Inhaltsverzeichnis
Enoch Schnurrenberger war in letzter Zeit mit den Seinigen zurückgekehrt, nachdem man in den Nachbargebieten mit der Sache wegen zu großer Tollheit aufgeräumt hatte und diesseits die Sektierer längst still geworden und ihre Geschichten halb verrochen, die eigentlichen Häupter aber entweder tot oder verbannt oder eingekerkert waren.
Nur Enoch konnte sich nicht ganz zur Ruhe geben; je weniger er noch bemerkt und beobachtet wurde, desto weniger verließ ihn der Drang, eine Darstellung zu machen und eine neue Gestalt zu finden, in welcher die rechte Zeit und das Tausendjährige Reich, wo er durchaus Vorsteher oder wenigstens Einnehmer werden wollte, abzuwarten sei.
Neuestens hatte er den Spruch: »Wer sich nun selbst erniedrigt, wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich!« wörtlich auszulegen und auszuüben begonnen. So saß er denn schon am Vormittage des zehnten Weinmonats 1531, statt der Arbeit nachzugehen, mit dem Anhange, der ihm geblieben und ihm heimlich nachzog, auf seinem abgelegenen Hofe und spielte kleines Kindlein. Er war gebückt und eingefallen, hatte einen langen weißen Bart, der ihm fast bis zum Nabel ging. Mit nackten Beinen hockte er in einem roten alten Weiberrock, der ein Kinderröcklein vorstellen sollte, auf dem Stubenboden, und baute ein kleines Fuhrwerklein von Brettchen, das er mit Spreuer belud und dazu mit Kinderlauten stöhnte: »Lo lo lo, dada da!« wobei ihm die eingetretene Engbrüstigkeit zu schaffen machte. Der Schneck von Agasul hatte sich von Zaunstecken einen Laufstuhl gezimmert, in welchem er umherhumpelte, einen Lutschbeutel im Munde. Manchmal zog er diesen heraus und rief: »Schneck heiß' ich, ein Schneck bin ich und hole dennoch den geschwinden Herrgott ein, der auf der Windsbraut reitet!« Der kalte Wirtz von Goßau an seinem Orte hatte eine Schnur um einen Ofenfuß gebunden und peitschte den Ofen unablässig mit einer Kindergeißel, bald auf dem Boden kauernd, bald auf dem Ofen sitzend wie auf einem Pferde. Den besten Teil hatte Jakob Rosenstil erwählt; er lag auf einem Strohsack in der Ecke und stellte das Kind in der Wiege vor, indem er versuchte, die große Zehe des rechten Fußes zum Munde zu bringen, was wegen seiner Beleibtheit nicht wohl möglich war. Ein paar fremde Weiber zogen Tannzapfen an langem Faden in der Stube herum, weil sie kein anderes Spielzeug zu schaffen wußten oder solches ihren eigenen Kleinen abgesehen hatten.
Zuweilen vereinigten sich alle die bejahrten Leutchen, bildeten einen Ring und tanzten im Kreise, sangen Kinderliedchen, klatschten in die Hände und hüpften in die Höhe.
Die alte Schnurrenbergerin stand in der Küche vor dem Herde, unter dem Arm eine von Lumpen gemachte Puppe haltend und ein blaues Kindermützchen, in welchem einst Ursula getauft worden, auf den grauen Haaren tragend, an welchen es notdürftig festgebunden war, doch so, daß es schief auf dem linken Ohre saß. Das machte eine unheimliche Wirkung bei dem Ausdruck von hoffnungslosem Kummer, der in ihrem runzlichten Gesichte nistete; denn sie fing an zu glauben, daß sie selber den Nutzen von ihres Mannes Klugheit doch nicht mehr genießen und er selbst den Sieg nicht mehr erleben werde. Sie kochte einen Haferbrei für die sämtliche Gesellschaft. Ursula saß vor dem Hause allein unter den Ahornbäumen, deren herbstliches schön gezacktes Laub einen goldenen von blauer Luft durchwirkten Himmel über ihr ausbreitete. Sie selber sah nicht bunt oder sonnig aus, sondern sie war ganz düster und dunkel in braune und graue Zeugstücke und Kleider gewickelt vom Kopfe bis zum Fuße, wie sie dieselben hatte zusammenlegen können; die Füße waren mit starken Ackerschuhen bekleidet, und neben ihr auf der Bank lag ein gut eingeschnürtes Päcklein und lehnte ein Stab; denn sie sagte seit Wochen schon, sie werde mit dem Engel Gabriel davonwandern, sobald er gesund sei. Diesen hielt sie nämlich in Gestalt eines heiligen Sebastian, eines hölzernen Männleins von ungefähr anderthalb Schuh Länge, im Arm. Der Vater hatte das Bildchen einst beim Plündern einer Kapelle vom Altare genommen und nach Hause gebracht, um irgendeinen Scherz damit zu treiben, die Ursula es aber weggenommen und verborgen, weil es in ihren Augen dem Hansli Gyr oder vielmehr jenem Engel glich, wegen der blonden Haare und der blauen Augen; denn das Holzbild war noch ziemlich frisch bemalt gewesen. Sie hatte ihm die Drahtpfeile, mit denen es besteckt war, sorgfältig ausgezogen und verband ihm nun täglich die rot angetupften Wunden mit weißen Leinwandstreifchen und wickelte den kleinen Herrn Gabriel liebevoll ein, nachdem sie jedesmal vergeblich versucht hatte, die auf den Rücken gebundenen Händchen loszulösen.
Sie beschaute den englischen Bräutigam immer nur, wenn sie sich ungestört glaubte, und wickelte ihn eben jetzt wieder in seine Binden und Tüchlein, indem sie die Figur mit aller Behendigkeit drehte und wendete.
Im Hause drin spielten sie nach ihrer Weise auch fort; zuweilen hielt der eine oder der andere eine kurze Predigt im Kinderton; dann aßen sie, was sie dürftig zusammengetragen hatten, und zankten sich scheinbar, wie die kleinen Kinder, um die größeren Bissen; Ursula dagegen holte sich etwas Nahrung und machte sich mit ihrem eingewickelten Schatze wieder beiseite. Als es aber gegen Abend ging, erhob sich Enoch plötzlich und sagte mit seiner gewöhnlichen unverstellten Stimme: »Nun haben wir genug getan für heute, ihr Kinder! Nun wollen wir Feierabend machen und noch ein wenig zusammensitzen!«
Sogleich juckten alle mit einem Frohgefühl in die Höhe, so rasch sie es in ihren verschiedenen Altersjahren vermochten, dehnten ihre Glieder, kratzten sich die Beine und saßen dann unverweilt um den Tisch herum, wo sie, wie ehemals, mit nüchternem Ernste anhuben, Karten zu spielen.
