Steffen-Peter Ballstaedt
Sprachliche Kommunikation
Verstehen und Verständlichkeit
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
Andere gebräuchliche Bezeichnungen sind Gebrauchstexte, funktionale oder expositorische Texte.
Einen aktuellen und soliden Überblick bietet das Buch von Benedikt Lutz (2015): „Verständlichkeitsforschung transdisziplinär“.
Die Termini „Situation“, „Kontext“, „Setting“, „Rahmen“, „Frames“ werden in verschiedenen Theorien unterschiedlich verwendet. Der Ausdruck „Kontext“ wird oft für alle nichtsprachlichen Bedingungen verwendet, die auf Sprechen und Verstehen einwirken.
Die Sprachbeispiele habe ich über die Jahre gesammelt, sie stammen aus verschiedensten Texten und wurden aus didaktischen Gründen oft modifiziert. Deshalb gebe ich dafür auch keine Quellen an.
Vom Adressaten erschlossene Bedeutungen sind im Folgenden immer mit einem Pfeil → versehen.
In Anlehnung an Kintsch (1988) wird gern von einer Leser-Text-Interaktion gesprochen, aber der Ausdruck ist irreführend, wenn er kommunikativ verstanden wird, denn der Text reagiert ja nicht auf die Verstehensbemühungen eines Lesenden. Gemeint ist damit, dass das Verstehen durch Merkmale des Textes und Merkmale des Lesenden beeinflusst wird.
Diese sprachökonomische Hypothese wird auch als „falsches Zipf’sches Gesetz“ bezeichnet. Zwar hat der amerikanische Linguist George Kingsley Zipf viele Gesetze formuliert, aber dieses wurde ihm fälschlich zugeschrieben.
In der Linguistik wird auch der Terminus Register benutzt: Wie ein Orgelspieler zieht der Sprecher neue Register, um einen anderen Ausdruck für seine Gedanken zu finden.
Bei Habermas „Richtigkeit“, aber dieses Wort ist m.E. keine treffende Bezeichnung für diesen Geltungsanspruch.
Die Psychologen sprechen scherzhaft vom Matthäus-Effekt, nach dem Satz aus dem Matthäus-Evangelium „Wer hat, dem wird gegeben“ (Mt 25,29).
Dietrich Busse (2015) betont ebenfalls die Bedeutung der Hermeneutik, vor allem Schleiermachers, die viele Erkenntnisse der Psycholinguistik vorgedacht hat. Sein Ansatz ist meinem in vieler Hinsicht ähnlich, wenn auch nicht fokussiert auf Sachtexte und Verständlichkeit. Aber ein „genuin linguistisches Modell des Textverstehens und der Textinterpretation“ (S. 236) halte ich für einen Rückfall in die disziplinäre Schrebergärtnerei.
Ausgerechnet Hegel, dessen Texte wirklich eine Herausforderung darstellen, hat in der „Phänomenologie des Geistes“ eine verständliche Wissenschaft gefordert, damit sie kein „esoterisches Besitztum einiger Einzelner“ wird.
Ich habe mich für das geschlechtsneutrale Wort „Versuchsperson“ entschieden, das ab jetzt mit Vp abgekürzt wird.
Auflösung der MC-Aufgabe: Zutreffend sind die Antworten 2. und 4.
Paraphrasieren ist ein Kriterium des Verstehens bei Wittgenstein: „Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen anderen ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt“ (Wittgenstein, 1967, S. 176).
In der Logopädie werden durch diese Methode der Deblockierung spontan nicht abrufbare Wörter wieder zugänglich gemacht.
Interessanterweise wurden die ersten wissenschaftlichen Studien zur Leserlichkeit auch im Rahmen einer „hygiènie oculaire“ durchgeführt (Javal, 1878).
Das ursprüngliche semiotische Dreieck wurde je nach Theorie oft umgeordnet und anders beschriftet. Auch ich habe es meinen Vorstellungen angepasst.
Wenn im Text nicht das Wort, sondern das vorsprachliche Konzept gemeint ist, wird das Wort in KAPITÄLCHEN geschrieben.
Ich benutze nicht den verbreiteten Ausdruck „mentales Lexikon“. In einem Lexikon ist die Wortform und ihre Bedeutung verzeichnet. Diese Informationen sind im Gehirn aber getrennt repräsentiert, auch wenn es selbstverständlich eine gebahnte Verbindung zwischen einer Wortform und einem Konzept gibt.
Es gibt zahlreiche Varianten der Darstellung von konzeptuellen Netzen. Der wohl ausführlichste Ansatz, der sich an der natürlichen Sprache orientiert, ist das MultiNet (Helbig & Phönix, 2018).
Hildebrandt et al. (1999) haben für die verarbeitungsrelevante Einheit den Terminus Inkrement vorgeschlagen.
Im Volksglauben war man der Ansicht, dass eine Geistesgestörtheit durch ein Tier im Gehirn verursacht wird (vgl. Grillen im Kopf oder einen Hirnwurm haben).
Die thematische Progression von Texten wird in anderen Theorien als Thema-Rhema-Gliederung bezeichnet.
Linguisten sprechen auch von Textgrammatiken, aber die Konstruktionsregeln sind bei weitem nicht so verbindlich wie grammatische Regeln. Van Dijk (1980) spricht von Superstrukturen.
Das lateinische Verb „inferre“ bedeutet zunächst „hineintragen“, „hinzufügen“, erst erweitert dann „folgern“. Wir haben hier das Problem, dass Inferenz sowohl den Prozess der Folgerung als auch das Ergebnis der Folgerung bezeichnet (Singer, 1994).
… ist kein Säugetier ein Fisch.
Man könnte noch radikaler und alltagssprachlich werden und formulieren: Je mächtiger die Medien werden, desto weniger lassen sie sich reinreden.
Das erinnert an das Bauhaus-Gestaltungsprinzip: Form follows function.
Die IDS-Grammatik umfasst drei Bände mit 2569 Seiten, die aber vom Team noch immer als unvollständig bezeichnet wird (S. 2).
