle tot.«14 (7)

Im Jahr 1956 waren die Vereinigten Staaten das mächtigste, reichste Land der Welt. Ein durch Konsumismus, Militärausgaben und technologischen Fortschritt angekurbelter Nachkriegs-Boom hatte spektakuläre Anstiege des Bruttoinlandsprodukts erbracht (es stieg zwischen 1950 und 1959 um 72 Prozent), außerdem Vollbeschäftigung und einen steigenden Lebensstandard. Die Amerikaner kauften begeistert die neuesten Verbrauchsgüter – darunter Autos, Kühlschränke, Fernsehgeräte, Waschmaschinen –, und Millionen Familien richteten sich als neue Mittelklasse in den Vorstädten ein, die im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden schossen. Automatisierung und Produktivitätssteigerungen bedeuteten im Verein mit dem Wachstum des Dienstleistungs- und Konsumsektors, dass die Vereinigten Staaten zur ersten »post-industriellen« Volkswirtschaft der Welt wurden – und im Jahr 1956 gab es erstmals mehr Angestellte (»White-Collar-Worker«, also Beschäftigte in Büro-, Handels-, Dienstleistungs- und ähnlichen Berufen) als Arbeiter und Handwerker (»Blue-Collar-Worker«).15 Die (2)USA hatten sich außerdem vom Isolationismus der 1930er-Jahre verabschiedet und waren nun die erste Supermacht der Welt. Gestützt auf massive militärische Stärke (zu der ein ausgedehntes Netz überseeischer Stützpunkte und eine beträchtliche Atombomber-Flotte gehörten) bekräftigten die USA ihren unerschütterlichen Einsatz für die Demokratie, als sie sich in den ersten Jahren des Kalten Krieges an die Spitze der Reaktion der freien Welt auf die internationale Bedrohung durch den Kommunismus stellten.16 Doch bei aller Macht, allem Reichtum und Nationalstolz hegten die Vereinigten Staaten ein schmutziges Geheimnis: Millionen amerikanischer Bürger fristeten ein Dasein zweiter Klasse, sie waren vom wirtschaftlichen Wohlstand und von den demokratischen Versprechungen des Landes ausgeschlossen. »Jim Crow«, ein fest verwurzeltes System weißer Vormachtstellung, das im gesamten Süden der (3)USA wirksam war, unterwarf afroamerikanische Männer, Frauen und Kinder zahllosen großen und kleinen Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen. Und nirgends hatte man ein empfindlicheres Gespür für diese täglichen Beleidigungen als in Montgomery, Alabama(8).

Montgomery liegt oberhalb des Steilufers am Alabama River, im Herzen des reichen, fruchtbaren Black Belt(1), und war früher ein wichtiges Zentrum des Baumwoll- und Sklavenhandels. Während des Bürgerkrieges war Montgomery die erste Hauptstadt der Konföderation – am 18. Februar 1861 hatte Jefferson Davis(1) seinen Amtseid als Präsident vor den Säulen des imposanten Alabama State Capitol(1) abgelegt.17 Mitte des 20. Jahrhunderts war Montgomerys Wirtschaft dann stark von den umliegenden, agrarwirtschaftlich geprägten Landkreisen (in der Stadt waren Holz-, Möbel- und Düngemittelfabriken entstanden) sowie von zwei nahegelegenen US-Luftwaffenstützpunkten abhängig.18 Wie in anderen Gemeinden des amerikanischen Südens hatten die schwarzen Amerikaner der Stadt keine politischen und wirtschaftlichen Rechte, und sie waren Opfer einer entwürdigenden Diskriminierung. Obwohl über ein Drittel der (insgesamt 120 000) Bürger Montgomery(9)s schwarze Amerikaner waren, durften nur rund acht Prozent zur Wahl gehen. Viele Tausend potentielle schwarze Wähler wurden mittels gesetzlicher Einschränkungen (um wahlberechtigt zu sein, musste man über ein Vermögen von mindestens 500 Dollar verfügen), eines Lese- und Schreibtests (der absurderweise von weißen Beamten durchgeführt wurde) und wirtschaftlicher Zwänge und Einschüchterungen an der Wahrnehmung ihres Wahlrechts gehindert.19 Auch ökonomisch waren die schwarzen Amerikaner der Stadt benachteiligt: Das durchschnittliche Einkommen einer schwarzen Familie lag bei rund 1000 Dollar pro Jahr – das war die Hälfte des Einkommensdurchschnitts der Gesamtbevölkerung –, und eine Mehrheit der erwachsenen Schwarzen war arbeitslos. Wer Arbeit hatte, war überwiegend im Dienstleistungssektor oder als Landarbeiter tätig; mehr als die Hälfte der arbeitenden schwarzen Frauen waren als Dienstboten bei reichen Weißen beschäftigt.20

