Oliver Musenberg (Hg.)

Kultur – Geschichte – Behinderung

Die kulturwissenschaftliche Historisierung

von Behinderung

ATHENA

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Vorwort

»›Es ist ein eigentümlicher Apparat,‹ sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat«. Mit diesem Satz leitet Franz Kafka seine Erzählung »In der Strafkolonie«[1] ein. Der Apparat ist in Kafkas Erzählung ein perfides Straf- und Folterinstrument: »Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben«. Die Nadeln der ›Egge‹ stechen die Buchstaben in den Körper.

Die Vorstellung, dass auch kulturelle Regulierungsmechanismen einen »Apparat« bilden können, der die Subjekte und Körper formt, ist eine prominente Metapher in den Kulturwissenschaften (vgl. Foucault 1996, 75; Butler 1991, 191; Reckwitz 2008, 86)[2], die von der diskursiven Herstellung von Identität und Differenz ausgeht. Behinderung wird in diesem Zusammenhang als soziale und vor allem kulturelle Konstruktion verstanden.

Etablierte (Norm-)Vorstellungen von »natürlichen« Körpern und Kognitionen können samt ihrer diagnostizierten Abweichungen einer kritischen Historisierung und Rekonstruktion unterzogen werden. Dabei wird der Diskurs aber nicht nur als Konditionierungsmaschine verstanden, der die Subjekte schlicht ausgeliefert sind, sondern auch als Entwicklungsraum neuer Erzählungen und Identitäten von Behinderung.

Diese kulturwissenschaftlich orientierte Reflexion findet vor allem in den Disability Studies statt und wird zunehmend auch in der Heil- und Sonderpädagogik aufgegriffen.

Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband führt exemplarisch die verschiedenen Perspektiven zusammen und betont die historische und historiographische Seite einer kulturwissenschaftlichen Rekonstruktion von Behinderung.

Ich bedanke mich herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für Ihre Beiträge, bei meinen Berliner Kolleginnen Stefanie Kusche, Judith Riegert und Jule Wilisch für die Unterstützung sowie bei Christina Wittkop und Rolf Duscha vom ATHENA-Verlag für die stets angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Der Herausgeber

Berlin, im Frühjahr 2013

[1] Kafka, Franz (1919): In der Strafkolonie. In: Raabe, Paul (Hg.) (1994): Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main, 100–123.

[2] Vgl. Foucault, Michel (1996): Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Seitter, Walter (Hg.): Von der Subversion des Wissens. Frankfurt am Main, 75; Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main, 191; Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld, 86.

I Interdisziplinäre Perspektiven

Oliver Musenberg

Kultur – Geschichte – Behinderung: Zur Einleitung

Kultur, Geschichte und Behinderung sind Begriffe, die nicht nur mehrere Kombinationsmöglichkeiten zulassen[1], sondern auch jeweils für sich allein betrachtet bereits ein gewisses Maß an inhaltlicher Unsicherheit aufweisen. Dass es sich bei Kultur um die »Begriffsbezeichnung eines notorisch unsicheren semantischen Feldes« handelt (Konersmann 2008, 39), ist eine Feststellung, die auch auf den Begriff Behinderung und bei einem Blick in die geschichtstheoretischen Diskussionen, in etwas abgeschwächter Form auch auf die Geschichte zutrifft. Alle drei Begriffe sind Gegenstand zahlreicher Debatten und disziplininterner wie inter- und transdisziplinärer Selbstvergewisserungen und Verunsicherungen.

Nun verfügt der Behinderungsbegriff als »eine Wortschöpfung der frühen Weimarer Republik« (Schmuhl 2010, 7) zwar nicht über eine so reichhaltige Begriffsgeschichte und Reflexionstradition wie Kultur und Geschichte, aber auch Behinderung als Überbegriff für die zuvor an den verschiedenen Beeinträchtigungen orientierten Vorläuferbegriffe (z. B. »Krüppel«, »Idioten«, »Taubstumme«, »Blinde«, »Epileptische« usw.) ist historisch und keineswegs eindeutig oder selbstverständlich. Weder die heute größtenteils pejorativen Vorläufer noch aktuelle medizinische, psychologische, pädagogische oder sozialrechtliche Definitionen und Auffassungen von Behinderung bilden also schlicht einen ahistorischen, kontext- und beobachterunabhängigen, natürlichen Sachverhalt ab, sondern sind Produkte historischer Praktiken und kultureller Sinngebungen. Diese Historizität des »Gegenstands« wird dadurch verdoppelt, dass nicht nur die Forschungsobjekte der Geschichtlichkeit unterliegen, sondern auch die Forschungssubjekte samt ihrer Forschungsfragen und -methoden (vgl. Wulf 2001, 198). Die Betonung dieser Geschichtlichkeit und Kulturbedingtheit ist für die Beiträge des Sammelbands eine grundlegende Ausgangsbasis, auch wenn die Erkenntnis der doppelten Historizität fast trivial daherkommen mag, zumal nicht nur in der Historischen Anthropologie, sondern auch in der Geschichtswissenschaft schon lange nicht mehr die Möglichkeit einer neutralen, kontext- und beobachterunabhängigen Rekonstruktion des Menschen oder der Vergangenheit behauptet wird:

