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Kinderärztin Dr. Martens
– Paket 2 –

E-Book 51-100

Britta Frey

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74099-263-7

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Freunde fürs Leben

Gemeinsame Ferien in der Kinderklinik Birkenhain

Roman von Frey, Britta

Hardy Winter schob mit einer unnachahmlichen Geste das kastanienfarbene Haar zurück. Die Haarfarbe war echt, und Hardy konnte fuchsteufelswild werden, wenn jemand sie fragte, welcher Friseur eine so aparte Farbe so naturgetreu zaubern konnte.

Hardy hieß eigentlich Bernhardine. Sie konnte es ihren Eltern noch heute nicht verzeihen, daß sie ihr einen derart ausgefallenen Namen gegeben hatten. Weil er ihr viel zu lang und auch viel zu pompös erschienen war, hatte sie ihn kurzerhand in Hardy abgeändert und sich mit diesem Namen schnell ausgesöhnt. Hardy war Naturwissenschaftlerin mit abgeschlossenem Staatsexamen und hatte sogar ihren Dr. nat. gemacht, von dem man behauptete, er sei besonders schwer zu erlangen. Nun, Hardy hatte ihn erreicht, war eine Weile lang sehr stolz auf sich und den Titel gewesen, hatte sich endlich an ihn gewöhnt und fand heute nichts Außergewöhnliches mehr daran.

Außergewöhnlich fand sie Hans Clausen, ihren Chef – und alles, was mit ihm zusammenhing.

Dr. Hans Clausen war ebenfalls Naturwissenschaftler, aber einer, der ganz selbständig und auf eigene Rechnung arbeitete. Er führte Untersuchungen und Forschungsarbeiten für namhafte pharmazeutische Unternehmen durch. Das mußte eine lukrative Beschäftigung sein, denn nachdem ihm seine Frau mit einem guten Freund durchgebrannt war, lebte er in Ögela, wo er sich ein großes, weitläufiges Haus gekauft hatte, das mehrere Nebengebäude hatte und zu dem Zeitpunkt, da er es erwarb, ziemlich heruntergekommen war.

Hardy, die kurz nach dem Kauf des Hauses zu ihm als Assistentin gekommen war, war ziemlich skeptisch gewesen. Sie hatte stark bezweifelt, daß er das riesige Anwesen einigermaßen wohnlich machen könnte.

Aber Hans Clausen hatte die Aufgabe in einem Tempo angepackt, daß sich die Handwerker bald überfordert fühlten und damit drohten, die Arbeit hinzuwerfen, falls er sie weiter wie ein Sklaventreiber behandeln würde.

Hans Clausen war damals überrascht und auch etwas beleidigt gewesen, als er sich bei seiner Assistentin darüber beschwerte, daß die Leute so langsam arbeiteten und es ihm sogar übelnahmen, wenn er ihnen gegenüber bemerkte, daß ihm eigentlich alles viel zu langsam ging.

Erst da hatte Hardy eingegriffen und mit viel Charme und Einfühlungsvermögen erreicht, daß die Leute arbeiteten und dazu noch Freude daran hatten. Schließlich war es so weit gekommen, daß sie nur Hardys Wünsche erfüllen wollten und Hans Clausen an das »Fräulein Doktor« verwiesen, wenn er etwas wissen wollte.

Später pflegte Hans Clausen lachend zu betonen, daß das zuerst frustrierende Erlebnisse gewesen seien, die aber dann, als er erkannt hatte, daß mit Hardy alles viel schneller und besser lief, in ihm eine tiefe Zufriedenheit erweckt hätten. Er hatte sich darauf beschränkt, Hardy abends, wenn sie müde und abgespannt beisammensaßen, zu erklären, wie er sich dies oder jenes gedacht hatte, und Hardy sorgte bereits am nächsten Morgen dafür, daß all seine Anweisungen strikt befolgt wurden. Nur die Leute wurden von ihr in dem Glauben gelassen, daß die Änderungen auf ihre Ideen zurückgingen.

Der Zweck heiligt die Mittel, hatte sie damals gedacht und den Irrtum, in dem sich die Leute ganz offensichtlich befanden, nicht aufgeklärt. Hans Clausen war es recht gewesen. Er war ein besessener Arbeiter, der sich erst dann wohlfühlen würde, wenn alles fertig und so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte.

Und eben, weil er wie ein Besessener arbeitete, war es ihm nicht eine Sekunde lang eingefallen darüber nachzudenken, wieso Hardy sich so einsetzte. Für ihn war sie einfach ebenso arbeitswütig wie er.

Wenn ihm jemand die Augen zu öffnen versucht hätte, wenn er ihn darauf aufmerksam gemacht hätte, daß es Liebe war, was Hardy zu ihrem Verhalten trieb, hätte er wahrscheinlich überrascht aufgeschaut und dann abgewunken.

Nein, Hardy Winter war eine phantastische Mitarbeiterin, und er war glücklich, sie für sich gewonnen zu haben. Aber mehr sah er nicht in ihr. Er wollte keine Frau mehr lieben. Er wollte keiner Frau mehr Vertrauen schenken. Zu tief hatte ihn Elviras Verrat getroffen. Er hatte doch keine blasse Ahnung gehabt, daß sie ihn ausgerechnet mit seinem besten Freund betrog. Eine solche Geschmacklosigkeit hätte er beiden nicht zugetraut.

Das aber, was er noch heute ganz und gar nicht begreifen konnte, war die Tatsache, daß Elvira anscheinend nur an sich gedacht und keinen einzigen Gedanken an Tim verschwendet hatte. An Tim, ihren gemeinsamen kleinen Sohn, der damals erst zwei Jahre gewesen war und nicht begriff, was da zwischen seinen Eltern geschah.

Es war eine fürchterliche Zeit gewesen. Hans Clausen hatte jemanden gebraucht, der für ihn und Tim sorgte. Dutzendweise hatten sich Frauen und Mädchen gemeldet, doch immer, wenn er geglaubt hatte nun aber wirklich die richtige Haushaltshilfe erwischt zu haben, war es ein Irrtum gewesen. Sie glaubten alle, daß sie ihn, den Arbeitgeber, erobern mußten und waren beleidigt, wenn er versuchte ihnen klarzumachen, daß er kein Verhältnis wünschte, außer einem normalen Arbeitsverhältnis natürlich.