Ein rigides und umfassendes Rassentrennungssystem, gestützt auf Gesetz und Gewohnheit, ließ praktisch keinen Lebensbereich unberührt. Schulen, Krankenhäuser, Parks, Toiletten, Hotels, Theater, Restaurants, die öffentlichen Verkehrsmittel – sogar Trinkbrunnen: Alles war getrennt.21 Zwar hatte das Oberste Bundesgericht im Jahr 1896 das Prinzip der »Trennung bei Gleichheit« (»separate but equal«) formuliert, doch die Jim-Crow-Gesetze zielten ganz unverblümt darauf, die Vorrechte für Weiße zu zementieren. Einrichtungen für Schwarze waren minderwertig, und Schwarze waren Opfer entwürdigender Behandlung. Eine Schwarze, die in den 1940er- und 1950er-Jahren in Montgomery aufwuchs, erinnerte sich daran, wie ihr die Mandeln entfernt wurden: Der Flügel für die Schwarzen im St. Margaret’s Hospital(1) war ein kleines Haus hinter den Hauptgebäuden. Als sie das Krankenhaus wegen Nachuntersuchungen erneut aufsuchte, stellte sie fest, dass das »schwarze« Wartezimmer auch als Abstellkammer des Hausmeisters diente.22

Das in Montgomery(10) praktizierte System der Rassentrennung in Bussen war besonders infam. In den Bussen der Montgomery City Lines waren die ersten zehn Sitzreihen für Weiße reserviert, die letzten zehn (oberhalb des Motors) für Schwarze. Die 16 Sitze im mittleren Teil wurden nach Bedarf genutzt. Wenn allerdings die weiße Abteilung voll war, dann durfte der Busfahrer die Schwarzen auffordern, diese mittleren Sitze und sogar eine ganze Reihe für einen weißen Fahrgast freizumachen. Eine schwarze Person durfte nicht neben einer weißen, ja nicht einmal in derselben Reihe wie eine weiße Person sitzen. Diese Regel hatte zur Folge, dass unter Umständen bis zu vier Fahrgäste aufstehen mussten, damit ein weißer Fahrgast sich setzen konnte. Außerdem war der weiße Bereich vorne für Schwarze komplett unzugänglich: Auch wenn alle anderen Sitzplätze im Bus besetzt waren und sich kein einziger weißer Fahrgast im Bus befand, durften Schwarze dort nicht sitzen. Sie durften diesen Abschnitt nicht einmal passieren: Wenn sie vorne beim Fahrer bezahlt hatten, mussten schwarze Fahrgäste, häufig beladen mit schweren Einkaufstaschen, selbst bei Wind und Wetter wieder aussteigen und hinten einsteigen. Es kam durchaus vor, dass besonders gemeine Busfahrer losfuhren, bevor die schwarzen Fahrgäste wieder eingestiegen waren.23 Jo Ann Robinson(3) berichtete, dass »es wirklich Tausende von Malen vorkam, dass Neger neben Sitzen stehen mussten, die für Weiße ›reserviert‹ waren. Häufig war überhaupt kein einziger Weißer im Bus … Trotzdem drängten sich schwankend 30 oder 40 schwarze Passagiere im Gang, Männer und Frauen, Alte und Junge, Mütter mit Babys im Arm oder Frauen mit riesigen Taschen, und da kam es dann schon auch mal vor, dass jemand einfach über diese leeren Sitze fiel …«24 Schwarze Amerikaner wurden außerdem von weißen Busfahrern häufig schikaniert. Eine Frau erklärte, schwarze Fahrgäste wurden »unglaublich unhöflich behandelt. Als wären wir keine Menschen, sondern Vieh25