Kaum hatten sie aber eine halbe Stunde im tiefsten Ernste die Köpfe zusammengesteckt und die Karten auf den Tisch geschlagen, so wurden die Türen aufgestoßen und es stürmten zwei Männer in Waffen so aufgeregt herein, daß die Spieler zusammenfuhren und meinten, die öffentliche Gewalt breche wieder über sie los. Es war jedoch der benachbarte Landmann, der den Hof des Hansli erworben hatte, mit seinem Sohne.
»Hört ihr denn gar nichts, was in der Welt vorgeht?« riefen die Männer; »macht doch die Fenster auf! Der Rottmeister Gyr reitet wie der wilde Türst durch die Dörfer und rafft Volk zusammen! Die fünf Orte sind aufgebrochen und stehen in großer Zahl an der Grenze; alles muß nach Zürich! Hört ihr, wie der Landsturm geht? Lasset euere Narrenspossen und wahret Haus und Hof, so gut ihr könnt, und eile mit, wer noch Kraft hat! Denn euch geht's erst recht um Leib und Leben!«
Damit liefen sie davon und den Berg hinunter. Die erschreckten Leute traten vor das Haus und hörten, wie es überall Sturm läutete, Trommeln tönten, und sahen die Feuerzeichen auf den Hochwachten weit ins Land hinaus.
Staunend schauten und horchten sie; allein es war jedes Gefühl und Verständnis für die Bedeutung des Augenblicks abhandengekommen; fröhlich oder spöttisch gelaunt wurden sie gerade nicht, weil es ihnen keineswegs geheuerlich vorkam und sie zu erschrocken waren, und so gafften sie denn in Gottes Namen blöde in die erregte Nacht hinaus.
Ursula aber hatte im Ofenwinkel, wo sie saß und wachend träumte, bei den Worten der Nachbarn das Haupt erhoben, und als sie den Hansli nennen gehört, augenblicklich die Holzpuppe fallen gelassen, den Stab und das Bündel ergriffen und war still aus dem Hause entwichen. Sie spähte und lauschte eine Weile in die dunkle Welt hinaus, sah die Feuer und hörte die Sturmglocken; dann schritt sie ohne Aufenthalt in der Richtung nach der tiefern Gegend, welche die beiden Bewaffneten eingeschlagen hatten. Im nächsten Dorfe sah sie einen kleinen Trupp Wehrleute, die sich bereits versammelt hatten; die zogen weiter und vereinigten sich auf dem Wege mit anderen, und so ging es die Nacht hindurch, bis die zusammengeeilten Männer die Stadt erreichten, und immer wanderte und wanderte die dunkle Gestalt der Ursula ungesehen hinter den Scharen und gelangte unbehelligt mit ihnen durch das Tor.
Alle Straßen waren beleuchtet und es wurde gerufen, befohlen, gerüstet und ab- und zugegangen. Die Vorhut war schon am Nachmittage nach Kappel gezogen; jetzt sammelte sich nur langsam das überraschte Volk. Es wurde eingereiht und abgezählt, gespiesen und getränkt, was da war; Ursula huschte unter der wogenden Bevölkerung hin und her und sah den Hansli Gyr deutlich und genau, wie er im Fackellichte, jetzt zu Fuß und ganz ruhig auf und nieder ging und die Züge ordnen half. Sie erkannte ihn, wie sie sich später erinnerte, jetzt zum erstenmal wieder als ihn selbst, hütete sich aber, ihm unter das Gesicht zu kommen, und ebensosehr, ihn aus dem Gesichte zu verlieren. Erst als er nach Tagesanbruch in ein Haus ging, setzte sie sich unweit desselben mit verhülltem Kopfe auf einen Wehrstein und ruhte aus. Als aber gegen Mittag endlich das Banner abzog, war sie schon auf der Straße nach dem Albisberge vorausgegangen und schlüpfte längs derselben in den anstoßenden Wäldern unverdrossen dahin.
Mitte Weges ruhte sie wieder aus und sah durch die Bäume hindurch das unvollständige und in Verwirrung aufgebrochene Heerwesen vorüberziehen. Reiter, Geschütz, Fußvolk waren durcheinander gemengt; doch der tiefe Ernst, welcher über den Ziehenden schwebte, und das schöne, der Ursula ungewohnte Aussehen derselben, muteten sie wie eine reinere Luft an. Unter den stattlichen Männern, die in der Nähe des Banners ritten, war Ulrich Zwingli selbst, und sein sympathischer Anblick erhellte die Seele des unverwandt schauenden Weibes. Der schlanke Mann trug über dem langen Gelehrten- oder Predigerrocke einen guten Stahlharnisch, seinen Kopf schützte ein eigentümlicher runder Stahlhut mit breitem Rande, auf der Schulter lehnte eine halblange eiserne Halbarte oder eher Streitaxt von zierlicher Form, und an seiner linken Seite hing das Schwert. Aber trotz allen diesen Waffen lag auf seinem schön geprägten Gesichte ein so ahnungsvoll trauriger, frommer und ergebener Ausdruck; die Lippen beteten leise vor sich hin, aber so sichtbar aufrichtig aus tiefstem Herzen herauf, daß von dieser Erscheinung ein lichter Strahl von Gesundheit und lindem Troste in ihre gequälte Brust hinüberzog und sie beinahe den Hansli übersehen hätte, der dem entschwindenden Reformator an der Spitze seiner reisigen Rotten folgte.
Sie rührte sich aber nicht und setzte ihren Weg erst wieder fort, als der Zug vorbei war und die Berghöhe überschritten hatte und sich zu sammeln begann. In weitem Bogen umkreiste die farblose Gestalt, vom Erdboden kaum zu unterscheiden, alle Bewegungen des kleinen Heeres, das seine Hauptstärke erst noch erwarten sollte, während verbündete Kriegsmassen untätig fern im Westen lagerten, die feindlichen Brüder aber achttausend Mann stark heranzogen.
Sie stand jetzt vor jenem Gehölze zur Linken der Zürcher Stellung, welches zu besetzen diese versäumt hatten, und sah beide Heere; der Geschützkampf, der schon seit geraumer Zeit angefangen, scheuchte sie jedoch in das Innere des Waldes. Sie fand eine alte Buche, deren starke Wurzeln eine Bucht bildeten und überdies eine kleine Erdhöhlung umspannten; in diesen Schutzort schmiegte sie sich hinein und saß da wohlgeborgen, wie sie glaubte. Sie öffnete jetzt rasch ihr Reisebündelchen, da die Zeit gekommen war, sich zu stärken, und zog ein Fläschchen Wein und ein Stück getrockneten Fleisches mit Brot hervor, aß und trank und war ziemlich guter Dinge; atmete sie doch die gleiche Luft mit dem Manne, dem sie nachging.