Aber dann, kurz nach Tims drittem Geburtstag, hatte ihm die Mutter eines Studienkollegen eine Haushälterin empfohlen, die auch prachtvoll mit Kindern umzugehen verstand. Seither war Therese, von Tim zärtlich Tessy genannt, bei ihnen, und Hans Clausen hatte es noch keine einzige Sekunde bereut. Immerhin waren seither fast vier Jahre vergangen. Tessy war das, was man heutzutage als alte Jungfer bezeichnen würde. Sie hatte den Anschluß verpaßt, wie sie selbst lächelnd betonte. In Dr. Clausen sah sie so etwas wie einen Sohn, den man verwöhnen und umsorgen mußte. Und in Tim sah sie selbstverständlich so etwas wie ihren Enkel, der abgöttisch von ihr geliebt wurde, ohne daß sie das Kind mit ihrer Liebe erdrückte.

Wie gesagt, Tessy war das Goldstück in der Familie, das dazugehörte und in alles einbezogen wurde. Tessy wußte alles, Tessy hatte für alles einen Ratschlag und wußte auch immer einen Ausweg. Tessy bestrickte die Familie, einschließlich Hardy, und Tessy war der ruhende Pol, weil sie mit ihrem Dasein restlos zufrieden war. Es war immerhin eine altbekannte Tatsache, daß ein zufriedener Mensch eine positive Atmosphäre um sich verbreitete. Und das war sehr wichtig.

Im Augenblick ging es im Hause Clausen aber gar nicht so harmonisch zu, und das lag ausgerechnet an Tim.

Der sonst so lebhafte Siebenjährige, der immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt war, war jetzt apathisch und still.

»Tim gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Tessy zu Hardy, die zu ihr in die Küche gekommen war, um ihre gewohnte Tasse Kaffee zu trinken. Die selbstgebackenen Kekse ließ sie stehen, obwohl Tessy manchmal ganz schrecklich beleidigt war. Aber Tessy konnte machen, was sie wollte – Hardy blieb fest. Und dabei war sie nach Tessys Meinung nichts weiter als ein Strich in der Landschaft. Jedenfalls drückte Tessy sich so aus.

Hardy hatte die herrlichen Kekse noch nicht einmal versucht, hinter denen Tim und sein Vater gleichermaßen her waren wie der Teufel hinter der Seele. Tessy hatte immer so treffende Vergleiche.

Hardy blickte nachdenklich in Tessys besorgtes Gesicht und nickte.

»Mir ist auch aufgefallen, daß er beängstigend brav und ruhig ist. Ob er wohl eine Krankheit ausbrütet?«

»Wer brütet eine Krankheit aus?« klang es da von der Tür her. Hans Clausen, hochgewachsen, dunkelhaarig mit blauen Augen, breiten Schultern und schmalen Hüften, kam in die Küche, setzte sich auf seinen gewohnten Platz und langte zu Tessys Zufriedenheit gleich in die Keksdose.

»Tim! Und Sie scheinen noch nicht einmal etwas davon zu bemerken, Dr. Clausen.« Tessy vergaß niemals, ihn mit seinem Titel anzureden. Schließlich wußte sie, was sich gehörte, übrigens auch Hardy gegenüber. Es wäre Tessy nicht im Traume eingefallen zu vergessen, daß Hardy eine »Frau Doktor« war.

»Was ist denn mit Tim?« erkundigte sich Hans Clausen besorgt.

»Seit einiger Zeit mag er nicht mehr essen, ist oft müde, und aus dem sonst so lebhaften Kind ist ein verschlossener kleiner Junge geworden.«

Tessys Ton und auch ihr Gesichtsausdruck waren ein einziger Vorwurf, wie Hans Clausen fand, und er fühlte auch gleich so etwas wie Schuldbewußtsein in sich emporsteigen. Hilfesuchend sah er Hardy an. Sie erwiderte seinen Blick und hob die Schultern. Dann sagte sie gedehnt: »Jetzt, da Tessy es betont, möchte ich ihr recht geben. Tims Wangen sind in letzter Zeit verflixt blaß. Vielleicht sollte man ihn mal untersuchen lassen. Schaden kann es nichts, aber wenn da irgend etwas ist, kann man auch gleich etwas dagegen unternehmen.«

Hans Clausens Gesicht nahm einen hilflosen Ausdruck an. Und dann druckste er kleinlaut: »Das Übel ist nur, daß ich hier gar keinen Arzt kenne, Hardy. Meint ihr, ich soll mit Tim nach Celle fahren oder sicherheitshalber gleich nach Hannover?«

»Wozu in die Ferne schweifen?« meldete sich Tessy zu Wort. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie noch nie von der Kinderklinik Birkenhain gehört haben, Dr. Clausen!« Tessy sah ihn ausgesprochen mitleidig an. Hans Clausen jedoch nickte und gestand: »Tut mir leid, ich kenne diese Kinderklinik wirklich nicht. Wo liegt sie?«

»Na, hier, in Ögela natürlich.« Tessy war versucht, den Kopf zu schütteln ob soviel Unwissenheit. »Birkenhain ist eine Privatklinik mit ausgezeichnetem Ruf. Sie wird von einem Geschwisterpaar geführt, und zwar vorbildlich, denn sonst würden nicht sogar Leute aus dem Ausland ihre Kinder herbringen, wenn sie krank sind.«

»Ich hatte wirklich keine Ahnung. Aber ich werde mit Tim hinfahren, und zwar sofort.«

In diesem Augenblick betrat der siebenjährige Tim die Küche und sah uninteressiert auf die heiße Schokolade und den Berg von selbstgebackenen Plätzchen.