»Nun ist Leopold von Rankes Idee, darzustellen, wie es eigentlich gewesen ist, alles andere als der Mainstream der heutigen geschichtlichen Forschung. Im Gegenteil, es scheint doch klar, dass das, was wir jetzt betrachten, immer nur durch unsere Brille gesehen wird. Diese Brille können wir nicht abnehmen, wir können aber ihre Abbildungswerte bestimmen – und so gibt es einen Weg heraus aus dem Engpass der Selbstschau. Es geht also darum, uns in der Geschichte zu verorten und die Ordnungen, in denen wir unser Wissen um unsere Kultur und unsere Positionen setzen, in ihrer historischen Bedingtheit zu erkennen. Es hilft uns nicht in die Natur zu flüchten, die uns immer nur im Maßstab und nach den Vorgaben unserer Kultur verfügbar ist« (Breidbach 2011, 11).

In der Verhältnisbestimmung der drei Begriffe Kultur, Geschichte und Behinderung nimmt Behinderung die Position eines »Gegenstands« und die Funktion einer Analysekategorie ein. Gegenstand ist Behinderung hier insofern, als aus einer kulturwissenschaftlichen und historischen Perspektive »Behinderung« in den Blick genommen wird und dadurch einer »radikalen Historisierung« (Breidbach 2011) unterzogen werden kann. Behinderung ist aber auch Analysekategorie, so Elsbeth Bösl (2010, 29) in ihrer Beschreibung der Disability History, und zwar indem »aus der dezentralen Perspektive von Behinderung über die Gesellschaft geforscht wird« und »Behinderung als allgemeine Analysekategorie der Geschichtswissenschaft etabliert« wird. Auf diesem Wege wird auch der Diskursverknappung entgegengewirkt, die durch die historisch gewachsene Okkupation des Themenfeldes »Behinderung« durch die Heil- und Sonderpädagogik entstanden ist. Behinderung taucht hier in erster Linie als Bestandteil der heilpädagogischen Disziplin- und Professionsgeschichte auf. Diese muss es auch weiterhin geben, sie verliert aber durch die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung ihre Monopolstellung und alleinige Deutungshoheit (vgl. Musenberg 2012, 57).

Bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten sprachen die Autoren der Denkschrift ›Geisteswissenschaften heute‹ (Frühwald et al. 1991) von der Notwendigkeit, die Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften neu zu bestimmen (vgl. ebd., 47). Die Aufgabe der Geisteswissenschaften liege darin, »der disziplinäre ›Ort‹ zu sein, an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen und es ist die Aufgabe, dies in einer Weise zu tun, dass ihre Optik auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff aller menschlicher Arbeit und Lebensformen, auf die kulturelle Form der Welt geht, die Naturwissenschaften und sie selbst eingeschlossen« (ebd., 43). Also weder Natur, noch das naturwissenschaftliche (wie das geisteswissenschaftliche) Begriffsinventar können sich gegen eine kulturwissenschaftliche Deutung und Erklärung immunisieren und verhindern, zur Kultur und als Kultur (vgl. Luhmann 1997, 19) erklärt zu werden.

Kultur ist ein europäischer Begriff des späten 18. Jahrhunderts:

»Damals ging es anscheinend darum, die immensen, in regionaler und historischer Hinsicht expandierenden Vergleichshorizonte der modernen Gesellschaft unter eine begriffliche Kontrolle zu bringen. Es wurde keineswegs bestritten, dass die Dinge, die Texte, die Praktiken ihren unmittelbaren Gebrauchssinn haben und behalten; aber alle menschlichen Artefakte und schließlich sogar die Art, wie ›Natur‹ gesehen oder empfunden wird, wurden dupliziert und zusätzlich noch als Zeugnisse von Kultur beschrieben. Jetzt erst wird alles, was vorher schon da war, und alles, was in anderen Regionen des Erdballs existiert, zur Kultur erklärt und als Kultur erklärt. Jetzt erst gibt es überhaupt Kultur, weil man erst jetzt in dieser Begrifflichkeit denken, darüber reden, darüber schreiben kann« (Luhmann 1997, 19).