In dem Jahrzehnt nach Kriegsende hatte sich die Situation der Afroamerikaner in Montgomery(11) ein wenig verbessert: Der Bildungsstandard war gestiegen, ein Krankenhaus und eine Stadtbibliothek für Schwarze waren eröffnet worden, die (immer noch bescheidene) Anzahl schwarzer Wähler hatte sich verdoppelt, und im Anschluss an eine gemeinsame Kampagne der großen afroamerikanischen Organisationen der Stadt wurden mehrere Schwarze als Polizisten eingestellt (und stießen zu einer Truppe, die in Bezug auf physische und sexuelle Gewalt gegen Schwarze einen üblen Ruf hatte).26 Was allerdings das verhasste System der Rassentrennung in den Stadtbussen betraf, gab es kaum ein Anzeichen von Fortschritt. Im Oktober 1952 hatten schwarze Wortführer vorgeschlagen, die Stadt solle das System übernehmen, das in Mobile(1) funktionierte, einer 250 Kilometer südwestlich von Montgomery gelegenen Stadt: Dort nahmen die Schwarzen beginnend von hinten und die Weißen von vorne beginnend ihre Plätze ein, und die Rassentrennungslinie verlief jeweils dort, wo die Fahrgäste aufeinandertrafen.27 Bei einer Reihe von Treffen mit dem Gemeinderat 1953 und Anfang 1954 schloss sich der Women’s Political Council(1) (WPC, eine Bürgerinitiative aus Mittelschichtfrauen, die den wachsenden Ruf genoss, sich für die Rechte der Schwarzen einzusetzen) mit anderen schwarzen Organisationen zusammen, um ein flexibleres Trennungssystem durchzusetzen.28 Auch sie äußerten sich besorgt über die beklagenswerte Behandlung schwarzer Fahrgäste und monierten, dass es in den schwarzen Stadtvierteln weniger Bushaltestellen gab. Man versprach zusätzliche Haltestellen, und nach einem Appell des Bürgermeisters verbesserte sich auch das Verhalten der Busfahrer – allerdings nur vorübergehend. Keine Zugeständnisse jedoch gab es hinsichtlich der Sitzplatzregelung.29 (12)

Am 21. Mai 1954, nur vier Tage nach der historischen Entscheidung des Obersten Bundesgerichts in der Sache Brown v. Board of Education, Topeka, Kansas(1), dass nach Rassen getrennte Schulen »grundsätzlich verfassungswidrig« seien, schrieb Robinson(4) im Namen des WPC an Bürgermeister Gayle(3). Sie wiederholte die Forderungen nach einer flexibleren Sitzplatzpolitik und verlangte, dass Schwarze im Bus vorne einsteigen dürften. Robinson wies darauf hin, dass die Unterstützung durch die Afroamerikaner, die drei Viertel des Fahrgastaufkommens ausmachten, entscheidend sei für die Wirtschaftlichkeit der Busgesellschaft: »Immer mehr von unseren Leuten bilden jetzt schon Fahrgemeinschaften mit Nachbarn und Freunden, um so den Beleidigungen und Demütigungen durch Busfahrer aus dem Weg zu gehen.« Robinson versicherte dem Bürgermeister zwar, der WPC(2) würde sich auch weiter dafür engagieren, »allseits akzeptable Bedingungen« auf »ruhige, moderate Weise« sicherzustellen, doch sie wies auch warnend darauf hin, dass »schon jetzt Pläne gemacht werden, unsere Busse nicht mehr so häufig oder überhaupt nicht mehr zu benutzen«.30