Hans Clausens Herz zog sich zusammen, als er das blasse Gesicht seines Jungen sah. Er machte sich heimlich die schwersten Vorwürfe, daß er das nicht schon längst erkannt hatte. Er erhob sich von seinem Platz am Küchentisch und fragte, während er Tim liebevoll an sich drückte: »Möchtest du dich zu uns setzen und Schokolade trinken, Tim?«

Der Kleine schüttelte den Kopf und sagte ernsthaft: »Lieber nicht, ich hab sowieso schon Bauchweh. Aber ich habe nichts gegessen, was ich nicht darf.«

»Hast du dieses Bauchweh schon lange, Tim?« erkundigte sich Hans Clausen und wurde immer besorgter. Tim sah wirklich krank aus, wie er fand. Der Junge nickte.

»Mal mehr und mal weniger. Aber das kann einen ganz schön fertigmachen, Vati.«

»Gut.« Wenn Clausen sich einmal zu etwas entschlossen hatte, pflegte er auch gleich zu handeln und es nicht auf die lange Bank zu schieben. »Dann werden wir der Ursache mal auf den Grund gehen. Komm, wir fahren zur Kinderklinik Birkenhain. Ich bin sicher, daß wir da am richtigen Platz sind.«

»Muß das sein? Die drücken einem doch nur auf dem Bauch herum und wissen dann eh nicht, was sie dazu sagen sollen.«

»Mag schon sein, mein Sohn. Trotzdem werden wir jetzt gleich hinfahren. Ich will wissen, was dir fehlt. Daß dir etwas fehlt, sieht man dir doch gleich an.«

»Mir fehlt nichts, Vati, wirklich nicht«, beteuerte Tim hastig. Aber Hans Clausen sah ihn nur ernsthaft an und erwiderte: »Das glaube, wer will, ich jedenfalls nicht. Und nun komm. Je eher wir losfahren, desto schneller sind wir wieder hier.«

Tim senkte den Kopf. Wenn Vati in diesem Ton sprach, hatte es keinen Zweck, zu widersprechen. Da war es besser, daß man tat, was er wollte. Und so griff Tim nach der Hand des Vaters und ging neben ihm durch den Küchenausgang zur Garage hinüber.

Tessy sah ihnen zufrieden nach und sagte dann zu Hardy, die plötzlich ein ungutes Gefühl, fast die Vorahnung eines drohenden Unheils, hatte: »Na endlich! Man muß ihn nur darauf stupsen, damit er handelt. Er ist sowieso viel zu sehr in seine Arbeit vergraben. Das gilt auch für Sie, Frau Doktor.«

»Ach, Tessy.« Hardy lachte und dehnte die schlanke, ranke Gestalt. Tessy erwiderte nichts. Sie schüttelte nur den Kopf. Das war ihrer Meinung nach eine deutliche Geste. Und dann schwang sie sich doch noch zu einem Kommentar auf: »Sie gehen beide am Leben vorbei und sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.«

»Amen!« sagte Hardy und lachte fröhlich auf. Tessy warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Zu meiner Zeit war das jedenfalls ganz anders, das kann ich Ihnen versichern.« Ahnungsvoll sah Hardy sie an und tat ihr den Gefallen, sich zu erkundigen: »Was war anders, Tessy?«

»Na, früher fand ein Mann sehr schnell heraus, ob ihn eine Frau mochte. Und dann warb er um ihre Aufmerksamkeit. Der eine temperamentvoller, der andere weniger, je nach Charakter. Aber das gab’s zu meiner Zeit nicht, daß ein Mann mit einer jungen, bezaubernden Frau zusammenarbeitete und nicht merkte, daß sie bis über beide Ohren in ihn verliebt ist.«

»Tessy!« rief Hardy erschrocken und fuhr, sich zur Ruhe zwingend, fort: »Wie können Sie nur so etwas sagen?«

»Na, hören Sie! Sie machen mir vielleicht Spaß. Ich habe doch Augen im Kopf, nicht wahr? Und dumm bin ich auch nicht.«

»O nein, sind Sie wirklich nicht, und ich würde so etwas auch nie behaupten.«

»Na also!« Tessy nahm noch einen Schluck des wirklich ausgezeichneten Kaffees. »Dann sind wir uns ja einig, oder?«

»Woran haben Sie gemerkt, daß ich in ihn verliebt bin, Tessy? Ich habe mich doch so bemüht, es zu verbergen.«

»Bei ihm brauchen Sie sich wirklich keine große Mühe zu geben. Der merkt so etwas sowieso erst, wenn man ihn draufstößt. Davon haben wir ja gerade eben geredet. Aber mich kann man nicht so schnell täuschen. Ich bin zwar eine alte Frau, aber ich habe noch lange nicht vergessen, daß ich auch einmal jung und des öfteren sehr verliebt gewesen bin.«

Da lachte Hardy auf und umarmte Tessy, während sie erklärte: »Ach, Tessy! Sie sind wirklich ein wahres Goldstück.«

»Wenn Sie das man nur wissen«, brummelte Tessy, bar jeder falschen Bescheidenheit. Und brummeln mußte sie, weil sie verbergen wollte, daß sie gerührt war…

*

Martin Schriewers saß hinter dem Aufnahmetresen und sah Hans Clausen aufmerksam an. Er kannte ihn vom Ansehen, aber er war sicher, daß Clausen ihn noch nie beachtet hatte.

»Ich möchte gern, daß jemand meinen Sohn untersucht. Er scheint krank zu sein.« Hans Clausen fühlte sich irgendwie beengt in diesem stillen, ruhigen, wunderschönen Haus, das früher einmal ein Schlößchen gewesen war. Krankenhäuser können einen schon allein durch ihre sterile Ausstrahlung krank machen, dachte er und wünschte sich, alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, damit er wieder mit Tim nach Hause fahren könne.

Dem Jungen schien es ähnlich zu gehen, denn er klammerte sich an der Hand des Vaters fest. Er hatte Angst, aber Vati würde ihn schon beschützen, wie er sich einredete.

Martin Schriewers sah auf Schwester Claudia, die eben vorüberkam, und bat sie: »Würden Sie Vater und Sohn mit zur Chefin nehmen? Ich glaube, sie ist noch in der Ambulanz, oder?«

Schwester Claudia nickte Hans Clausen zu und beugte sich dann zu Tim, der sich womöglich noch dichter an seinen starken Vater drängte.