Im Wortschatzkorpus der Leipziger Universität kann man die Gebrauchshäufigkeit jedes Wortes nachschlagen: http://wortschatz.uni-leipzig.de. – Der Grund- und Aufbauwortschatz einer Sprache wird aufgrund derartiger Häufigkeiten zusammengestellt.
Die Notation für Morpheme ist uneinheitlich. Wir haben uns hier für Schrägstriche entschieden.
Im Türkischen und Finnischen können ebenfalls zahlreiche Morpheme zu einem satzähnlichen Wort zusammengekoppelt werden. Das menschliche Gehirn kann also grundsätzlich mit Kompositionalität umgehen (Dehaene, 2010).
Am 25.2. ist der Tag der Schachtelsätze, den der Blogger und Comiczeichner Bastian Melnyk ins Leben gerufen hat.
Für narrative Texte wie Märchen hat das bereits Frederic Bartlett (1932) nachgewiesen. Thorndyke (1977) und Kintsch und Greene (1978) haben die Befunde bestätigt.
Bei Annely Rothkegel (2010, S. 81) ist das Definieren ein repäsentativer Sprechakt. Ich meine, dass mit einer Definition eine verbindliche Festlegung deklariert werden soll. Auch für Dieter Wunderlich (1976) sind Definitionen deklarative Sprech- bzw. Schreibakte.
Als literarische Gattung wird von Ekphrasis gesprochen. Hier ist die Absicht des Beschreibenden, den Adressaten ein abwesendes oder verlorengegangenes Kunstwerk anschaulich vor Augen zu stellen.
http://www.leichtesprache.org/downloads/Regeln__fuer__Leichte__Sprache.pdf (Abruf 11.03.2014).
Aufgrund welcher sprach-statistischer Zählungen er umskaliert, wird leider nicht berichtet.
Viele Jahre meiner wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich mit Problemen verständlicher Kommunikation zugebracht. Die Orientierung war dabei vorwiegend praktisch, es ging um Studienmaterial, Lehrbücher, technische Dokumentationen, journalistische Texte, audiovisuelles Material, Präsentationen. Als wissenschaftlicher Redakteur habe ich Studienbriefe im Funkkolleg fernstudiendidaktisch bearbeitet. In Workshops und Schreibwerkstätten berate ich Firmen und wissenschaftliche Institutionen, wie sie Texte und Bilder verständlich gestalten können. Bei dieser Praxis des Verständlichmachens kam die Theorie immer zu kurz, obwohl mir bewusst war, dass Verständlichkeit in einer Theorie der Kommunikation verankert werden muss und sich die praktische Umsetzung nicht in der Anwendung schlichter Richtlinien erschöpft wie „Vermeide Schachtelsätze!“ Verständliche Texte sind das Produkt einer komplexen und anspruchsvollen kommunikativen Arbeit. Dafür liefert dieses Buch einen theoretischen Rahmen.
Schon in der klassischen Rhetorik und ausführlich in der Hermeneutik war Verstehen und Verständlichkeit ein Thema, das derzeit in der Kognitionspsychologie und der Linguistik weitergeführt wird, allerdings nicht kontinuierlich und kumulativ, sondern in zahlreichen und verzweigten Forschungslinien. Die theoretischen und praktischen Ansätze sind kaum noch zu überblicken. Keine meiner Grundannahmen ist vollständig neu, in einem so traditionsreichen Forschungsgebiet steht man als Zwerg auf den Schultern von Riesen. Das Literaturverzeichnis zeigt, auf wie vielen Grundpfeilern das theoretische Gebäude errichtet ist. Ohne Respekt vor disziplinären Zäunen möchte ich die unterschiedlichen Forschungslinien zusammenführen: Hermeneutik, Sprachphilosophie, Philologie bzw. Interpretationstheorie, Linguistik und Psycholinguistik, Sprachpsychologie und Kognitionspsychologie. Einzig die Neuropsychologie habe ich ausgespart, obwohl sie durchaus ergänzende Beiträge zum Thema liefern könnte.
Aus diesem breiten Blickwinkel sind drei Einschränkungen notwendig:
1. Es geht um SachtexteSachtext, deren primäre Absicht es ist, über Sachverhalte zu informieren.1 Dazu gehören auch FachtexteFachtext, Fachsprache verschiedener Disziplinen und Wissensdomänen. Ganz ausgeblendet bleiben literarische Texte, obwohl das Verstehen dort nicht grundsätzlich anders abläuft (Kintsch, 1994). Verständlichkeit ist aber kein sinnvolles Kriterium für literarische Werke.
2. Der Fokus liegt auf schriftlichen Texten. Trotzdem kommt man um die mündliche Verständigung nicht herum, um im Vergleich die Probleme der Textverständlichkeit herauszuarbeiten. Die kommunikative Situation ist beim Schreiben und Leseverstehen eine völlig andere als beim Sprechen und Hörverstehen.
3. Die Präsentation von Texten in anderen Medien auf einem Monitor oder dem Display eines Smartphones, wird nicht berücksichtigt. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Leitlinien verständlicher Sprache für alle medialen Präsentationen gleich sind.
Ein Text bekommt die Eigenschaft „verständlich“ zugesprochen, indem ein Leser bzw. eine Leserin sein bzw. ihr eigenes Verstehen beurteilt. Durch die Substantivierung zu „Verständlichkeit“ wird daraus ein Merkmal, von dem ein Text mehr oder weniger besitzen kann. Diese Substantivierung führt allerdings in die Irre.
1. Verständlichkeit ist keine fixe Eigenschaft einer sprachlichen Mitteilung sondern eine kommunikative Kategorie und muss in einer Theorie der Kommunikation eingebettet sein. Für pragmatisch orientierte Linguisten ist das eine Selbstverständlichkeit (Heringer, 1979; Fritz, 1991), in der Psychologie hat sich diese Erkenntnis erst später durchgesetzt. Verständlichkeit ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen Absenderund Adressat. Verständlich ist eine Mitteilung – ein mündlicher oder schriftlicher Text – immer nur für einen bestimmten Adressaten oder eine bestimmte Adressatengruppe.