Die Wahl von Clyde Sellers(3) in den Stadtrat im Frühjahr 1955 machte dann aber Robinsons Hoffnungen auf einen leisen und allgemein akzeptablen Fortschritt zunichte. Sellers, Geschäftsmann und ehemaliger Leiter der staatlichen Autobahnpolizei, meinte, dass er seinen Gegenkandidaten – einen in der Rassenfrage moderat eingestellten Mann, der zwei Jahre zuvor gewählt worden war – am besten besiegen konnte, indem er an die Vorurteile der Weißen appellierte.31 Er tat sämtliche Äußerungen, die eine Änderung der Trennung in den Bussen befürworteten, als »illegal« ab, positionierte sich eindeutig gegen jegliche weitergehende Zugeständnisse gegenüber den Afroamerikanern und erklärte: »Ich werde weder meine Prinzipien in Frage stellen« noch »mein Geburtsrecht als Südstaatler missachten … Ich werde mich nicht wegen ein paar schwarzer Wählerstimmen einschüchtern lassen.«32 Die Strategie ging hundertprozentig auf, und Sellers(4) trug einen überwältigenden Sieg davon.33

Sellers’ Erfolg fiel zeitlich mit einem Zwischenfall in einem der Busse von Montgomery(13) zusammen: Claudette Colvin(1), eine 15-jährige Schülerin an der Booker T. Washington High School und Mitglied des Jugendverbands der örtlichen NAACP (National Association for the Advancement of Colored People(1) – Nationale Vereinigung zur Förderung Farbiger), wurde am 2. März verhaftet, weil sie sich weigerte, von ihrem Sitzplatz im Bus aufzustehen.34 Colvin erinnerte sich, zu dem Busfahrer gesagt zu haben: »Ich bin genauso viel wert wie jede weiße Person, und ich werde nicht aufstehen.«35 Auch nach dem Eintreffen der Polizei weigerte sich Colvin, ihren Platz zu räumen, woraufhin sie, die sich strampelnd und kratzend zur Wehr setzte, aus dem Bus gezerrt wurde.36 Nachdem sie von Colvins Verhaftung erfahren hatten, erwogen Robinson(5) und E. D. Nixon(1) (ein schwarzer Arbeiterführer und politischer Aktivist), den Zwischenfall zu nutzen, um das Rassentrennungsgesetz in Bussen gerichtlich anzufechten. Der Vorwurf, dass Colvin sich gegen ihre Verhaftung gewehrt habe, und die anschließende Entdeckung, dass sie schwanger war, hatten dann allerdings zur Folge, dass man das Vorhaben aufgab.37 Über Colvins Verurteilung am 18. März war die schwarze Gemeinschaft jedoch so erbost, dass viele Schwarze sich in einer offenbar spontanen Protestaktion mehrere Tage lang weigerten, die Busse zu benutzen.38

Um ungefähr halb sechs am Abend des 1. Dezember 1955, einem Donnerstag, verließ eine schwarze Frau mittleren Alters das Montgomery-Fair-Kaufhaus, (14)wo sie als Hilfsnäherin arbeitete. Sie kaufte in einer Drogerie in der Nähe Aspirintabletten, Zahnpasta und einige Weihnachtsgeschenke und bestieg dann den Bus, um heimzufahren. Rosa Parks(1) setzte sich auf einen der wenigen noch freien Plätze unmittelbar hinter dem vorderen, für Weiße reservierten Teil des Busses. Einige Haltestellen später fiel dem Busfahrer auf, dass mehrere Weiße standen, und er forderte die erste Reihe der schwarzen Fahrgäste auf, ihre Sitze freizumachen. Aber, so Parks später, »keiner von uns rührte sich«. »Jetzt macht’s euch nicht schwerer als nötig und gebt diese Sitze frei!«, sagte der Fahrer nachdrücklich, woraufhin der Mann neben Parks und die beiden schwarzen Frauen auf der anderen Seite des Gangs aufstanden. Parks rührte sich nicht. Gefragt, ob sie die Absicht habe aufzustehen, antwortete sie: »Nein, habe ich nicht.« Nun warnte sie der Fahrer, er werde die Polizei rufen. Aber Parks blieb sitzen. Wenige Minuten später kamen zwei Polizisten in den Bus, verhafteten Parks und nahmen sie mit zur nächsten Polizeiwache, wo sie verhört und in eine Zelle gesteckt wurde.39