»Hallo kleiner Freund, möchtest du mir sagen, wie du heißt? Ich bin Schwester Claudia.«

»Tim!« sagte Tim, und fand es im gleichen Augenblick doch ein bißchen unhöflich. »Ich heiße Tim Clausen.«

»Fein, jetzt kennen wir uns schon.« Claudia lachte und wandte sich Clausen zu: »Kommen Sie mit mir? Ich bringe Sie zu Frau Dr. Martens, unserer Chefärztin.«

»Gibt es hier auch einen männlichen Chefarzt?« fragte Hans Clausen und setzte sich mechanisch in Bewegung. Claudia nickte freundlich.

»Aber ja, Dr. Kay Martens. Er und Dr. Hanna Martens sind Geschwister. Ihnen gehört diese Klinik. Aber im Augenblick ist Dr. Kay Martens unabkömmlich, weil er eine akute Blinddarmentzündung operieren muß.«

»Aha, ich verstehe.« Hans Clausen schauderte innerlich. Krankheiten und sogar Operationen waren ihm ein Greuel, weil er sie nicht verstand und auch eigentlich noch nichts mit ihnen zu tun gehabt hatte.

Da hielt Schwester Claudia schon vor einer breiten, weißen Flügeltür und wollte gerade eben anklopfen, als sie von innen geöffnet wurde. Hans Clausen sah auf eine bildhübsche, blonde, junge Frau im weißen Arztkittel, die ihn anlächelte und dann mit ruhiger Stimme fragte: »Sie wollten wahrscheinlich zu mir, oder? Handelt es sich um diesen kleinen Mann, der da so ängstlich dreinschaut?« Sie kniff Tim ein Auge zu, was verschwörerisch wirkte und ihn sofort für sie einnahm. Die Angst, die ihn ergriffen hatte, seit sie die Klinik betreten hatten, fiel ganz plötzlich von ihm ab. Er nickte und erwiderte: »Ich habe so oft Bauchweh und bin auch immer müde.«

»Na, dann schlage ich vor, wir sehen uns die Geschichte einmal an, was? Kommst du mit?« Hanna sah ihn auffordernd an. Und da ließ Tim die schützende, starke Hand des Vaters los und ging, wie selbstverständlich, hinter ihr her. Sie hob ihn hoch und setzte ihn auf die Untersuchungsliege, während Hans Clausen dazu trat und sich scheußlich überflüssig vorkam.

Geschickt half Hanna Tim beim Auskleiden. Dann mußte er sich flach auf die Liege legen, und sie beugte sich über ihn. Die Untersuchung dauerte nicht lange. Tim lächelte. Es hatte überhaupt nicht weh getan.

Hanna wandte sich an den eben dazutretenden Pfleger und sagte ruhig: »Jan, nehmen Sie ihn mit zum Röntgen. Ich möchte, daß der ganze Bauch geröntgt wird.«

Jan nickte und streckte Tim die Hand entgegen. Und Tim war voller Vertrauen. Fast wollte Hans Clausen schon eifersüchtig werden.

»Kommst du mit? Es geht ganz schnell, und es tut überhaupt nicht weh. Die Frau Doktor kann sich derweil mit deinem Vati unterhalten, während wir zum Röntgen gehen. Paß auf, ich lege dich einfach auf eine fahrbare Trage. Das macht dir bestimmt Spaß.«

Tim wurde auf das Fahrbett gelegt, mit einer dünnen Decke zugedeckt und war schon draußen, ehe Hans Clausen noch etwas sagen konnte. Er wandte sich Hanna Martens zu, die ihm mit freundlichem Gesicht Platz anbot und sich hinter ihren Schreibtisch setzte.

»Tim hat eine Geschwulst im Bauch«, erklärte sie sachlich. Sie wußte genau, bei wem sie so deutlich werden konnte und bei wem nicht. Hans Clausen machte durchaus den Eindruck, daß er nicht gleich umfiel, wenn er etwas Unangenehmes zu hören bekam. Trotzdem fuhr sie in beruhigendem Ton fort: »Ich kann Ihnen noch nicht sagen, welches Organ befallen ist. Das wird das Röntgenbild ergeben. Und dann sehen wir weiter.«

»Sind Sie wirklich sicher – ich meine, wissen Sie genau, daß Tim eine Geschwulst im Bauch hat?« Hans konnte es noch nicht fassen. Hanna sah ihn ernsthaft an.

»Ganz sicher, Herr Clausen. Aber, wie gesagt, wir müssen warten, bis die Bilder fertig sind.«

»Wann wird das sein?« wollte er wissen. Man sah ihm an, daß er beinahe vor Ungeduld zerbarst. Vor Ungeduld und namenloser Angst um seinen kleinen Sohn.

Hanna merkte natürlich, wie ihm zumute war, und versuchte, ihn zu beruhigen, indem sie sagte: »Machen Sie sich nicht so große Sorgen, Herr Clausen. Wir werden die Sache schon in den Griff bekommen.«

»Aber – aber Sie sagten soeben, daß Tim…« Er brach ab. Es schien ihm unmöglich, es auszusprechen. Er konnte es sich noch nicht einmal vorstellen, bei allem Bemühen nicht. »Das muß doch dann operiert werden, oder?«

»Stimmt. Leider kann man heute noch nicht beim Röntgen feststellen, ob es sich um eine gutartige Geschwulst handelt oder um etwas Ernstes. Das kann man erst, wenn man die Geschwulst entfernt oder eine Gewebeprobe entnimmt.«

»Dann – dann steht also fest, daß Tim auf jeden Fall operiert werden muß, nicht wahr? Von außen können Sie ja wohl schlecht an die Geschwulst heran.«

»Nun, so eilig haben wir es damit nicht. Zuerst müssen wir die Röntgenbilder haben. Und dann muß ein genaues Blutbild gemacht werden. Wenn das alles geschehen ist, können wir die Angelegenheit erst richtig angehen. Ah«, unterbrach sie sich, »da bist du ja schon wieder, Tim. Und die Röntgenbilder hast du auch gleich mitgebracht.«