2. Verstehen findet im Kopf des Adressaten statt und das Ergebnis lässt sich nie über den Text allein vorhersagen. Vor allem das Vorwissen und der Einsatz von kognitiven Ressourcen bei den Adressaten spielen eine entscheidende Rolle. Der Text ist sozusagen nur eine Ausgangsbedingung, er regt Verarbeitungsprozesse an, aber er determiniert das daraus resultierende Verständnis nicht. Der Absender kann über die sprachliche Formulierung das Verstehen aber erleichtern oder erschweren.
3. Verständlichkeit ist abhängig vom Verarbeitungsaufwand, der zum Verstehen erforderlich ist. Wer ein Urteil über die Verständlichkeit eines Textes ausspricht, der schätzt ein, wie viele mentale Ressourcen er zum Verstehen einsetzen musste. Diese Idee findet sich bereits 1884 bei Herbert Spencer (2018), der Schwerverständlichkeit als eine von der Sprache verursachte geistige Anstrengung auffasst. Dabei spielen Beschränkungen der Kapazität im Arbeitsgedächtnis eine wichtige Rolle.
4. Es gibt verschiedene Verstehensprozesse, die den Einsatz mentaler Ressourcen erfordern. Einmal die grammatische Verarbeitung der Wörter, Sätze und Texte. Die deutsche Grammatik lässt Wortbildungen, Satzkonstruktionen und Textverknüpfungen zu, die zwar korrekt, aber für die Verarbeitung aufwendig sind. Zum anderen die pragmatische Verarbeitung, bei der es um das Verstehen der mit einer Äußerung vollzogenen Handlung geht. Vage und mehrdeutige Formulierungen erschweren nicht nur das Verstehen, sondern führen auch zu Missverständnissen. Schließlich lassen sich über einen anregenden Text auch motivationale Ressourcen aktivieren.
Mit diesen Annahmen wird ein kognitiver Konstruktivismus vertreten: Verstehen ist keine passive Entnahme von Bedeutungen aus einem Text, sondern die aktive Konstruktion eines Verständnisses.
An Anleitungen für verständliches Schreiben und verständlichen Stil besteht keinerlei Mangel: seit der Stilkunst von Eduard Engel (1911, 2016) – erfolgreich plagiiert und arisiert von Ludwig Reiners (1943, 1961) – bis zu den strengen Traktaten des aktuellen Stilpapstes Wolf Schneider (1994, 2005) und den abwägenden Stilbetrachtungen von Willy Sanders (1990, 1998). Was verständliche Sprache ausmacht, das ist eigentlich in vielen Büchern nachzulesen.2 Schwierig bleibt aber offenbar die praktische Umsetzung. Entweder weisen praxisorientierte Anleitungen und Handreichungen einen schmalen oder gar keinen theoretischen Hintergrund auf. Oder es gibt Ansätze, die sich theoretisch differenziert über Verstehen und Verständlichkeit auslassen, aber nur sehr allgemeine Anregungen für den Praktiker der Verständlichkeit bieten. Mein Versuch soll die Grundlagenforschung zum Verstehen und die praktische Umsetzung in verständliche Texte miteinander verbinden.
1. Innerhalb einer Kommunikationstheorie ist die Adressatenorientierung von zentraler Bedeutung. Texte müssen so formuliert werden, dass sie bei den jeweiligen Adressaten keine unnötigen Ressourcen zum Verstehen beanspruchen. Diese Aufgabe des Absenders erfordert fundierte Annahmen über die Vorkenntnisse, die kognitiven Fähigkeiten und die Sprachkompetenz der Adressaten, aber auch über ihre Mentalität und Motivation.
2. Verständlich Schreiben ist ein Handwerk, das man lernen kann, z.B. in Schreibwerkstätten oder mit Trainingsmaterial. Das vorliegende Buch enthält Leitlinien für eine verständliche Sprache, aber damit sollen keine stilistischen Normen für Sachprosa propagiert werden. Die Sprache stellt viele Formulierungsvarianten zur Verfügung, um einen Gedanken auszudrücken, und jede hat ihren kommunikativen Sinn. Ohne die Vielfalt der Sprache zu beschneiden, soll dafür sensibilisiert werden, was man als Autor bzw. Autorin seinen Adressaten mit einer Formulierung geistig zumutet, man kann es den Lesenden – bewusst oder unbewusst – schwermachen. Die Language AwarenessLanguage Awareness, das Sprachbewusstsein, von Schreibenden soll geschärft werden.
3. Es gibt Randbedingungen für das Verstehen, die den Einsatz kognitiver Ressourcen beeinflussen. Dazu gehört der visuelle Auftritt der Sprache, altmodisch das Schriftbild. Die Typografie spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle beim Lesen und das Layout kann den Aufbau von kohärenten Wissensstrukturen unterstützen.
4. Das Eingreifen in Texte durch Umformulierung ist nicht immer möglich, so sind z.B. klassische Text tabu. Hier kann das Verstehen durch didaktische Zusätze als Erschließungshilfen gefördert werden. Derartige Erschließungshilfen sind Vorstrukturierungen, Leitfragen, Zusammenfassungen, Glossare usw. Sie sind aus gut aufbereiteten Lehrwerken heute nicht mehr wegzudenken. Wenn man an die Texte nicht herankommt, dann kann man mit solchen Hilfsmitteln die Lese- und Verstehenskompetenz der Lesenden verbessern.
Das Verständlichmachen ist eine kommunikative Aufgabe. Ziel ist die Ausbildung von Textexperten, die über das notwendige Hintergrundwissen und über Werkzeuge zur Evaluation und Gestaltung von Sachtexten verfügen. Mit diesem Anliegen stehe ich nicht allein. In den letzten Jahrzehnten sind Ansätze, die sich mit Verständlichkeit befassen, wie Pilze aus dem Boden geschossen: Informationsdesign (Horn, 2000), Textdesign (Weber, 2008), Instruktionsdesign oder didaktisches Design (Reinman, 2011), Wissenskommunikation (Antos, 2006), Fachkommunikationswissenschaft (Heidrich, 2017).