Jetzt knisterte und schallte es aber auf einmal in den Bäumen und in ihrem Rücken; die wenigen Schützen von Uri, welche die Stellung und die hier mögliche Umgehung der Zürcher erkundeten, hatten das Gehölz besetzt und schossen aus demselben, worauf die Zürcher einen Teil ihres Geschützes herwendeten und ihre Kanonenkugeln über Ursulas Haupt in die Bäume schlugen.
Sie saß unbeweglich still, kein Auge sah das in sich geduckte graubraune Häuflein Menschenleben.
Dann wurde es wieder still um sie her; die Schützen hatten das Gehölz verlassen, um die bisher zum Angriff noch unentschlossene Hauptmacht der Katholischen heranzurufen. Dann nahte das Gewitter in Ursulas Rücken wirklich heran; zu vielen Tausenden brach der Gewalthaufe der fünf Orte durch Wald und Gebüsch und zu beiden Seiten darüber hinaus, daß, wie der Chronist sagt, ein so gewaltiges Getöse, Prasseln und Brausen entstand, als ob die Erde erbebte und der Wald brüllte. Ursula duckte sich mit gefalteten Händen; aber es schien kein Ende nehmen zu wollen. Links und rechts stürmten unaufhörlich neue Scharen ergrimmter Männer an ihr vorüber, sie sah jedoch fast nur deren breite Füße, unter welchen der Waldboden samt dem Unterbusch sich bald in eine zerstampfte Heerstraße verwandelte. Zum Glücke zerteilte der alte Buchenbaum, in dessen Wurzeln sie saß, den Strom des wilden Heeres in ihrem Rücken; um so betäubender tönten die Landhörner, Trompeten und Trommeln ihr in die Ohren, und sie lehnte sich zuletzt halb ohnmächtig an das gute und sichere Baumfundament.
Endlich aber wurde es abermals still um sie her. Die letzten waren vorübergeeilt, die ganze Heermenge war nun zwischen ihr und der geringen Schlachtordnung der Reformierten, welche zudem eben im Vollzug einer Wendung begriffen war.
Jetzt hörte Ursula das Geschrei des Angriffs die Luft erschüttern, als die Rache für vermeintlich oder wirklich erlittene geistige Verachtung mit einem Sturme von Schmähworten eröffnet und der furchtbare Gruß mit ebenso lautem und bitterem Schelten erwidert wurde.
Hierauf hörte sie das Getöse eines heftigen Schlagens, das aber nicht lange dauerte, da die Schlacht von jetzt an den unglücklichen Verlauf nahm, der für die Zürcher in den Sternen geschrieben stand.
Die Sonne neigte sich zum Untergange; unter den Gefallenen der Walstatt lagen bis auf wenige die angesehensten Zürcher, die ausgezogen, gegen dreißig Ratsglieder, ebenso viele reformierte Seelsorger, vielfach Vater und Sohn und Brüder nebeneinander, Land- und Stadtleute. Zwingli lag einsam unter einem Baume. Er hatte nicht geschlagen, sondern war nur mannhaft bei den Seinigen im Gliede gestanden, um zu dulden, was ihnen bestimmt war. Er war mehrmals gesunken, als die Flucht begonnen, und hatte sich wieder erhoben, bis ein Schlag auf und durch den Helm ihn an der Mutter Erde festgehalten.
Die sinkende Sonne glänzte ihm in das noch feste und friedliche Antlitz; sie schien ihm zu bezeugen, daß er schließlich nun doch recht getan und sein Amt als ein Held verwaltet habe. Wie die große goldene Welthostie des gereinigten Abendmahles schwebte das Gestirn einen letzten Augenblick über der Erde und lockte das Auge des darniederliegenden Mannes an den Himmel hinüber.
Vom Rigiberge bis zum Pilatus hin und von dort bis in die fernab dämmernden Jurazüge lagerte eine graue Wolkenbank mit purpurnem Rande gleich einem unabsehbaren Göttersitze. Auf derselben aber schwebten aufrechte leichte Wolkengebilde in rosigem Scheine, wie ein Geisterzug, der eine Weile innehält. Das waren wohl die Seligen, die den Helden in ihre Mitte riefen, und zwar, wie er einst an König Franz I. geschrieben, nicht nur die Heiligen des Alten und Neuen Testamentes und der Christenkirche, sondern auch die rechtschaffenen Heiden: Herkules, Theseus, Sokrates, Aristides, Antigonus, Numa, Camillus, die Katonen und die Scipionen. Und auch Pindaros war da mit schimmernder Kythara, dem der Sterbende einst eine begeisterte Vorrede geschrieben.
Auch der Mann, welchem Ursula in ihrem ahnenden Wandertriebe nachgegangen war, lag reglos dahingestreckt, etwa fünfzig Schritte von der Stelle, wo der ehrwürdige Bannerherr über der geglückten Rettung des Banners gefallen. Hansli Gyr hatte sich mannhaft geschlagen und die ersten Anfälle wiederholt abwehren geholfen. Als die Verwirrung und Flucht eintrat und das Banner niedergelassen worden, hörte er, selbst im Strudel mitgerissen, Hilfe für das Feldzeichen rufen. Sich einigen zustürmenden Feinden entgegenstellend, kämpfte er mit Hieb und Stoß gegen die Andringenden, was er vermochte, mußte aber einen Schritt um den anderen zurückweichen und stürzte, da er nicht hinter sich sah, rücklings in den Graben, der für den Tag so verhängnisvoll geworden. Schwer gerüstet, wie er war, hatte er auch einen schweren Fall getan und lag von der Erschütterung bewußtlos geworden in der Tiefe, die Füße nach oben gerichtet.