Hans Clausen fand, daß Tim erschreckend blaß aussah, und neigte sich besorgt über ihn. Tim sah unsicher zu ihm auf und sagte leise: »Eben jetzt habe ich wieder ganz dolle Bauchschmerzen, Vati. Aber niemand hat auf meinen Bauch gedrückt. Sie sind von ganz allein gekommen.«

»Sie werden bald verschwunden sein, Tim, ganz bestimmt«, erwiderte Hans Clausen und wandte sich Hanna Martens zu, die die Röntgenbilder hinter den Leuchtschirm gespannt hatte und sie interessiert ansah. Jetzt trat sie ein Stückchen beiseite, um Hans Platz zu machen, damit er sich die Aufnahmen selbst ansehen konnte. Mit dem schmalen Zeigefinger deutete sie auf eine helle Stelle an einer Niere Tims und sagte ruhig: »Da haben wir’s. Ziemlich deutlich zu erkennen, nicht wahr? Tim hat eine ganz hübsche Geschwulst in der linken Niere. Und ich finde, wir sollten sie so schnell wie möglich herausholen.«

Tim, der sich schon wieder angezogen hatte, fragte mehr neugierig als ängstlich: »Wie machst du das? Ich meine, dieses Ding da aus meinem Bauch herauszuholen.«

»Ganz einfach.« Hanna lächelte ihn strahlend an. »Wir schneiden dein Bäuchlein auf, holen das olle Ding heraus und nähen anschließend den Bauch wieder zu. Es bleibt nichts zurück außer einer Narbe, und die sieht nach einer Weile wie ein Reißverschluß aus.«

»Tut das weh?« erkundigte sich Tim ernsthaft und langte nach des Vaters Hand. Vati würde nicht zulassen, daß man ihm wehtat. Aber da sagte Hanna schon beruhigend: »Aber nein. Du spürst nur einen kleinen Piecks im Arm. Das ist dann schon alles. Dann schläfst du so tief ein, daß du nichts mehr spürst. Und wenn du dann aufwachst, liegt schon alles hinter dir.«

»Und – so was sieht tatsächlich hinterher wie ein Reißverschluß aus?« vergewisserte sich Tim mißtrauisch.

»Das kannst du mir glauben«, erklärte Hanna ernsthaft. »Du wirst es selbst sehen, wenn wir die Fäden erst gezogen haben.«

Tim atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll wieder aus.

»Einen Reißverschluß am Bauch hat schließlich nicht jeder. Sieht man ihn denn auch ganz deutlich?«

»Darauf kannst du dich aber verlassen«, beteuerte Hanna. Da nickte Tim ergeben und sagte seufzend: »Na schön, dann kannst du das Ding herausschneiden, wenn man sowieso nichts davon spürt.«

»Dann schlage ich vor, du bleibst gleich hier, wir machen morgen die notwendigen Blutuntersuchungen, und übermorgen schneiden wir die Geschwulst aus deiner Niere.«

»Alles klar!« sagte Tim, aber man merkte ihm deutlich an, daß ihm ziemlich mulmig wurde, jetzt, da die Geschichte ihren Anfang nehmen sollte. Er sah lieber nicht zu Vati auf, denn er fürchtete, er würde dann gleich weinen. Und das wollte er auf gar keinen Fall. Weinen taten nur kleine Mädchen, und von ihm sollte niemand behaupten können, er sei so was wie eine Heulsuse.

»Na, dann werden wir Schwester Trude bitten, dich mit zur Station zu nehmen. Du brauchst noch nicht gleich ins Bett zu gehen, wenn du nicht magst. Mach dich erst mit den beiden Jungen, die da liegen, bekannt. Ich komme dann später und sehe nach euch.«

Hanna wußte aus Erfahrung, daß es besser war, wenn man den Abschied von Kind und Eltern so kurz wie eben möglich hielt. Das Kind mußte beschäftigt werden, war ihre Devise. Dann merkte es nicht so viel vom Abschiedsschmerz. Als Tim mit Schwester Trude den Raum verlassen hatte, wandte sich Hanna freundlich an Hans Clausen, der sich sichtlich unwohl fühlte und nicht wußte, wie er sich jetzt verhalten sollte.

»Vielleicht möchten Sie heimfahren, Herr Clausen, und Tims Sachen holen. Bringen Sie auch etwas mit, an dem er besonders hängt. Einen Teddy oder ein Buch oder ein Auto, mit dem er besonders gern spielt. Erfahrungsgemäß hilft so was unseren Kindern immer sehr. Es ist auch nicht ganz leicht für unsere kleinen Patienten hierzubleiben. Wir haben zwar einige Rooming-In-Zimmer hier, aber ich nehme doch an, daß Sie meiner Meinung sind, wenn ich sage, daß Tim dafür schon ein bißchen zu groß ist.«

»Natürlich!« stieß Hans hervor. »Ich – ich wüßte sowieso nicht, wie ich mich verhalten müßte. Ich habe da absolut keine Erfahrungen und fühle mich ganz scheußlich.«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Herr Clausen. Das geht Ihnen nicht allein so. Sogar die erfahrensten Mütter fühlen sich unsicher und wissen meistens nicht, wie sie sich verhalten sollen. Es wäre am vernünftigsten, wenn Sie jetzt Tims Sachen holen würden, dann hat er wenigstens alles, wenn es Zeit zum Schlafengehen ist.«

Clausen nickte. Plötzlich hatte er es unendlich eilig fortzukommen, heim, zu Hardy und Tessy. Er konnte sich nicht erinnern, sich schon einmal so hilflos gefühlt zu haben wie jetzt. Tessy und Hardy würden eine Menge zu tun haben, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

*

Tessy stemmte die Hände in die beachtlichen Seiten, als Hans Clausen die Küche betrat, in der sich Hardy immer noch aufhielt. Sie hätte jetzt um nichts in der Welt im Labor arbeiten können. Zuerst wollte sie wissen, was mit Tim war.

»Wo haben Sie den Jungen gelassen, Dr. Clausen?« fragte Tessy in einem Ton, der nichts Gutes verhieß. Sie stand da wie ein weiblicher Großinquisitor, der entschlossen ist, ein bedeutendes Verhör zu beginnen.