Um welche Texte geht es konkret? Es gibt Bereiche gesellschaftlicher Kommunikation, in denen die Forderung nach Verständlichkeit aus verschiedenen Gründen besonders wichtig ist. Meist handelt es sich dabei um die Kommunikation zwischen Experten und Laien mit einem erheblichen Wissensgefälle zwischen beiden. Dazu einige Skizzen relevanter Praxisfelder.
Die administrative Sprache ist geprägt von immer komplexeren Inhalten und dem Bestreben nach Rechtssicherheit. Dazu kommt eine aus bürokratischer Tradition stammende Unfähigkeit, sich auf die Adressaten einzustellen. Das führt zu schwer verständlichem Bürokratendeutsch in Vorschriften, Bescheiden, Mitteilungen usw. (Eichhoff-Cyrus & Antos, 2008). Die Klartext-Initiative der Universität Hohenheim hat viele Beispiele für schwer verständliche Kommunikation in Politik und Verwaltung gesammelt (Kercher, 2013). Ein Beispiel für Verwaltungskommunikation, die viele Adressaten nicht verstehen, sind die Steuerbescheide. – Ein leidiges Spezialproblem stellen Formulare und Vordrucke dar, die oft erhebliche kognitive Anforderungen beim Ausfüllen stellen. Dazu kommt ein oft unübersichtliches Layout (Barnett, 2007; Renkema, 2009). Bemühungen um eine bürgernahe Sprache in Recht und Verwaltung gab es in der BRD bereits 1966: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache richtete einen linguistischen Redaktionsstab beim Deutschen Bundestag ein, der Gesetzestexte auf Verständlichkeit prüft.
Die Forderung, dass Gesetze für die Adressaten verständlich sein müssen, denen sie zur Richtschnur dienen sollen, stammt bereits aus der Aufklärung (Lück, 2008). Zu den nachgeordneten juristischen Texten zählen Kommentare, Vorschriften, Ausführungsbestimmungen, Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) usw. Für Allgemeine Geschäftsbedingungen und Vertragsklauseln gilt ein Transparenzgebot als Rechtsprinzip (§. 307 Absatz 1 Satz 2 BGB). Es fordert klare Formulierungen der Rechte und Pflichten der Vertragspartner. Verbraucherverbände weisen darauf hin, dass das Transparenzgebot in AGBs bei Online-Angeboten, denen der Kunde mit einem Klick zustimmen muss, oft nicht eingehalten wird.
Die Frage, ob und wie weit juristische Texte allgemeinverständlich formuliert werden können, wird kontrovers diskutiert (Lerch, 2004; Eichhoff-Cyrus & Antos 2008). Von linguistischer Seite wird eine verständlichere Rechtssprache gefordert und mit abschreckenden Befunden argumentiert (Dietrich & Kühn, 2000; Neumann, 2009; Wolfer, 2017). Von juristischer Seite wird dagegengehalten, dass die sprachlichen Formulierungen den Adressaten im System der Justiz verständlich sind und zudem Deutungsoffenheit ein Strukturmerkmal rechtlicher Kommunikation darstellt, an dem auch Umformulierungen nichts ändern (Ogorek, 2004). Die Kritik an der Schwerverständlichkeit juristischer Texte wird auch als stereotypes habitualisiertes Urteil gesehen, in dem sich ein Misstrauen gegenüber dem Gesetzgeber ausdrückt (Warnke, 2004).
In Deutschland beraten seit 2009 sechs Sprachwissenschaftler das Justizministerium und überprüfen die Gesetze aller Ministerien. Diese sollen sprachlich einwandfrei und so weit wie möglich für jeden verständlich sein. So wird z.B. aus der „Erweiterung des Restmüllbehältervolumens“ schlicht eine „größere Mülltonne“. – In der Schweiz werden Gesetze schon seit über 30 Jahren auf Verständlichkeit geprüft, die sprachliche Redaktion ist dort institutionalisiert. Zudem sorgt schon die Tatsache, dass die Gesetze in drei Sprachen veröffentlicht werden, für einfachere Formulierungen (Nussbaumer, 2002).
Die Sprache der Real- und vor allem der Finanzwirtschaft steht seit langem wegen ihrer Unverständlichkeit in der Kritik. Eine empirische Untersuchung der Verständlichkeit von Bankdokumenten (Kontoeröffnungsunterlagen, Allgemeine Geschäftsbedingungen, Datenschutzerklärungen, Newsletter) ergab, dass sie teilweise „dem Schwierigkeitsgrad einer Doktorarbeit“ entsprechen (Brettschneider, 2010). Besonders Fachwörter wie Fluktuationsquote, Bonität, Risikoinventur usw. werden nicht definiert. Die Beschreibung von Finanzprodukten und deren Risiken bleibt für Kunden oft undurchschaubar. John Lanchester (2015) behauptet, dass hier Unverständlichkeit zum Programm gehört.
Auch Verlautbarungen des Managements sind für Außenstehende kaum nachvollziehbar, nicht zuletzt wegen der vielen Anglizismen und Neologismen. Die Reden der Chief Executive Officer (CEO) auf den Hauptversammlungen von DAX-Unternehmen sind für Analysten und Wirtschaftsexperten verständlich, aber nicht für eine interessierte Öffentlichkeit (Brettschneider, 2013). Insgesamt zeigt die externe Unternehmenskommunikation, z.B. durch Geschäftsberichte, erhebliche Mängel der Verständlichkeit (Keller, 2006; Moss, 2009).
Am meisten Mühe geben sich Firmen mit PR-Texten, aber auch hier besteht oft noch Optimierungsbedarf, vor allem wenn es um Krisen-PR geht (Ebert, 2014).
Politiker und Politikerinnen drücken sich oft nicht klar und verständlich aus, selbst wenn sie die Wähler als Adressaten direkt ansprechen. Bei dieser Berufsgruppe ist oft ein strategisches Sprachverhalten zu beobachten: Zum einen achten sie wegen der oft komplexen Materie und verschiedener Rücksichtnahmen wenig auf Verständlichkeit. Zum anderen dominiert die persuasive Funktion der Sprache gegenüber der Verständigungsfunktion.