Als die Nacht auf das Land herniedergestiegen und Ursula unterscheiden konnte, daß die Schlacht vorüber war, trat sie aus dem Gehölze hervor. Sie sah das Feld von den zahlreichen Feuern der Sieger bedeckt und hörte deren Jubel. Alsobald merkte sie wohl, wer gesiegt habe, besann sich aber keinen Augenblick, vorwärts zu gehen und über das Schlachtfeld. Es kümmerte sich auch niemand um sie, als sie nun wie ein Nachtgeist herumstrich; denn es liefen aus dem Trosse der Sieger noch manche Weibsbilder unter den Männern herum. Überall, wo sie sah, daß man um Tote oder Verwundete beschäftigt war, trat sie herzu, fand aber nicht, was sie befürchtete, und trachtete voll Hoffnung, allmählich aus den Katholischen hinauszukommen und die zürcherischen Trümmer zu erreichen. Aus einem der Wachtfeuer hatte sie unbemerkt ein hellbrennendes Kienscheit gezogen und leuchtete sich unerschrocken durch diese seltsame nächtliche Welt voll Übermut, Freude, Elend und Todesschrecken. Schon wurde es dunkler und stiller, als sie an einen Steg gelangte, der über den Mühlegraben führte. Sie schaute wie zufällig seitwärts und sah, wie ein Lichtstrahl ihrer Fackel auf ein Waffenstück fiel, das in der Tiefe lag. Ohne Zögern kehrte sie um und stieg an dem buschigen Bord hinunter, wo unter Erlen ein Toter lag. Es war aber nicht Hansli; doch ging sie auf dem Grunde des Grabens, durch welchen sich das Wasser schlängelte, weiter und fand noch einen stillen Mann, aber auch nicht den rechten. Gleich der nächste aber, auf den sie stieß, war es. Sie erkannte ihn auf den ersten Blick. Augenblicklich begann sie, seine aufwärts am Bachbord liegenden Beine herunterzuziehen und ihm mit Mühe das Haupt zu erhöhen, und erst jetzt warf sie sich auf ihn und lauschte an seinem Munde. Er atmete noch, gab aber sonst kein Lebenszeichen; doch auch von Blut war nichts an ihm oder um ihn zu sehen. Hastig nestelte sie an Helm und Panzer, ohne sie loszubringen, und fing laut an dabei zu seufzen, besonders nachdem ihr auch der Kienbrand ins Bachwasser gefallen und erloschen war.
Da erschienen oben zwei Männer mit einer Fackel und leuchteten hinunter. »Da unten liegt auch einer am Ausweben!« sagte der eine, und der andere: »Wir wollen hinabsteigen, vielleicht ist's einer der Unsern!« – »Gotts Wunden! das ist ja ein Pärlein!« riefen sie, als sie unten anlangten.
»Den hab' ich auch schon gesehen!« fuhr der eine fort, als er dem Gefallenen ins Gesicht leuchtete.
»Auch ich, aber ich weiß nicht wo?« versetzte der zweite Kriegsmann, der aber, wie sein Kamerad, besänftigt und menschlich aussah.
»Wer ist der, der da liegt, und wer bist du selbst, du Nachtschatten?« fragten sie nun die Ursula.
»Es ist ein Rottmeister Hänslein Gyr und ein guter Mann,« erwiderte sie flehend; »habt Erbarmen, ihr Herren, und helfet ihm, denn er lebt noch!«
»So wahr Gott lebt, das ist jener Hansli!« und »Ein alter ehrlicher Kamerad! Wie die Jahre vergehen!« riefen nun die beiden voll Verwunderung aus. »Aber wer bist denn du selbst und wie kommst du in diesen Graben?«
»Ich bin seine Nachbarin, Kindergespielin und gewesene Braut und ihm nachgelaufen, ohne daß er's weiß!«
»Nun,« sagte der eine, »wem der Herrgott ein so treues Mensch geschenkt hat, den darf man nicht verderben lassen! Komm her, du Feldgespenst, wir wollen dir helfen!«
Die Befehlshaber der Fünförtigen hatten eben mit Trommelschlag verkünden lassen, daß keine Verwundeten oder Gefangenen mehr getötet werden dürfen, und so hatte es für die zwei Gesellen, die Schwyzer waren, keine Schwierigkeit, den Hansli aus dem Graben hinauszuarbeiten und ihn nach dem Kloster Kappel zu bringen, dessen reformierter Abt auch auf der Walstatt lag und das mit Verwundeten angefüllt wurde.
Hansli geriet durch Vorsorge der braven Männer in eine kleine Mönchszelle auf ein ordentliches Bett; die Ursula wich nicht von seiner Seite und lauschte auf jeden seiner Atemzüge. Erst am dritten Tage kam er wieder zu sich selbst; in acht Tagen aber konnte er das Bett verlassen, und als er sich, da sich eine Verletzung sonst nirgends zeigte, völlig erholt und seine Gedanken wieder beisammen hatte, fand er die ebenfalls durch die Ereignisse auf wunderbare Weise genesene Ursula in seiner nächsten Nähe, so nah er es nur wünschen konnte.
Sie wußte durchaus nicht zu sagen, wie sie von Hause fortgekommen sei, und doch waren ihre Gedanken und Augen jetzt vollkommen sicher und klar. Das Glück, das sie empfand, half ihr bald wieder zu blühenden Wangen; denn sie war wie ein gesegnetes Fleckchen Erde, das alsobald wieder ergrünt, sobald nur ein Sonnenblick und ein Tau darauf fällt.
Als die nächsten Folgen der Schlacht und auch die weiteren Kriegswirrsale sich verzogen, nahm Hansli Gyr die Ursula zur Frau nach der Vorschrift der bestehenden Ordnung, der sie sich nicht länger widersetzte, und zog mit ihr auf ihren eigenen Hof, wo der alte Enoch das Zeitliche gesegnet hatte und seine gebeugte und zerknistete Frau ihm gehorsam in das neue Jerusalem nachgefolgt war. Sie hatte aber, freilich hinter dem Rücken des Mannes, noch den Trost erlebt, die Tochter versorgt und glücklich zu sehen.
Der Rottmeister und seine Ehefrau aber lebten als würdige Glieder des Volkes, welches nach jener Schlacht die Regierung und die Führer, statt sie im allgemeinen Unglücke mit Vorwürfen zu überhäufen und mit Unzufriedenheit zu quälen, zur Standhaftigkeit aufmunterte und seiner Opferfreudigkeit versicherte, freilich nicht ohne seine aufrichtige Meinung über dies und jenes beizufügen, was vielleicht besser zu machen wäre. Und Hansli gehörte zu den Männern der Landschaft, welche mit wohlwollender Offenheit ihre Stimme erhoben, aber zugleich mit eiserner Zuverlässigkeit für das gemeine Wesen einstanden. Gegen zweihundert Jahre lang hausten seine Nachkommen auf dem gut bestellten Hofe, welcher der Gyrenhof genannt wurde. Den Winkelpropheten aber schenkte das brave Ehepaar jedesmal ein Glas Wein oder guten Apfelmost ein, so oft einer derselben mit irgendeiner neuen Lustbarkeit auf den Hof kam. Denn immer trieben sie etwas Schnurriges, obgleich sie nicht mehr predigten. Ihre Art spukt indes ab und zu immer noch um jenen Berg herum.