Rosa war 1913 in Tuskegee(1) als Tochter eines Zimmermanns und einer Lehrerin geboren worden und auf einer von ihren Großeltern gepachteten Farm südlich von Montgomery aufgewachsen. 1924 zog sie zu Cousinen in die Stadt, so konnte sie die Montgomery Industrial School for Negro Girls(1) besuchen (die nach ihrer Gründerin den Namen »Miss White’s School« trug). Dort lernte Rosa Stenographie, Maschineschreiben und Nähen, außerdem entwickelte sie ein starkes ethnisches Selbstwertgefühl. Anschließend immatrikulierte sie sich an der höheren Laborschule des Alabama State College(2), wo sie (nach einer Unterbrechung, als sie sich um ihre kranke Mutter kümmern musste) im Jahr 1933 ihren Abschluss machte. Im Jahr zuvor hatte sie Raymond Parks(1) geheiratet, einen zehn Jahre älteren Friseur. Zur Zeit ihrer Festnahme war Rosa Parks(2) 42 Jahre alt und festes Mitglied der schwarzen Führungsschicht von Montgomery. (15)1943 war sie in den Ortsverband der NAACP(2) eingetreten und hatte dort die Funktion der Schriftführerin inne, im Jahr darauf leitete sie eine Kampagne zur Untersuchung der Gruppenvergewaltigung einer jungen Schwarzen durch sechs weiße Männer.40 1948 wurde sie zur Schriftführerin der landesweiten Konferenz gewählt, vier Jahre später erklärte sie sich bereit, die Funktion einer erwachsenen Beraterin im Jugendverband der NAACP zu übernehmen. Infolge ihres Engagements lernte Parks mehrere Schlüsselfiguren der Bürgerrechtsszene kennen: die NAACP-Leiterin Ella J. Baker(1), Robert L. Carter(1), einen der führenden Anwälte der Vereinigung, den örtlichen Arbeiterführer E. D. Nixon(2) und das fortschrittliche weiße Ehepaar Clifford(1) und Virginia Durr(1), Bürger Montgomerys und ehemals prominente Unterstützer von Franklin D. Roosevelt.41 Die Durrs, mit denen Parks relativ eng befreundet war, hatten sie ermutigt, im August 1955 an einem gemischtrassigen Trainings-Workshop an der Highlander Folk School(1) in Monteagle, Tennessee,(1) teilzunehmen. Auf der Folk School, die sich für die Verständigung zwischen den Rassen und die Organisation der Basis engagierte, machte Parks(3) inspirierende Erfahrungen; dem Schulleiter Myles Horton(1) sagte sie: »Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben stellte ich fest, dass dies eine geeinte Gesellschaft sein konnte, dass es tatsächlich möglich war, dass Menschen unterschiedlicher Rassen und sozialer Herkunft in Workshops zusammenkamen und in Frieden und Harmonie miteinander lebten.« Zwar war sie nach wie vor pessimistisch, was die Veränderungschancen in Montgomery anging – sie hielt die Gemeinschaft der Schwarzen dort für »zaghaft« und außerstande »zusammenzuhalten« –, doch sie hatte, so ihre Worte, »die Kraft gewonnen, sich auch weiterhin beharrlich für die Freiheit zu engagieren«.42