Parteiprogramme sind das Ergebnis von Kompromissen in Expertenrunden und deshalb oft verklausuliert und mit Fachwörtern durchsetzt. Eine empirische Studie der Parteiprogramme zur Bundestagswahl 2009 ergab: Die Linke hatte das unverständlichste Programm, die Grünen das verständlichste, aber beide noch weit von guter Verständlichkeit entfernt (Brettschneider, Haseloff & Kercher, 2009; Kercher, 2013).
Die Sprache der Wissenschaften steht in Bezug auf Verständlichkeit in mehrfacher Hinsicht immer wieder am Pranger. Dabei muss man zunächst einräumen, dass es hier nicht allein um die Sprache, sondern auch um komplexe Inhalte geht. Wissenschaft ist ohne spezifische Fachwörter und ohne differenzierte Argumentation nicht denkbar (Otero, Leon & Graesser, 2002). Dazu kommt eine Tradition wissenschaftlicher Prosa, die sich nach dem Motto richtet: „Je schwieriger ein Text, desto klüger sein Autor“. Das hat zur Ausbildung eines Imponierdeutsch in den Wissenschaften geführt, wobei einige Disziplinen dafür offenbar besonders anfällig sind, z.B. die Soziologie (Ballod, 2001; Groebner, 2012). Grundsätzlich gibt es für Wissenschaftler wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Adressaten.
Wissenschaftliche AdressatenAdressat. Zu den wissenschaftlichen Texten gehören Fachaufsätze und Monografien, aber auch die Qualifikationsschriften wie Bachelor- und Masterarbeiten, Dissertationen und Habilitationen. Sie werden für die Scientific Community der eigenen Disziplin geschrieben. SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit ist hier traditionell als déformation professionelle ein Ausweis für komplexes und tiefgründiges Denken. Das führt zu Kommunikationsbarrieren zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, man denke an die beiden Kulturen der Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler (Snow, 1987). Allerdings ist die wissenschaftliche Prosa dabei, sich aus den traditionellen Schreibzwängen zu lösen (Sanders, 2008). Wissenschaftliche Texte sind immer weniger Anpassungen an ein überholtes Reputationssystem. Immer mehr Wissenschaftler sehen, wie verständlich und anregend z.B. amerikanische Kolleginnen und Kollegen schreiben. Sogar Bestseller! Schreiben wurde traditionell an den deutschen Hochschulen nicht gelehrt, ein angehender Wissenschaftler wird in den Schreibstil seines Faches hineinsozialisiert. Nachdem in akademischen Texten erhebliche Defizite aufgefallen sind, werden jetzt Workshops und Schreibwerkstätten angeboten und das Schreiben wird zum Soft Skill aufgewertet. Aber eine deutsche Wissenschaftssprache ist vielleicht bereits ein Auslaufmodell, da Englisch als lingua franca das Deutsch in den Instituten und Hörsälen immer mehr verdrängt. Wer in der Scientific Community Karriere machen will, der tut gut daran, seine Qualifizierungsschriften gleich englisch abzufassen (dazu kritisch Kaehlbrandt, 2016).
Außerwissenschaftliche Adressaten. Bei Texten von Wissenschaftlern für Nichtwissenschaftler bzw. die interessierte Öffentlichkeit wird oft moniert, dass Fachleute sich wenig Mühe geben, sich verständlich auszudrücken. Ein Grund dafür ist der „Curse of knowledge“: Je intensiver man sich mit einer Wissensdomäne auseinandergesetzt hat, desto weniger kann man sich in die Adressaten hineinversetzen, die über dieses Wissen nicht verfügen (Nickerson, 1999). Ein kommunikativer Graben zwischen Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern ist jedoch aus verschiedenen Gründen nicht akzeptabel.
1. Zum einen wird Wissenschaft weitgehend aus öffentlichen Mitteln finanziert und ist den Geldgebern, letztlich den Steuerzahlern Rechenschaft über ihre Ergebnisse schuldig. Wissenschaftler müssen den theoretischen wie den praktischen Nutzen ihrer Arbeit vermitteln, das gilt vor allem für teure Grundlagenforschung (Weitze & Gießler, 2016). Wissenschaftler sollten ihre Arbeiten verständlich in den Medien sowie in Sachbüchern und populärwissenschaftlichen Zeitschriften präsentieren können, um Akzeptanz für ihre Forschung zu erreichen (von Campenhausen, 2014).
2. Die vielen Akademiker aus hochspezialisierten Studiengängen, die derzeit die Hochschulen verlassen, verbleiben bei weitem nicht alle im wissenschaftlichen System, sondern viele werden in außerakademischen Institutionen arbeiten. Ihre Bewerbung gewinnt, wenn ein zukünftiger Arbeitgeber eine Bachelor-, Master- oder Doktorarbeit versteht und nicht schon am verschwurbelten Titel der Arbeit scheitert.
Einen wichtigen Wissenstransfer leistet die Politikberatung (Pörksen, 2014). Bei Themen wie Energiewende, Klimawandel, pränatale Diagnostik, Gen-Lebensmittel, Sterbehilfe usw. sind verantwortliche politische Entscheidungen ohne verständlich formulierte wissenschaftliche Expertisen nicht mehr denkbar.
Hier haben wir es mit einem Sonderfall der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu tun. Nachdem die Wissensmacht der Ärzte schrumpft, weil sich Patienten mit Ratgeberliteratur und Verbraucherinformationen im Web informieren, bekommen verständliche medizinische Befunde, Informationen über Medikamente, Anleitungen für medizinische Geräte und Hinweise zur gesunden Ernährung einen wichtigen Stellenwert. Die Beipackzettel zu Medikamenten waren schon mehrfach Gegenstand der Verständlichkeitsforschung (z.B. Hoffmann, 1983; van Vaerenbergh, 2007). Eine Hürde stellen vor allem die Warnungen vor Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten dar. Tests mit Adressaten zeigen, dass viele Fremd- und Fachwörter nicht verstanden werden: Gravidiät wird als Übergewicht missverstanden, Insuffizienz als Impotenz, Dosis als Verpackung und orale wird mit analer Applikation verwechselt. Das Problem ist die Mehrfachadressierung, denn die Texte sind nicht nur für Patienten, sondern auch für Ärzte und Apotheker geschrieben. Zudem sind bestimmte schwierige Wörter und Formulierungen gesetzlich vorgeschrieben.