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Gegen das Ende der achtzehnhundertundzwanziger Jahre, als die Stadt Zürich mit weitläufigen Festungswerken umgeben war, erhob sich an einem hellen Sommermorgen mitten in derselben ein junger Mensch von seinem Lager, der wegen seines Heranwachsens von den Dienstboten des Hauses bereits Herr Jacques genannt und von den Hausfreunden einstweilen geihrzt wurde, da er für das Du sich als zu groß und für das Sie noch als zu unbeträchtlich darstellte.
Herrn Jacques' Morgengemüt war nicht so lachend wie der Himmel, denn er hatte eine unruhige Nacht zugebracht, voll schwieriger Gedanken und Zweifel über seine eigene Person, und diese Unruhe war geweckt worden durch den am Abend vorher in irgendeinem vorlauten Buche gelesenen Satz, daß es heutzutage keine ursprünglichen Menschen, keine Originale mehr gebe, sondern nur noch Dutzendleute und gleichmäßig abgedrehte Tausendspersonen. Mit Lesung dieses Satzes hatte er aber gleichzeitig entdeckt, daß die sanft aufregenden Gefühle, die er seit einiger Zeit in Schule und Haus und auf Spaziergängen verspürt, gar nichts anderes gewesen, als der unbewußte Trieb, ein Original zu sein oder eines zu werden, das heißt, sich über die runden Köpfe seiner guten Mitschüler zu erheben. Schon hatte sich in seinen Schulaufsätzen die kurze, dürftige Schreibweise ganz ordentlich zu bewegen und zu färben angefangen; schon brachte er hier und da, wo es angezeigt schien, ein kräftiges sic an und wurde deshalb von den Kameraden der Sikamber geheißen. Schon brauchte er Wendungen wie: »obgleich es scheinen möchte«, oder »nach meiner unmaßgeblichen Meinung«, oder »die Aurora dieser neuen Ära«, oder »gesagt, getan« und dergleichen. Ein historisches Aufsätzchen, in welchem er zwei entschieden einander entgegenwirkende Tatsachen rasch aufgezählt hatte, versah er sogar mit dem pomphaften Schlusse: »Man sieht, die Dinge standen so einfach nicht, wie es den Anschein haben mochte!«
Auch gab es unter seinen Sachen ein Heft immer weiß bleibenden Papiers, überschrieben: »Der neue Ovid«, in welches eine neue Folge von Verwandlungen eingetragen werden sollte, nämlich Verwandlungen von Nymphen und Menschenkindern in Pflanzen der Neuzeit, welche die Säulen des Kolonialhandels waren, dem das elterliche Haus sich widmete. Statt des antiken Lorbeers, der Sonnenblume, der Narzisse und des Schilfes sollte es sich um das Zuckerrohr, die Pfefferstaude, Baumwoll- und Kaffeepflanze, um das Süßholz handeln, dessen schwärzlichen Saft sie in jener Stadt Bärendreck nennen. Namentlich von den verschiedenen Farbhölzern, dann vom Indigo, Krapp usw. versprach er sich die wirkungsreichsten Erfindungen, und alles in allem genommen schien es ihm ein zeitgemäßer und zutreffender Gedanke zu sein.
Freilich boten die Erfindungen selbst nirgends eine Handhabe dar, bei welcher er sie anpacken konnte; sie waren sämtlich wie schwere, große runde Töpfe ohne Henkel, und aus diesem Grunde blieb jenes Heft bis auf die stattliche Überschrift durchaus rein und weiß. Aber das Dasein desselben, sowie noch einige andere Erscheinungen ungewöhnlicher Art, deren Aufzählung hier unterbleiben kann, bildeten eben dasjenige, was er nunmehr als Trieb zur Originalität entdeckte in dem gleichen Augenblicke, da diese Tugend dem damaligen Geschlechte rundweg abgesprochen wurde.
Ängstlich und fast traurig betrachtete Herr Jacques den schönen Tag, faßte dann aber seiner Jugend gemäß einen raschen Entschluß, nahm sein Taschenbuch, das für mannigfache Aufzeichnungen sinnreich eingerichtet war, zu sich und begab sich auf einen Spaziergang für den ganzen Tag, um seine Sache, die er meinte, zu erwägen, zu erproben und in Sicherheit zu bringen.
Erstlich bestieg er eine hohe Bastion, die sogenannte Katze, an welcher jetzt der Botanische Garten liegt, und arbeitete sich so über seine Mitbürger empor, indem er über die Stadt hinblickte.
Alles war in täglicher Arbeit und Tätigkeit begriffen; nur ein kleiner, schulschwänzender Junge schlich um Herrn Jacques herum und schien ebenfalls ein Original werden zu wollen, ja ihn an Begabung bereits zu übertreffen; denn man konnte beobachten, wie der Kleine in ein Kasemattengemäuer schlich, dort einen künstlich angelegten Behälter öffnete, Spielsachen und Eßwaren hervorholte und sich mutterseelenallein, aber eifrig zu unterhalten begann.
So war alles betätigt, selbst der blaue See fernhin von den Segeln der Last- und Marktschiffe bedeckt, müßig allein die stille weiße Alpenkette und Herr Jacques.
Da sich nun auf dieser Katze keine erfreuliche Erfahrung oder Auszeichnung darbieten wollte, so stieg er wieder hinunter und ging aus dem nächsten Tore, sich bald an den einsamen Ufern des Sihlflusses verlierend, der wie herkömmliche durch die Gehölze und um die aus dem Gebirge herabgewälzten Steinblöcke schäumend dahineilte. Seit hundert Jahren war diese dicht vor der Stadt liegende romantische Wildnis von den zürcherischen Genies, Philosophen und Dichtern mit Degen und Haarbeutel begangen worden; hier hatten die jungen Grafen Stolberg als Durchreisende genialisch und pudelnackt gebadet und dafür die Steinwürfe der sittsamen Landleute eingeerntet. Die Felstrümmer im Flusse hatten schon hundertmal zu den Robinsonschen Niederlassungen junger Schulschwänzer gedient; sie waren geheimnisvoll von dem Feuer geschwärzt, in welchem geraubte Kartoffeln oder unglückselige Fischchen gebraten worden, die den Robinsons in die Hände gefallen. Herr Jacques selber hatte mehrere dergleichen Projekte hervorgebracht. Allein, ein besserer Kaufmann als Robinson, hatte er dieselben, das heißt die Wahl des Platzes und das Einzelne der Ausführung, jedesmal für bares Geld an andere Knaben abgetreten, worauf die Käufer dann ebenso regelmäßig infolge dieser Wahl und Ausführung von den Bauern als Holzfrevler und Felddiebe überfallen und geprügelt worden waren.