»Sie – sie haben ihn gleich dabehalten«, stammelte er und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. »Tim hat eine Geschwulst in der linken Niere.«

»O nein!« stieß Hardy angstvoll hervor, während Tessy kurz und bündig erklärte: »So ein Quatsch! Woher soll denn diese Geschwulst kommen? Tim hat immer gesund gelebt, auch was sein Essen betrifft. Darauf habe ich schließlich selbst geachtet. Es gibt überhaupt keinen Grund für eine solche Diagnose. Es war nicht recht von Ihnen, Dr. Clausen, Tim in der Klinik zu lassen. Wenn Sie ihn nicht abholen, und zwar sofort, nehme ich ein Taxi und besorge das allein.« Man sah Tessy an, daß sie es ernst meinte.

Clausen lächelte ihr matt zu und sagte dankbar: »Ich finde es furchtbar lieb von Ihnen, Tessy, daß Sie sich solche Sorgen um Tim machen. Ich habe aber die Röntgenaufnahme gesehen. Dr. Martens hat mir die Geschwulst in Tims linker Niere gezeigt. Ich bin auch dafür, daß sie so schnell wie möglich entfernt wird, denn Tim hatte, als ich ihn verließ, wieder starkes Bauchweh. Frau Dr. Martens hat ihm versichert, daß er nach der Operation keine Bauchschmerzen mehr haben wird.«

Tessy weinte plötzlich. Die Vorstellung, daß »ihr« Junge auf dem Operationstisch lag und man an ihm herumschnitt, hatte etwas Furchterregendes für sie. Hardy trat zu ihr und nahm sie tröstend in die Arme.

»Nicht weinen, Tessy«, sagte sie beruhigend. »Waren Sie es nicht selbst, die diese Kinderklinik Birkenhain so warm empfohlen hat? Waren Sie es nicht, die sagte, dort sei Tim am besten aufgehoben, die Klinik habe den allerbesten Ruf, und es kämen sogar Leute aus dem Ausland mit ihren kranken Kindern dorthin?«

»Ja, der Meinung bin ich ja jetzt auch noch. Nur – es handelt sich schließlich um Tim. Das ist etwas ganz anderes, als wenn man über fremde Kinder spricht, oder?«

»Das stimmt. Aber wenn man versucht, mal ganz sachlich und nüchtern zu sein, dann gelingt einem das auch. Ich schlage vor, Sie suchen Tims Sachen zusammen und fahren dann gleich mit Herrn Clausen zur Klinik hinaus.«

»Die Sachen werde ich zusammenpacken, aber mitfahren ganz sicher nicht. Ich weiß, daß ich sofort wieder heulen würde, wenn ich Tim sehe. Ich könnte mir denken, daß das nicht gerade tröstlich wäre für ihn.«

»Gut, dann machen Sie mit mir einen Gang durch den Park, während Herr Clausen in die Klinik fährt. Ich leiste Ihnen selbstverständlich Gesellschaft, Tessy. Außerdem ist mir heute auch nicht mehr nach Arbeiten zumute.«

Sie warf einen prüfenden Blick auf Clausen, um zu sehen, wie er ihre Worte aufnahm, aber Hans Clausen reagierte gar nicht. Es war ihm nicht einmal anzumerken, ob er überhaupt zugehört hatte.

Tessy schniefte noch einmal unglücklich und verließ die Küche, um Tims Sachen zusammenzupacken. Sie tat alles in einen kleinen Koffer und legte ganz obenauf Tims geliebtes Stofftier, Fluffy. Es war eine graugetigerte Katze, schon ziemlich ramponiert, aber heiß und innig von Tim geliebt. Als Fluffy im Koffer verschwand, wäre Tessy beinahe wieder in Tränen ausgebrochen. Nur mit Mühe schluckte sie sie hinab.

Aber ihre Stimme klang doch noch verdächtig unsicher, als sie Hans Clausen den Koffer reichte und sagte: »Hier ist alles drin, was der arme kleine Kerl benötigt, Dr. Clausen. Ich habe auch Fluffy mit eingepackt, damit er sich nicht so verlassen fühlt.«

»Danke, Tessy, vielen Dank. Was sollten wir wohl ohne Sie anfangen?« sagte Clausen, nahm den Koffer, nickte Hardy kurz zu und verschwand wieder. Tessy sah ihm sorgenvoll nach.

»So wahr ich Tessy Reinhardt heiße– ich werde jeden erwürgen, der dem Kleinen unnötige Schmerzen bereitet.«

»Kommen Sie, gehen wir hinaus, Tessy.« Hardy griff nach ihrem Arm. »Ich helfe Ihnen nachher beim Abendbrotrichten. Aber jetzt gehen wir erst einmal an die frische Luft. Und nachher sehen wir dann weiter.«

Wie willenlos und leise vor sich hin schluchzend, ging Tessy mit. Hardy schwieg. Erstens gab es nicht viel, was man da sagen konnte, und zweitens war ihr auch nicht besser zumute als Tessy. Da schwieg man lieber und tröstete sich damit, daß man nicht allein war. Aber sie mußte heimlich eingestehen, daß sie das nur als sehr schwachen Trost empfand.

*

Das Ärzteteam stand bereit. Dr. Simone Wilde als Narkoseärztin, Dr. Camillo Olegra als Urologe, Dr. Michael Küsters als Assistenzarzt, Dr. Hanna Martens als erste Assistentin und Dr. Kay Martens, der die Verantwortung übernommen hatte und operieren wollte.

Tim war schon vorbereitet und lag bereits in tiefer Narkose. Er mußte während der gesamten Operation Blutübertragungen bekommen, um den starken Blutverlust auszugleichen, denn nur so konnte ein Schock vermieden werden.

Kay Martens präparierte nach der Desinfektion des linken Fußes eine Vene frei, unterband sie mit einem Catgutfaden und schnitt einen kleinen Schlitz hinein, durch den er nun eine Plastikkanüle einführte. Hier wurde dann von Hanna sofort die Tropfinfusion angeschlossen.