Dazu zählen Anleitungen zur Montage, Bedienung, Wartung und Reparatur von Geräten und Maschinen sowie die technische Beschreibung von Produkten und ganzen Anlagen. BedienungsanleitungenBedienungsanleitung haben keinen guten Ruf. Jeder kennt den Scherz: Wenn man gelernt hat, ein Gerät zu bedienen, dann versteht man auch die Gebrauchsanleitung. In der technischen Kommunikation hat der Druck auf Verständlichkeit jedoch zugenommen (Jahr, 2007):
1. Eine unverständliche Bedienungsanleitung ärgert den Endkunden und wirkt sich negativ auf die Bewertung und das Image des Produkts und der Firma aus. Verständliche Texte sind auch ein Aspekt des Marketings.
2. Seit 1990 legt das Produkthaftungsgesetz fest, dass die Bedienungsanleitung Teil des Produkts ist und damit der Hersteller für Personen- und Sachschäden haftet, die auf eine unverständliche oder fehlerhafte Anleitung zurückzuführen sind. Eine missverständliche Anleitung kann so juristische Konsequenzen haben: Wer sich mit der neuen Brotschneidemaschine einen Finger kupiert, kann die Firma verklagen, wenn das Unglück nachweislich auf Mängel in der Bedienungsanleitung zurückzuführen ist. Seitdem bemühen sich Firmen um verständliche Anleitungen. Sie richten dazu entweder eigene Abteilungen ein oder lagern die technische Dokumentation zu Dienstleistern aus. Immer häufiger wird die Verständlichkeit der technischen Dokumentation mit Usability-Tests empirisch überprüft (Ballstaedt, 2000).
3. Schließlich werden die meisten Produkte für einen globalen Markt hergestellt und eine einfache und verständliche Sprache ist besser in andere Zielsprachen zu übersetzen, sowohl von menschlichen Übersetzern, erst recht aber für eine maschinelle Übersetzung.
Über Jahrzehnte war Verständlichkeit in der technischen Kommunikation ein zentrales Thema, das derzeit aber in den Hintergrund tritt, denn das standardisierte und kontrollierte Schreiben ist auf dem Vormarsch. Dabei sind lexikalische und syntaktische Formulierungsregeln vorgegeben, deren Einhaltung durch elektronische Tools überwacht wird. Eine derart reduzierte Sprache dient zwar primär der besseren Übersetzbarkeit, aber gleichzeitig verbessert sich auch die Allgemeinverständlichkeit.
Hier geht es um Lehr- und Sachbücher für Schulen und Weiterbildung. Schulbuchverlage haben Handreichungen für Autoren und Autorinnen entwickelt und bemühen sich durch eine Qualitätskontrolle um verständliche Texte. Dabei wird meist das Hamburger Modell der Verständlichkeit adaptiert (Langer, Schulz von Thun & Tausch, 2011). Man kann feststellen, dass die Lehrbücher in den letzten Jahrzehnten deutlich verständlicher formuliert und übersichtlicher gestaltet sind. Vorbild sind dabei amerikanische Lehrmaterialien, die schon länger nach Kriterien des Instructional Design gestaltet und evaluiert werden (Burnett, 2005).
Weniger überzeugend sind oft Informationstexte in Ausstellungen und Museen. Von den Beschriftungen an den Exponaten bis zu den Katalogen gibt es viele Texte, die für einen breiten Adressatenkreis verständlich sein sollten. Sie werden meist von Fachwissenschaftlern geschrieben und diese nehmen auf den heterogenen Adressatenkreis wenig Rücksicht (Ballstaedt, 1992). Hier liegt noch ein erheblicher Forschungsbedarf, was verständliche Formulierungen, aber auch eine augenfreundliche Präsentation betrifft.
Der Journalismus steht nicht zufällig an letzter Stelle der Praxisfelder. Er ist sozusagen die Vermittlungszentrale zwischen allen gesellschaftlichen Systemen. Ressort-Journalisten müssen Verständigung über die Grenzen von Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Gesundheit und Bildung ermöglichen. Für journalistische Texte ist deshalb Verständlichkeit ein zentrales Qualitätskriterium (Bucher, 2005). Verständliche Nachrichten, Kommentare, Reportagen sind eine Voraussetzung zur Partizipation an demokratischen Entscheidungsprozessen. Untersuchungen zur Verständlichkeit von Nachrichten und Kommentaren waren deshalb ein frühes Arbeitsfeld der angewandten Linguistik (Straßner, 1975; Ballstaedt, 1980). Von einem Journalisten stammen auch die beliebtesten modernen Stillehren, in denen Verständlichkeit eine zentrale Rolle spielt (Schneider, 1984, 1987, 1994, 2005).
Im Bereich Journalismus werden auch Probleme verständlicher Sprache in Anpassung an verschiedene Medien diskutiert, z.B. Schreiben für das Hören (Radio) oder von Texten für das Internet (Online-Zeitung). Es hat sich eine Medienlinguistik etabliert, die untersucht, wie Sprache an die verschiedenen Medien angepasst wird (Perrin, 2006; Burger & Luginbühl, 2014; Schmitz, 2004, 2015). Dabei spielt auch die Kombination von Sprache mit Bildern eine wichtige Rolle, denn in den visuellen Medien steht die Sprache oft in einem bildlichen Kontext.
Kapitel 1. Nach den Grundannahmen und den Anwendungsfeldern hier zur ersten Orientierung ein Schnelldurchlauf durch die folgenden Kapitel:
Kapitel 2. Zunächst wird der kommunikative Rahmen aufgespannt, in dem ein Absender etwas meint und ein Adressat etwas versteht. Verständlichkeit ist dabei das Ergebnis einer Kooperation: Der Absender muss adressatenorientiert formulieren und der Adressat muss sich um ein Verständnis bemühen.