Zu einer kulturwissenschaftlichen Perspektive gehört auch, dass die Rede von einem disziplinären ›Ort‹ nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen ist: Wissenschaftliche Disziplinen folgen keiner Ordnung der Natur oder einem Zustand der Welt, sondern dem Gang der Wissenschaften: »Ihre Grenzen sind entsprechend auch keine theoretischen Grenzen, sondern historische Grenzen« (Frühwald et al. 1991, 22).

Somit ist auch die Tatsache, dass Behinderung in erster Linie in pädagogischen, psychologischen und medizinischen Disziplinen thematisiert wurde und wird, weder natürlich noch zwangsläufig. Die kulturwissenschaftliche Irritation führt aber noch weiter: Nicht nur die Verortung und Thematisierung des »Gegenstands« oder »Phänomens« Behinderung in der Architektur des Wissenschaftssystems ist historisch, sondern der Gegenstand selbst kann sich als »durch eine lange Geschichte hartgesotten« (Foucault 1996, 72) erweisen und letzten Endes als kulturelle Konstruktion in den Blick genommen werden – trotzdem sind diese Konstruktionen aber »niemals ›bloß‹ kulturelle Konstrukte […]. Sie sind so real wie Mauersteine« (Daston/Park 1998, 9). So z. B. die frühneuzeitlichen Vorstellungen von Monstren und Wundergeburten, die sich mit Daston und Park in drei wesentliche naturphilosophisch-theologische Deutungsmuster differenzieren lassen, nämlich in Grauen, Vergnügen und Widerwillen:

»Als Unheilszeichen, die den Zorn Gottes und unmittelbar bevorstehende Katastrophen ankündigten, erregten Monstren Grauen: sie waren contra naturam, Verstöße gegen die natürliche und moralische Ordnung. Als Wunder boten sie Anlass zu staunendem Vergnügen: sie waren praeter naturam, selten, aber nicht bedrohlich, da sie eine Ästhetik der Vielfalt und des Einfallsreichtums in der Natur wie in der Kunst spiegelten. Als Mißbildungen oder Verirrungen der Natur riefen Monstren Widerwillen hervor: sie waren weder unheilverkündend noch staunenswert, sondern bedauerlich, sie waren der gelegentlich anfallende Preis für eben die Einfachheit und Regelmäßigkeit in der Natur, von der sie so scheußlich abwichen« (Daston/Park 1998, 247).

Die Feststellung, Behinderung sei nicht einfach ein quasi natürliches Faktum, sondern immer (auch?) das Produkt historischer und kultureller Praktiken und Sinngebungen, ist mit weiteren theoretischen Fragen verbunden, die hier allerdings zunächst nur angedeutet werden können, so z. B. die Frage des Verhältnisses von Natur und Kultur, von Realismus und Konstruktivismus, von Individuum und Gesellschaft, von Körper und Leib oder von Materie und Diskurs. Diese (erkenntnis-)theoretischen Spannungsfelder finden sich auch in unterschiedlicher Ausprägung in den Diskussionen zu verschiedenen Modellvorstellungen von Behinderung innerhalb der Heil- und Sonderpädagogik (vgl. Jantzen 1982; Müller 1991; Bleidick 1999; Moser/Sasse 2008), insbesondere aber in den Disability Studies (vgl. z. B. Thomas 2002; Hughes 2002; Waldschmidt 2005; Tremain 2005). Von den britischen und vor allem amerikanischen Disability Studies geht insgesamt auch der wesentliche Impuls für eine kulturwissenschaftliche Betrachtung und kritische Historisierung von Behinderung seit den 1990er-Jahren aus (vgl. Davis 1997; Stiker 1999, Mitchell/Snyder 2000; Barnes/Oliver/Barton 2002). Diese Arbeiten weisen hinsichtlich ihrer theoretischen Positionierungen viele Parallelen mit den Cultural Studies, konkret z. B. mit den Gender und Queer Studies auf und werden sogar zu neuen Varianten verschmolzen, wie in der Crip Theory von Robert McRuer (2006):

»However, despite the fact that homosexuality and disability clearly share a pathologized past, and despite a growing awareness of the intersection between queer theory and disability studies, little notice has been taken of the connection between heterosexuality and able-bodied identity. Able-bodiedness, even more than heterosexuality, still largely masquerades as a nonidentity, as the natural order of things. Crip Theory […] emerges from cultural studies traditions that question the order of things, considering how and why it is constructed and naturalized; how it is embedded in complex economic, social, and cultural relations; and how it might be changed« (McRuer 2006, 1–2).