Obwohl der OP-Raum möglichst keimfrei und ständig auf gleichbleibender Temperatur gehalten wurde, klebte man dem kleinen Patienten noch eine durchschimmernde Spezialfolie auf den Bauch. Sie sollte Tim zusätzlich vor Wärmeverlust und Infektionen schützen.

Jetzt erst begann Kay Martens mit der eigentlichen Operation. Mit einem langen Haut- und Muskelschnitt öffnete er die Haut direkt über dem vermutlichen Sitz der Geschwulst. Dann öffnete er den Bauchraum. Kay benutzte das »elektrische Messer«, das mit Hilfe von hochfrequentem Strom die angeschnittenen Gefäße sofort verschorfen ließ. Dadurch konnte mit geringstem Blutverlust operiert werden.

Die erstaunlich große, nach außen drängende Geschwulst behinderte Kays Arbeit sehr, bis Dr. Olegra mit einem breiten, stumpfen Muskelhaken, dem Spreizer, an den Wundrändern ansetzte und sie auseinanderzog. Jetzt hatte Kay viel bessere Sicht auf das eigentliche Operationsfeld.

Vorsichtig drängte er die Bauchorgane zur Seite und nach oben, um die Geschwulst in ihrer ganzen Ausdehnung erfassen zu können. Sie hatte sich, von der Niere ausgehend, zwischen der hinteren Bauchwand und dem Bauchfell entwickelt. Dabei hatte die Geschwulst die Organe zur Seite gedrängt und so Tims starke Schmerzen ausgelöst.

Während Kay die Geschwulst freilegte, schützte Hanna mit feuchten Tüchern den zarten Bauchfellüberzug der Gedärme vor dem Austrocknen.

Nun erst begann die mühsame, lebenswichtige Arbeit. Stück für Stück mußte Kay alle befallenen Darm- und Nierenteile freilegen. Sofort setzten Hanna und Dr. Küsters Unterbindungen, um den Blutverlust zu verhindern.

Zwei unendliche Stunden dauerte diese Schwerarbeit, bei der jede Naht exakt sitzen mußte, bei der jeder Schnitt sorgfältigste Führung verlangte.

Aber schließlich war auch der eigentliche Herd der Geschwulst in der Niere beseitigt.

Kay entnahm sicherheitshalber Gewebeproben, die sofort ins Labor gebracht wurden. Schon zehn Minuten später kam der Befund:

Der Tumor war gutartig. Es bestand keine Gefahr der Weiterbildung.

Kay begann nun, die Wunde in Tims Bauch zu schließen. Muskel- und Unterhaut-Nähte mußten gesetzt werden. Dazwischen setzte Hanna einen kleinen Plastikschlauch ein, dessen Ende in Tims Bauch steckenblieb. Dadurch könnten in den nächsten Tagen Blut- und Gewebeflüssigkeit abrinnen, die sich im Bauchraum bilden würden.

Als letztes folgte die Naht der Haut. Sie wurde mit einer sogenannten atraumatischen Nadel gesetzt. Dabei handelte es sich um eine dünne Nadel, an deren hinterem Ende der Faden eingepreßt war. Dadurch bildeten sich beim Vernähen der Wunde nur winzige Einstichstellen.

Mit feinem Lächeln dachte Hanna daran, daß Tim vielleicht zutiefst enttäuscht sein könnte, wenn er erfuhr, daß der Reißverschluß in seinem kleinen Bauch nun doch nicht so sichtbar sein würde. Aber sicher würde er diese Enttäuschung bald überwunden haben, wenn er erst wieder aufstehen konnte. Mit so etwas wurden Kinder immer sehr schnell fertig.

Tim würde nur bald ungeduldig werden, denn es stand jetzt schon fest, daß er einige Wochen in der Klinik bleiben mußte.

Kay Martens zwinkerte seiner Schwester über den Mundschutz hinweg zu.

»Na, lauf schon, Kleine. Das hier können wir auch ohne deine Hilfe zu Ende bringen. Erzähl dem aufgeregten Vater die gute Nachricht.«

Das ließ sich Hanna natürlich nicht zweimal sagen. Wenig später stand sie, frisch und gepflegt aussehend, so daß kaum jemand sie für eine äußerst tüchtige Chirurgin gehalten hätte, vor Tim Clausens Vater, der aufgeregt hin und her ging. Am Tisch saß eine überaus hübsche junge Dame, die ihn mit verständnisvollen Blicken verfolgte. Zwei Kaffeetassen standen auf dem Tisch. Hanna wußte, daß Oberschwester Elli sich um sie gekümmert hatte. Die Oberschwester schien anzunehmen, daß Kaffee in jeder Lebenslage gut sei. Vielleicht hatte sie sogar recht damit. Im Augenblick jedoch war nichts von Oberschwester Elli zu sehen. Hanna wußte sofort, daß sie dafür sorgte, daß Tim in den Aufwachraum gebracht wurde. Oberschwester Elli wußte immer über alles Bescheid, ohne daß man ihr auch nur die geringste Neugierde angemerkt hätte. Sie pflegte auch selbst zu sagen, daß sie frei von jedweder Neugierde sei, daß sie aber ein bemerkenswertes Talent besitze, alles herauszubekommen, was sie wissen wollte. Jeder in der Klinik Birkenhain wußte, daß Oberschwester Elli sozusagen alles wissen wollte. Und meistens war sie auch die erste, die alles wußte. Dabei konnte sie stumm wie ein Fisch sein, beim Zuhören ebenso wie beim Verschweigen eines Geheimnisses, das man ihr anvertraut hatte.

Alles in allem – Oberschwester Elli war schon schwer in Ordnung.