Wie so viele ihrer schwarzen Nachbarn hegte Parks eine tiefe Antipathie gegen das System der Rassentrennung in Bussen, das von den Montgomery City Lines (16)praktiziert wurde: Ihrer Meinung nach »war es schon erniedrigend genug, sich aufgrund der Rasse, der man angehörte, nur in einen bestimmten Busabschnitt setzen zu dürfen, aber aufstehen zu müssen, weil irgendein Fahrer es einem Weißen ersparen wollte, stehen zu müssen – das war meines Erachtens völlig unmenschlich«.43 Im Laufe der Jahre hatte Parks bereits mehrere Auseinandersetzungen mit Busfahrern gehabt, und im Winter 1943 war sie von Fred Blake(1) – eben dem Fahrer, der sie dann auch am 1. Dezember 1955 aufforderte, ihren Sitz freizugeben – aus dem Bus geworfen worden.44

Rosa Parks(4) hatte nicht vorgehabt, an jenem kalten, dunklen Abend einen Protestakt zu inszenieren. Sie war müde und fühlte sich nicht besonders gut; später erklärte sie: »Ich beschloss schlicht, nicht aufzustehen.« Parks hatte allerdings ein ausgeprägtes Gespür für Ungerechtigkeit. In einem Interview erklärte sie 1956: »Jetzt war einfach der Zeitpunkt erreicht, an dem ich einmal zu viel herumgeschubst worden war und ich es nicht mehr aushielt …«45 Parks’ Weigerung, ihren Platz freizugeben, verschaffte den Wortführern der Schwarzen einen Anlass, die schon lange diskutierten Pläne für einen eintägigen Boykott der Stadtbusse umzusetzen.

Als E. D. Nixon(3) von Parks’ Verhaftung erfuhr, rief er auf dem Polizeirevier an, um weitere Informationen zu erhalten – er wurde damit abgefertigt, dass ihn das nichts anginge. Daraufhin wandte er sich sofort an Clifford Durr(2), dem man in seiner Eigenschaft als Anwalt die Einzelheiten mitteilte. Anschließend begab sich Nixon mit Clifford und dessen Frau Virginia umgehend zum (17)Stadtgefängnis, um die 100 Dollar Kaution zu bezahlen. Unterwegs sprachen sie darüber, den Fall Parks zum Testfall im Kampf gegen die Rassentrennung in den Stadtbussen zu machen. Parks’ Selbstvertrauen, ihr selbstsicheres Auftreten und ihr Ansehen in der Gemeinde machten sie zur idealen Kandidatin. Nachdem sie ihre Freilassung erreicht hatten, wurden die Gespräche in Parks’ Wohnung beim Kaffee fortgesetzt. Zunächst war Parks skeptisch, und ihr Mann machte sich Sorgen wegen möglicher Vergeltungsmaßnahmen vonseiten der Weißen, aber letztlich erklärte sie sich einverstanden: »Wenn Sie meinen, dass es so funktionieren kann, dann schließe ich mich Ihnen an.«46 Mittlerweile hatte sich Fred Gray(1), der führende schwarze Anwalt der Stadt, mit Jo Ann Robinson(6) in Verbindung gesetzt, um für Montag, den 5. Dezember – das war der Termin, der für Parks’ Gerichtsverhandlung angesetzt war –, die Möglichkeit eines eintägigen Bus-Boykotts zu erwägen. Nach weiteren Gesprächen wurde beschlossen, dass Robinson den Protestplan unter die Leute bringen sollte, während Nixon ein Treffen der schwarzen Wortführer der Stadt organisierte.47

In jener Nacht schlief Robinson nicht. Stattdessen verfasste sie ein Flugblatt und überredete einen Kollegen, ihr den Kopierraum des Alabama State College(3) aufzuschließen. Mit zweien ihrer zuverlässigsten Schüler arbeitete sie bis vier Uhr morgens: Zehntausende Flugblätter wurden hergestellt, die darüber informierten, dass »erneut eine schwarze Frau verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden ist, weil sieihren»WennSieIhreIhre(18)