Kapitel 3. Ausgangspunkt ist die gesprochene Sprache. In der mündlichen Kommunikation wird Verständigung durch Techniken kooperativer Verständnissicherung erreicht. Die Kommunikationspartner unterstellen sich wechselseitig die Einhaltung bestimmter Maximen oder fühlen sich bestimmten Geltungsansprüchen verpflichtet.
Kapitel 4. Auch Schreiben ist eine kommunikative Tätigkeit, nicht das egozentrische Ausleeren eines Kopfes. Allerdings stellen sich hier Probleme der Verständlichkeit in verschärfter Form, da die alltäglichen Formen der Verständnissicherung ausfallen. Die Verantwortung für verständliche Kommunikation verlagert sich auf den Absender: Er muss bei schriftlicher Kommunikation seine Adressaten bei der Auswahl der Inhalte und den Formulierungen berücksichtigen.
Kapitel 5. Verstehen und Verständnis lassen sich nicht direkt beobachten, sie spielen sich verborgen im Gehirn des Adressaten ab. Die Wissenschaft hat eine Reihe von Methoden entwickelt, mit denen man sozusagen unter die Schädeldecke blicken kann. Jede einzelne Methode hat ihre Grenzen und erfasst nur einen Aspekt des Verstehens, aber in einem ergänzenden Methodenmix sind sie doch erfolgreich.
Kapitel 6. Das Verstehen kann in Teilprozesse aufgebrochen werden: Die Leserlichkeit der Schrift erleichtert oder erschwert das Erkennen von Wörtern, mit dem der Prozess des Verstehens startet. Die Formulierung von Sätzen und ihre Verknüpfung zu Texten steuern die Verarbeitung, aber das Herzstück des Verstehens sind Schlussfolgerungen, die über den Text hinausgehen und in eine mentale Repräsentation des Textes eingehen. Diese Prozesse sind teils automatisiert, teils kontrolliert, wobei Letztere die Schwierigkeit eines Textes ausmachen. Verständlichkeit bedeutet eine Schonung mentaler Ressourcen. Der Einsatz von Ressourcen wird vor allem durch die beschränkte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses begrenzt. Wir unterscheiden grammatische und pragmatische Ressourcen.
Kapitel 7. Den theoretischen Hintergrund für die grammatische Verständlichkeit bildet eine funktionale Grammatik, in der die kommunikative Funktion sprachlicher Ausdrücke im Fokus steht. Verständlichkeit lässt sich auf der Ebene der Grammatik durch den Gebrauch geläufiger Wörter, einfacher Sätze und kohärenter Texte herstellen. Es werden psycholinguistische Befunde referiert, wie bestimmte Formulierungen das Verstehen beeinflussen.
Kapitel 8. Den theoretischen Hintergrund für die pragmatische Verständlichkeit bildet die Sprechakttheorie. Es geht um eindeutige sprachliche Handlungen, die mit dem Schreiben vollzogen werden. Dazu gehören in Fachtexten einfache Handlungen wie Benennen oder Anleiten sowie komplexe Handlungen wie Definieren, Beschreiben, Erzählen, Begründen. Vor allem das Argumentieren spielt in wissenschaftlichen Texten eine zentrale Rolle.
Kapitel 9. Zum Verständlichmachen von Texten gehören als flankierende Maßnahmen didaktische Zusätze, die helfen, einen schwierigen Text zu erschließen, den man aus verschiedenen Gründen nicht verständlicher umformulieren kann: Vorstrukturierungen, Zusammenfassungen, Lehr- und Lernziele, Merksätze usw. Diese Zusatztexte verlängern zwar den Text, aber nutzen vor allem Adressaten mit geringem Vorwissen und schwach ausgebildeten Lesekompetenzen.
Kapitel 10. Es gibt – unabhängig vom Inhalt – langweilig und anregend formulierte Texte: Über verschiedene rhetorische und stilistische Mittel kann eine textgenerierte Motivation entstehen, die indirekt das Verstehen fördert. Hierher gehören die klassischen rhetorischen Stilmittel der Veranschaulichung, Akzentuierung und Stimulanz, die auch in Sachtexten eingesetzt werden sollten.
Kapitel 11. Schließlich geht es um die Praxis der Verständlichkeit, um Schreiben, Bewerten und Optimieren von Texten. Dazu werden methodische Werkzeuge vorgestellt, mit denen die Verständlichkeit von eigenen wie von fremden Texten ohne einen zu großen Aufwand ermittelt werden kann: Adressatenanalyse, Verständlichkeitsformeln, elektronische Tools, pro- und präskriptive Richtlinien, Checklisten, Fragebögen usw. Traumziel ist ein Verständlichkeitsexperte mit einem Usability-Labor.
Kapitel 12. Ein paar abschließende Anmerkungen zum theoretischen und praktischen Status und zur Zukunft der Textverständlichkeit dürfen nicht fehlen.
Ich habe mir Mühe gegeben, geschlechtergerecht zu schreiben, aber vermeide umständliche und damit schwer lesbare Formulierungen. Das generische Maskulinum wird als Gattungsbegriff verwendet, der alle, auch diverse Geschlechter umfasst. In vielen Zusammenhängen ist eine Markierung des Geschlechts nicht notwendig.
Dieses Buch behandelt die sprachliche Verständlichkeit. Eine Ergänzung für verständliche Bilder findet sich in meinem Buch „Visualisieren. Bilder in wissenschaftlichen Texten“ (Ballstaedt, 2011).
In diesem Kapitel werden das Verstehen und die Verständlichkeit in ein Modell der Kommunikation eingebettet. Zuerst werden die Komponenten des Modells vorgestellt (2.1). Danach wird die Verständigung als eine Kooperation zwischen Absender und Adressat beschrieben (2.2). Beide Seiten müssen dazu beitragen, damit eine Mitteilung aus sprachlichen Zeichen verstanden wird.
Ein Modell der Kommunikation, das wie jedes sozialwissenschaftliche Modell nur eine grobe Orientierung bietet und das Forschungsfeld mit seinen wichtigsten Einflussgrößen vorstellt.