Dieses erinnerungsreiche Ufer entlang wandelte Herr Jacques, die offene Schreibtafel in der einen, den Stift in der anderen Hand und ganz gewärtig, die Zeugnisse seiner Originalität zu beglaubigen, welche die rauschenden Wasser ihm bringen sollten. Allein der fleißige Strom hatte anderes zu tun, er mußte den Bürgern von Zürich das gute Buchenholz zutragen, welches sie aus dem schönen Walde bezogen, den ihnen nach der Überlieferung zur alten Reichszeit die Kinder König Albrechts von Österreich aus dem Gute eines seiner Mörder für loyales Verhalten geschenkt, oder aus jenem Forste, den Ludwig der Deutsche der Abtei Zürich gewidmet. Zu vielen Tausenden kamen, den Fluß bedeckend, die braven Holzscheite aus den mächtigen Wäldern stundenweit hergeschwommen, und der Fluß, von früherem Regenwetter angeschwollen, mit weggeschwemmtem Erdreich gesättigt und schmutzig gefärbt, warf die Last mit wilder Kraft vor sich her, als der ungeschlachte Holzknecht der guten Stadt, daß das Holz gar eilig in deren Bereich sich sputete.
An diesem Anblicke hätte nun Herr Jacques sich zu einem fruchtbringenden Gedanken erheben und, den Lauf der Zeiten verfolgend, das Auge in die graue Vorzeit versenkend, den Bestand der menschlichen Dinge erwägen, oder er hätte das Lob jenes grünen Waldes singen können, der in der Hand ausdauernder Bürgerkraft allein noch lebte von all der Herrlichkeit verschollener Ritter und Abteien, noch so frisch und grün, wie vor einem halben oder bald ganzen Jahrtausend.
Doch konnte er nicht auf solche Abschweifungen geraten, weil er sofort begann, die Holzscheite, so schnell er konnte, innerhalb eines ungefähren quadratischen Bezirkes zu zählen, die mutmaßliche Fläche, welche zu einem Klafter wohlgemessenen Buchenholzes gehören mochte, zu überschlagen, dann solche Flächen abzugrenzen und zu zählen, und endlich den Wert des vorüberschwimmenden Holzes auszurechnen, so daß er, nachdem er kein Auge verwendend und die Uhr in der Hand eine halbe Stunde flußaufwärts gegangen war, auf seiner Schreibtafel die ziemlich wahrscheinliche Summe trug, für welche die Stadt während zweier Tage Brennholz einführte. Denn er kannte die gegenwärtigen Holzpreise genau und freute sich, die heutige Mission ganz vergessend, seines Fleißes und seiner Geschicklichkeit.
Plötzlich erwachte er aus seinen Berechnungen, als die Flußgegend sich erweiterte und er eine von Hügeln und Bergen eingeschlossene Ebene betrat, die Wollishofer Allmende genannt, auf welcher sich ihm ein neues Schauspiel darbot.
Auf dieser Allmende sah er nämlich ein Häuflein meistens älterer Herren sich rüstig und doch gemächlich durcheinander bewegen und alle Vorbereitungen zu einem erklecklichen Bombenwerfen ausführen. Es waren die Herren der löblichen alten Gesellschaft der Konstaffleren und Feuerwerker, welche dieses kriegerische Wesen zu ihrem Privatvergnügen sowohl als zu gemeinem Nutzen betrieben und heute ihr jährliches Mörserschießen feierten.
Da waren also mehrere solcher Geschütze, in der Sonne glänzend, aufgepflanzt; daneben stand ein großes offenes Zelt; der Tisch darunter trug Papiere, Instrumente sowie Flaschen und Gläser und eine blanke Zinnschüssel mit Tabak nebst langen irdenen Pfeifen. Eine der letzteren trug beinahe jeder der Herren in der Hand, feine Räuchlein ausblasend in Erwartung des Pulverdampfes. Zwei oder drei von den ältesten trugen noch Haarzöpfchen und mehrere andere gepuderte Haare. Im übrigen gingen sie in blauen oder grünen Fräcken einher, in weißen Westen und Halsbinden.
Sie säuberten aufmerksam die Bettungen der Geschütze und brachten alles wohl in seine Lage; denn wie es schon in dem »einer ehr- und tugendliebenden Jugend« gewidmeten Neujahrsblatte der Gesellschaft vom Jahre 1697 hieß:
Was die Werlet ist und heget,
Auf ein Pfimmet ist geleget.
Endlich aber begann
das schleunige Schießen,
des Feindes Verdrießen!
Bald wälzten sich die Rauchwolken über die Fläche, während die Bomben in hohem Bogen am blauen Himmel nach der Scheibe hinfuhren und die weißen Herren in stiller Fröhlichkeit hantierten wie die baren Teufel. Hier setzte einer die Bombe in den Mörser, dort senkte ein anderer das Geschütz und richtete es kunstgerecht, ein dritter zündete an und
der vierte den Mörsel schon wieder ausbutzt,
Vulkanens Gesinde hier dienet und trutzt!
wie es in einem anderen Neujahrsstücke von 1709 heißt.
Bei aller Furia leuchtete aber doch eine altväterische Frömmigkeit aus den Augen dieser Vulkansdiener, abgesehen davon, daß auch ein Chorherr vom Stift unter ihnen arbeitete, und man konnte sich an jenes andere Fragment ihrer artilleristischen Poesie erinnere, welches lautet:
Wann der Satan mit Haubitzen
Seine Plagen auf dich spielt,
Dann so wisse dich zu schützen
Mit Gebet als einem Schildt,
Sein Geschütz, gepflanzt zu haglen,
Wird dein' Andacht bald vernaglen!
Herr Jacques, der nichts zu tun hatte, schaute diesem Spiele wehmütig und bescheiden im Schatten eines Baumes zu, bis ihn einer der Bombenschützen, der sein Pate war, erkannte, heranrief und ihm die lange Tonpfeife zu halten gab, während er mit dem Pulversacke zu schaffen hatte. Diese Bequemlichkeit merkten sich die anderen Herren auch, und so stand der junge Originalmensch bis zum Mittag, stets eine oder zwei Pfeifen in der Hand vor sich hinstreckend. Nur der Chorherr, welcher statt der Pfeife eine längliche, mit einem Federkiel versehene Zigarre rauchte, legte diese nicht weg, sondern brannte kühn seinen Mörser mit ihrem Feuer los.