Als Clausen Hanna erblickte, blieb er abrupt stehen, als sei er unversehens gegen eine gläserne Wand geprallt. Dann preßte er hervor: »Welche Nachricht haben Sie für mich, Frau. Dr. Martens?«

Auch Hardys Augen hingen an Hannas Gesicht. Hanna lächelte beruhigend und sagte freundlich: »Wir können alle aufatmen. Ich bin sofort hergekommen, um es Ihnen zu sagen. Der Tumor in Tims Niere war nicht bösartig, wenn er auch recht schmerzhaft war. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Er wird wieder ganz gesund. Wir haben alles ausräumen können. Nur – Sie werden sich wohl alle darauf einstellen müssen, daß Tim für eine Weile hierbleiben muß. Immerhin war es keine leichte Operation, die er hinter sich bringen mußte.«

Hans Clausen richtete sich auf. Er machte den Eindruck eines Menschen, von dessen Schultern soeben eine zentnerschwere Last fortgenommen worden war. Er strahlte Hanna an und ergriff dann ihre Hand. Er schüttelte sie, als wollte er sie nie wieder loslassen.

»Ich wollte, ich könnte Ihnen sagen, was ich empfinde, Frau Dr. Martens. Es ist ein Gefühl, das ich nicht beschreiben kann.«

»Ich glaube, ein bißchen kenne ich es.« Hanna nickte verständnisvoll. »Es ist das herrlichste Gefühl, das ein Mensch kennenlernen kann. Habe ich recht?«

»Ja, es ist einfach – einfach überwältigend.«

Hans Clausen zog die bildschöne, aparte Frau, die jetzt zu ihnen getreten war, an sich und küßte sie auf die Wange.

»Er wird wieder gesund, Hardy. Tim wird wieder ganz gesund. Ist das nicht herrlich?«

Hardy errötete, denn immerhin hatte Clausen sie soeben geküßt. Zwar nur auf die Wange und sehr brüderlich – aber es war doch beglückend für sie gewesen. So beglückend, daß ihr Herz plötzlich ganz unmanierlich klopfte.

»Ich bin sehr glücklich darüber, denn Ihr kleiner Tim ist auch mir sehr ans Herz gewachsen«, sagte sie einfach. Aber in Hannas Ohren klang es, als habe diese schöne junge Frau ihrem Chef damit eine richtige Liebeserklärung gemacht.

Hanna sah beide verständnisvoll an. Manchmal merkte ein Außenstehender mehr als die, die es eigentlich betraf. Und sie, Hanna, fühlte, daß diese beiden Menschen einander bemerkenswert gut verstanden. Man konnte ihnen nur wünschen, daß sie begriffen, wie wichtig sie füreinander waren.

Schade, daß man sich in solche Dinge nicht einmischen durfte, auch dann nicht, wenn man es noch so gut meinte. Man konnte damit nur etwas zerstören, denn es ging so Verliebten meist wie weiland Adam und Eva im Paradies. Sobald sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, begann ihr Unglück. Nein, nein, da war es schon besser, wenn man sie im Unklaren ließ, bis sie von selbst darauf kommen würden, daß Liebe etwas Wunderbares und Beglückendes sein kann.

Nur – bis sie so weit waren, mußte man sie in Ruhe lassen. Dabei bewahrheitete sich wieder das alte Sprichwort, das besagt, daß gut Ding auch Weile haben will. Mit anderen Worten – es lohnte nicht, etwas zu überstürzen…

*

Tessy wartete auf Hardy und Hans. Sie haderte mit ihrem Schicksal im allgemeinen und mit sich selbst im besonderen. Wie dumm von ihr, einfach allein zu Hause zu bleiben und nicht darauf zu bestehen, mitgenommen zu werden in die Klinik, um sich an Ort und Stelle davon zu überzeugen, wie es mit Tim stand. Das Warten daheim – und dann noch mutterseelenallein – zerrte an ihren ohnehin stark strapazierten Nerven. Wenn es um Tim, ihren Goldjungen, ging, dann verstand Tessy keinen Spaß.

Endlich, ach endlich hörte sie, wie der Wagen in den geräumigen Hofraum gefahren wurde. Da stand sie schon gewichtig in der Küchentür, die zum Hof hinausführte, und sah den Ankommenden stumm entgegen. Sie schaute ihnen in die Gesichter, denn Tessy wußte nur zu genau, daß man am Gesicht eines Menschen ablesen kann, in welcher Stimmung er sich befindet.

Tessy tat den ersten erleichterten Atemzug.

So wie diese beiden Menschen sah keiner aus, der von Sorge, Kummer oder sogar Trauer niedergedrückt ist. Sie sahen beide so zuversichtlich aus, daß Tessy ein verdächtiges Brennen in den Augen spürte und sie plötzlich den Tränen wieder sehr nahe war.

Hardy sah Tessy scharf an. Sie schien genau nachzuempfinden, was sich jetzt in Tessy vollzog. Und so half sie ihr denn unbewußt, als sie fröhlich ausrief: »Die Operation war ein voller Erfolg, Tessy. Tim hat sie fabelhaft verkraftet. Und dann – die Geschwulst war gutartig.«

Tessy brauchte einen Augenblick, um alles zu erfassen. Dann sagte sie erbittert: »Wenn es sowieso eine gutartige Sache war, warum mußte man den armen kleinen Kerl denn dann noch aufschneiden? Das war doch wirklich nicht mehr nötig.«

»Aber durch diese Operation konnten die Ärzte doch erst erkennen, was los war.« Hardy lachte beinahe übermütig, so glücklich und erleichtert fühlte auch sie sich jetzt, da alles vorüber war. »Frau Dr. Martens hat mir alles genau erklärt. Sie haben die Geschwulst herausgeholt, was nicht einfach war, weil sie an allen möglichen anderen Stellen festgewachsen war. Und dann haben sie während der Operation alles im Labor untersuchen lassen. Ich habe jetzt ziemlichen Respekt davor, was unsere moderne Medizin zu leisten imstande ist.«

Aber das war Tessy völlig egal, jedenfalls im Augenblick. Sie weinte nun doch, obwohl sie es eigentlich gar nicht gewollt hatte, und stieß hervor: »Ich bin ja so froh, daß er es noch einmal geschafft hat, der arme kleine Kerl.«

»Wir haben ihn dann nachher noch sehen können«, berichtete Hardy eifrig weiter. Das brachte Tessy wieder zum klaren, sachlichen Denken zurück. Sie sah Hardy scharf an und wollte wissen: »Wie fühlt er sich? Was sagt er? Hat er irgendeinen Wunsch?«