Kommunikation ist eine Interaktion mittels Zeichen, die dazu dient, wechselseitig das Verhalten oder das Erleben des jeweiligen Adressaten zu beeinflussen. Jede Kommunikation zwischen Absender und Adressaten – mit welchem Zeichensystem auch immer – spielt sich in einem Feld mit zahlreichen Einflussgrößen ab, die im Bild 1 in einem Modell visualisiert sind.
Jede Kommunikation ist situiert, sie ist in eine Situation eingebettet. In der mündlichen Kommunikation besteht die Situation aus einem Wahrnehmungsumfeld und aus einer sozialen Situation.1 Entscheidend ist dabei, dass allein die mentale Repräsentation der Situation im Kopf eines Absenders und Adressaten, ihre „Definition der Situation“ für die Sprachproduktion sowie das Sprachverstehen relevant sind. Es handelt sich nicht um objektive Gegebenheiten, sondern um subjektive mentale Konstrukte. Hier darf das berühmte Zitat nicht fehlen: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas & Thomas, 1928).
WahrnehmungsumfeldWahrnehmungsumfeld. In der mündlichen Kommunikation gehört zur Situation die gemeinsam wahrgenommene räumliche und zeitliche Umwelt, das Setting, in dem sich die Kommunikationspartner befinden und auf das sie sich mit Zeigegesten und deiktischen Ausdrücken beziehen können. Ein Kommunikant kann den anderen gestisch oder sprachlich auf einen Aspekt des Settings aufmerksam machen. Wichtig ist auch hier, dass Absender und Adressat die Umwelt nicht unbedingt gleich wahrnehmen, ihre visuelle Aufmerksamkeit kann sich auf unterschiedliche Aspekte des Settings beziehen, sie nehmen verschiedene PerspektivenPerspektive ein. Jede Gesellschaft schafft institutionalisierte Settings wie z.B. einen Hörsaal, ein Museum, einen Supermarkt mit bestimmten Gegenständen, die bestimmte Handlungen ermöglichen.
Soziale Situation. Jede Kommunikation findet in einer bestimmten sozialen SituationSituationsoziale statt, die soziale Rollen und die dafür geltenden Konventionen umfasst. Diese haben wir in der Sozialisation gelernt und halten sie meist unbewusst ein. In einem Gespräch fühlen wir uns nur sicher, wenn wir wissen, „was vor sich geht“ (Goffman, 1977), d.h. in welchem sozialen Kontext wir uns befinden. Zur sozialen Situation gehören oft noch andere Personen wie Mithörer (z.B. in einer Gruppe), aber auch unbeteiligte Zuhörer. Innerhalb von Institutionen gibt es klar definierte soziale Situationen, z.B. eine Prüfung, ein Verhör, ein Restaurantbesuch. Sie beeinflussen, welche Inhalte in welcher sprachlichen Form (Wortwahl, Satzbau, Rhetorik) geäußert werden.
Wenn wir in der Sprechstunde einen Arzt oder eine Ärztin konsultieren, befinden wir uns in folgender kommunikativen SituationSituationkommunikative. Das Setting ist bekannt: Ein Schreibtisch mit Computer, Blutdruckmessgerät, daneben ein Stuhl für den Patienten und eine Liege für Untersuchungen usw. Die Situation bestimmt Inhalt und Form der sprachlichen Kommunikation. So stehen die Themen Gesundheit und Krankheit im Fokus. Wir erwarten und akzeptieren Fragen, die in anderen Situationen nicht angebracht sind: Wie klappt es mit dem Wasserlassen? Wie oft findet Geschlechtsverkehr statt? Wie viel Alkohol wird pro Tag getrunken? Gab es bereits Depressionen in der Familie? usw. Dabei herrscht eine strenge Komplementarität, denn Patienten dürfen derartige Fragen an den Arzt nicht stellen. Der Patient wird dem Arzt oder der Ärztin gegenüber seine Beschwerden anders formulieren als in der Familie. Während er in den heimischen vier Wänden oft furzen muss, spricht er in der Praxis von Blähungen, der Arzt von abgehenden Winden, Flatulenz oder Meteorismus. Der Patient ist auch bereit, sich auszuziehen – in diesem Kontext sich „freizumachen“, das direkte Wort „ausziehen“ wird diskret vermieden. Wir lassen uns an Körperstellen anfassen, die sonst der Intimkommunikation vorbehalten sind. Wir erwarten vom Arzt dabei einen nüchternen klinischen Blick. Wenn er zu einer Patientin sagt: „Sie haben einen hübschen Po“, so wäre diese wahrscheinlich irritiert, die Äußerung ist nicht situationsangemessen, der Arzt ist damit „aus dem Rahmen gefallen“.
Die kommunikative SituationSituationkommunikative ist eine Schnittstelle, an der die Gesellschaft mit ihren Institutionen und die Personen mit ihren Intentionen aufeinandertreffen. Sie ist nicht statisch, sondern verändert sich mit der Entwicklung der Interaktion zwischen den Beteiligten.
In der schriftlichen Kommunikation ist den Beteiligten die Kommunikationssituation meist weniger bewusst. Hier fehlt das gemeinsame Wahrnehmungsumfeld und die Kommunizierenden sind sich oft nicht bewusst, dass sie sich in einer sozialen Situation befinden.
Wenn ein Studierender eine Masterarbeit schreibt und eine Professorin sie später liest, befinden sich beide ebenfalls in einer institutionellen sozialen Situation. Der Studierende weiß, was seine Betreuerin inhaltlich gern lesen möchte und er kennt die Regeln wissenschaftlicher Argumentation. Zudem kennt er den akademischen Schreibstil der jeweiligen Disziplin, er schreibt also adressatenorientiert und passt sich sozialen Normen an.
Van Dijk & Kintsch (1983) haben ein „communicative context model“ eingeführt, van Dijk (2008) hat diesen Ansatz weiter ausgearbeitet. In dieses mentale Modellmentales Modell wird alles Wissen über die kommunikative Situation hineingesteckt: die geltenden Konventionen, die Images der Beteiligten, ihre Intentionen und ihr Vorwissen.
meintverstehtKommunikationspartner