Für seine Mühewaltung wurde Jacques dann aber zu dem Mittagessen gezogen, welches die heutige Tathandlung der Feuerwerker krönte und auf einem nahen Bühel unter den Bäumen bereitet war. Wenn diese wackeren Geister schon durch den Pulvergeruch verjüngt worden, so fühlten sie sich nun durch den blauen Himmel, die grünen Wälder ringsumher und durch den goldenen Wein noch mehr erheitert, und nachdem in vollem Chor ein Kriegslied erschollen, versuchten sie sich in einem Rundgesange, in welchem auch nicht einer seinen Beitrag verweigerte. Da kamen allerlei schnurrenhafte Liedchen zum Vorschein, von deren Dasein Herr Jacques keine Ahnung gehabt. Er lauschte lautlos und sah einen der Singenden nach dem andern an, und seine weithin ragende bleiche Nase drehte sich dabei langsam in die Runde gleich dem Lafettenschwanz einer Kanone, wie einer der Feuerwerker meinte.
Als nun die Reihe an ihn kam und die Männer darauf hielten, daß er auch seinen Vers singe, wußte er keinen und es fiel ihm nicht der geringste sangbare Gegenstand ein. Darüber wurde er ganz betreten und niedergeschlagen.
Die Feuermänner aber achteten nicht darauf, sondern begannen den Rundgesang: »Lasset die feurigen Bomben erschallen«, in welchem an jeden die Frage gerichtet wurde:
»Herr Bruder, deine Schöne heißt?«
welche Schöne jeweilig nach ihrer Namhaftmachung hochleben mußte. Da riefen nun die einen, mit Schonung der würdigen Hausfrau, den verstellten Namen irgendeiner Jugendfreundin, wie Doris, Phillis oder Chloe. Andere nannten Diana, Minerva, Venus oder Constantia, Abundantia und dergleichen. Das waren aber keine Damen, sondern Lieblingsgeschütze, die ehrbar im Zeughause standen. Diese Geschütznamen wurden jedesmal wie Kanonenschüsse mit furchtbarer Donnerstimme ausgestoßen, so daß es fast tönte, wie wenn die Rohre einer Zwölfpfünderbatterie eines nach dem andern abgefeuert würden. Als nun auch hier wieder die Reihe an Herrn Jacques kam, gedachte er sich endlich hervorzutun, und bezeichnete so laut er konnte seine Geliebte als »Sapientia«! Da aber seine Stimme zu jener Zeit eben im Brechen war, erdröhnten nur die ersten Silben des Wortes in tiefer Tonlage, während das Ende überschlug und ganz in die Höhe schnappte, was bei seinem tiefen Ernste sich so lustig ausnahm, daß alle Herren in ein fröhliches Gelächter ausbrachen.
Da wurde er noch stiller und blickte lange nicht mehr auf.
Dies bemerkend, klopfte ihm der Herr Pate auf den Rücken und sagte: »Was ist's mit Euch, Meister Jacques? Warum so mauserig?«
Der kleine Mann aber schwieg noch eine Weile unbeholfen fort, bis ihm einige Schlücke besseren Weines plötzlich die Zunge lösten und er unversehens sein Herz auszuschütten begann. So eröffnete er denn dem alten Herrn seine Klage: jene hätten gut lachen; er dagegen sei in einer Zeit geboren, in der man unbedingt kein Originalmensch mehr werden könne und am Gewöhnlichen haften bleiben müsse, was um so schmerzlicher sei, wenn man die letzten Überbleibsel schönerer Tage noch vor sich sehe. Diese alten Bombenwerfer mit ihren gepuderten Köpfen und Tonpfeifen seien ja die originellsten Käuze von der Welt, und ein junger Schüler von heute zerbreche sich ganz vergeblich den Kopf, ausfindig zu machen, was etwas dem Ähnliches darstellen würde. Dieses sei der beseufzenswerte Nachteil des Jahrhunderts, in dem man leben müsse, und kein Kraut sei für solches Übel gewachsen.
Der Alte beschaute den Sprecher von der Seite, ohne etwas zu sagen. Die Nächstsitzenden jedoch sahen sich untereinander an und murrten vernehmlich über ein Zeitalter, in welchem Kinder sich herausnehmen dürften, über die Alten naseweise Bemerkungen zu machen und ihnen Spitznamen zu geben, wie originelle Käuze und dergleichen.
Da wurde der Ärmste ganz eingeschüchtert und beschämt und ließ feuerrot seinen Blick herumirren, nach welcher Seite hin er entwischen könne. Der Herr Pate nahm ihn aber unter den Arm und sprach: »Kommt, Meister Jakobus! Ich will Euch den Überbleibsel dieses heiteren Tages widmen, da wir beide wohl nicht mehr viel zur Arbeit taugen werden! Wir wollen einen Gang auf die Manegg machen und bis dahin des lieblichen Waldes genießen.«
Sie spazierten also über die weite Allmende und über den Sihlfluß, stiegen durch schönes junges Buchengehölz die jenseitigen Höhen empor und gelangten auf einen ebenen Absatz, von zwei mächtigen, breitästigen Buchen beschattet, wo aber schon ein neues Abenteuer auf den jungen Verehrer der Sapientia heranstürmte.
Die Terrasse war bevölkert und belebt von einer Schar junger Schulmädchen, welche zur Begehung des jährlichen sogenannten Lustigmachens aus der engen Stadt ins Freie geführt worden waren und hier unter der Obhut einiger Herren Vorsteher und Lehrerinnen ihren unschuldigen Ringeltänzen und Fangspielen oblagen. Sie waren alle weiß oder rosenrot gekleidet; einige trugen zur Erhöhung der Lust bunte Trachten als Bäuerinnen oder Hirtinnen, wie zu solchem Behufe die geeigneten Gewänder da und dort in den Familien aufbewahrt und im Stande gehalten wurden. Das alles verursachte eine heitere und glänzende Erscheinung in der grünschattigen Umgebung, und gern hielt der Herr Pate einen Augenblick an, um sich an dem lieblichen Anblick zu erfrischen. Er begrüßte die ihm bekannten Vorsteher und scherzte mit den verkleideten kleinen Schönheiten, sie nach Stand und Herkommen befragend, ob sie hier in Dienst zu treten oder weiterzureisen gedächten und so weiter.
Sogleich aber kam die ganze Mädchenschar herbeigelaufen und umringte den alten Herrn samt seinem jungen Schützling, welcher jetzt in noch größere Bedrängnis geriet, als er heute je erlebt. Wo er hinsah, erblickte er in dichter Nähe nichts als blühende und lachende Gesichter, die an der Grenze der Kindheit noch alle frisch und lieblich waren und das ihrer wartende Reich der Unschönheit noch nicht gesehen hatten. Hier das schönäugige Gesichtchen mit den etwas starken, familienmäßigen Vorderzähnchen ahnte nicht, daß es in weniger als zehn Jahren ein sogenannter Totenkopf sein würde; dort das regelmäßige ruhige Engelsantlitz schien unmöglich Raum zu bieten für die Züge anererbter Habsucht und Heuchelei, welche in kurzer Zeit es durchfurchen und verwüsten sollten; wer glaubte von jenem rosigen Stumpfnäschen, daß es zu einem Thron und Sitz unerträglicher Neugierde und Spähsucht bestimmt war und die beiden Sternäugelein links und rechts in falsche Irrlichter verwandeln würde? Wer hätte von dem küßlichen Breitmäulchen da denken können, daß seine jetzo so anmutigen Lippen dereinst, von ewiger Bewegung kleiner Leidenschaften und Müßigkeiten ausgedehnt und formlos geworden, sich bald gegen das rechte, bald gegen das linke Ohr hin verziehen, bald die untere die obere, bald die obere die untere bedecken, dann plötzlich wieder beide vereint sich verlängern und als Entenschnabel schnattern würden? Ei, und dort das angehende Spitznäschen, das die erhabene Beatrix für einen kommenden Dante zu verkünden scheint und sich zu einem Geierschnabel auswachsen wird, der einem ehelichen Dulder täglich die Leber aufhacket, unversehrt von seinem schweigenden Hasse! Und wiederum diese in gleichmütiger Unschuld und zarter Heiterkeit lachende junge Rose, die vor der Zeit entblättert sein wird von tausend Sorgen und ungeahnten Erfahrungen, gebleicht von Kummer und zu schwach auch nur für den Widerstand der Verachtung?
Nichts von alledem war hier zu ahnen; wie eine lebendige Rosenhecke umdrängte das Mädchenvolk den hochragenden Herrn Paten und den etwas kürzeren Herrn Jakobus, welchen die losen Kinder so oft auf dem Schulwege als ernsthaften, pedantischen Großschüler trafen, schwere Bücher unter dem Arm. Neugierig betrachteten sie ihn jetzt nach Herzenslust und so recht in der Nähe, und erforschten unverzagt sein tiefsinniges Gesicht, seine verlegene Haltung, seine etwas langen Hände und Füße, und kicherten dabei fortwährend, so daß es ihm unangenehm zumute wurde. Während der Alte fortfuhr, mit ihnen zu scherzen, und das eine oder andere Köpfchen streichelte, drängten sie sich immer näher und schoben dabei diese oder jene im Hintertreffen Stehende mutwillig in den Vordergrund. Plötzlich stieß auf diese Weise ein langes, stärkeres Mädchen, das allgemein der Holzbock genannt wurde, eine zarte Gestalt so gewaltsam hervor und gegen den Herrn Jacques, daß sie errötend und aufschreiend die Hände wider seine Brust stemmen mußte, um nicht an dieselbe hinzufallen, während er überrascht und erschrocken gleicherweise die Ärmste von sich stieß, wie ein unvorhergesehenes großes Übel.
Und doch war es seine von ihm selbst erwählte und festgesetzte erste Liebe, seine Jugendflamme, welche ohne zu brennen still auf allen seinen Pfaden leuchtete, ein schmales Jungfräulein mit sieben oder acht langgedrehten, auf den Rücken fallenden blonden Locken, angetan mit einem blendend weißen Kleide und himmelblauen Schuhen mit kreuzweise um die Knöchel gewundenen Bändern.
Diese äußere Erscheinung war der Wille und das Werk der Mutter, welche die vermeintlich verscherzte eigene Bedeutung auf solche Weise an dem Kinde nachholen wollte, ihm mit Sorgfalt alle Tage eigenhändig die Locken wickelte und es so herumlaufen ließ, daß es sich von allen anderen Kindern unterschied, obgleich es ein ganz gewöhnliches Wesen war.
Ebendiese Auszeichnung aber hatte den wählerischen jungen Scholaren bestimmt, bei Gründung der ersten Liebe sein Auge auf das Mädchen zu werfen. Im übrigen begnügte er sich damit, dasselbe von ferne anzusehen und die Wege zu wandeln, auf denen es zur Kirche oder Schule ging, in der Nähe aber immer das Gesicht abzuwenden, so daß ihm die Gesichtszüge der Geliebten eigentlich fast unbekannt waren und er nur ein ungefähres Bild im Kopfe trug, an welchem die Locken und das Kleid die Hauptsache bildeten. Auch war sein Gefühl noch kühl und schwach und mit keinerlei Schlagen des Herzens verbunden. Dieses klopfte ihm jetzt nicht einmal, als er die Jugendgeliebte so unverhofft nahe sah und sie von sich stoßen mußte, wobei er einen Augenblick lang zum erstenmal die Gesichtszüge der Teuren deutlich erkannte, und zwar nicht ohne ein rasches, kurzes Befremden; denn die Züge entsprachen gar nicht der Vorstellung, die er davon hatte. Überdies waren sie etwas entstellt von Scham und Unwillen über den empfangenen Stoß und Gegenstoß. Trotz dieser scheinbar gefährlichen Sachlage kann jetzt schon erzählt werden, daß Herr Jacques pedantisch genug war, an seiner Jugendneigung festzuhalten, dieselbe immer mehr auszubilden und um das Mädchen späterhin zu werben mit der Ruhe und Gemessenheit einer guten Wanduhr, ohne je den Schlaf zu verlieren oder, wenn er schlief, von der Sache zu träumen.
»Die Entstehung der Handschrift aber bewirkte, daß wiederum andere Originale sich zeigten und entwickelten; das ereignete sich alles gar heiter und ergötzlich und hat mich in jüngeren Jahren gereizt, mir die Geschichte etwas zusammenzudenken und auszumalen, also daß ich dieselbe fast so erzählen kann, als ob ich sie aufgeschrieben hätte, und ich will dir sie jetzt erzählen. Es wird eine schöne Mondnacht werden, und bis wir zu Hause sind, bin ich fertig. Es handelt sich dabei hauptsächlich um den Meister Hadlaub, der das Buch geschrieben, wie ich annehme, die vielen Bilder darin zum Teil gemalt hat und darüber selbst zum Dichter geworden ist durch das Minnewesen und den Scherz, den die Herren mit ihm treiben wollten. Von anständigen Minnesachen aber darfst du allenfalls schon etwas vernehmen.«
Hier schaute der Alte den Herrn Jacques wieder schalkhaft seitwärts an und gedachte den hölzernen und einbildischen Ernst desselben ein wenig zu verwirren. Er erzählte ihm, indem sie die Heimkehr nach der Stadt antraten, die nachfolgende Geschichte von der Entstehung des Manesseschen Kodex zu Paris.