Auch im deutschsprachigen Raum wird in Anknüpfung an die emanzipatorische Behindertenbewegung der 1980er- und 90er-Jahre und die in diesem Kontext erschienenen politischen und historiografischen Schriften von z. B. Franz Christoph, Teresia Degener, Ernst Klee, Christian Mürner, Udo Sierck, Gusti Steiner u. a. (vgl. z. B. Sierck 1992) seit der Jahrtausendwende zunehmend ein vergleichbares Diskurs- und Forschungsfeld etabliert (vgl. z. B. Waldschmidt 2003; Dannenbeck/Bruner 2005; Bösl/Klein/Waldschmidt 2010; Mürner/Sierck 2012, 138–142) und unter dem englischen Titel Disability Studies auf Hochschulebene institutionalisiert. Dass sich entsprechende Zentren, Institute und Lehrstühle für Disability Studies in Deutschland bislang im institutionellen Kontext der Rehabilitationswissenschaften, Erziehungswissenschaften, Angewandten Humanwissenschaften sowie Sozialarbeit und Sozialpädagogik ansiedeln und nicht z. B. an historischen, literaturwissenschaftlichen oder kulturwissenschaftlichen Fachbereichen entspricht der beschriebenen historischen Bindung des Themas.

In den Disability Studies wird Behinderung »als soziales, politisches, historisches und kulturelles Phänomen« untersucht und von solchen Disziplinen und Professionen abgegrenzt, die »von ihrem Selbstverständnis und ihrem gesellschaftlichen Auftrag nach auf Intervention, Therapie, Förderung, Kompensation usw. hin angelegt sind, also vor allem die Medizin, Pädagogik, Psychologie und Sozialarbeit« (Dederich 2007, 52).

Wenn im Folgenden Beiträge aus den verschiedenen Perspektiven der Heilpädagogik, Erziehungswissenschaft, Kulturwissenschaft und Disability Studies zusammenkommen, so auch mit dem Ziel einer intensiveren Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher und historischer Perspektiven in den auf Bildung, Erziehung und Intervention hin orientierten Disziplinen. Denn viele Perspektiven und Themen kulturwissenschaftlicher und -historischer Forschung in der »Tradition« der Disability Studies lassen sich mit Fragestellungen der Erziehungswissenschaft sowie Heil- und Sonderpädagogik zwar nicht in Deckung bringen oder gar vollständig versöhnen, aber oftmals sinnvoll verknüpfen (vgl. Tervooren 2002, 174), wie z. B. die historische und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Körper (vgl. Lorenz 2000). Zudem hilft eine kulturwissenschaftliche Perspektive vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Wahrheiten in Frage zu stellen: Die Heilpädagogik wird dann zur Kulturwissenschaft, »wenn sie kritisch hinter die Prämissen der disziplinär akzeptierten Gegenstandsbezüge und Problembeschreibungen zurückfragt, um ›herauszufinden, auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten und erworbenen, nicht reflektierten Denkweisen die akzeptierte Praxis beruht (Foucault 2005)‹« (Rösner 2009, 204). Allerdings wird die (Heil-)Pädagogik als Profession, auch dort, wo sie explizit kulturwissenschaftliche Perspektiven im Zusammenhang von Bildung und Erziehung aufgreift (vgl. Mollenhauer 1983; Brumlik 2006), weiterhin nicht ohne normative Leitvorstellungen und »Interventionen« (Bildungsideale, Erziehungsziele, Förderkonzepte etc.) auskommen können.

Einen weiteren, wichtigen Unterschied gilt es ebenfalls zu berücksichtigen: Wenngleich politische und ethische Implikationen auch hinsichtlich der Begriffe Kultur und Geschichte eine wichtige Rolle spielen, so sind diese im Fall von Behinderung besonders augenfällig. Behinderung ist kein neutraler Gegenstand, sondern führt zur Abgrenzung und Kennzeichnung eines Personenkreises. Es geht um Menschen, die dann als Bezeichnete, als Menschen mit z. B. einer körperlichen oder geistigen Behinderung in Erscheinung treten und mit dieser Bezeichnung zwar einerseits Ressourcen einfordern können, andererseits aber eine, oft auch institutionalisierte, Verbesonderung erfahren.

Während sich körperbehinderte Menschen seit den Anfängen der Selbsthilfe-Bewegung (»Perl-Bund«) in der Weimarer Republik in die professionelle und wissenschaftliche Praxis und Sprachpolitik einmischten und sich z. B. gegen die generelle Bevormundung und die Bezeichnung als »Krüppel« zur Wehr setzten (vgl. Fuchs 2001) oder den Begriff »Krüppel«, wie in den 1980er-Jahren, explizit als Mittel politischer Aktion und emanzipatorischer Selbstetikettierung einsetzten (»Krüppelbewegung«), ist dieser kritische Einfluss aufgrund eingeschränkter Partizipationsmöglichkeiten und -chancen der als geistig behindert Bezeichneten weniger ausgeprägt. Allerdings machen seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland zunehmend People-First Gruppen z. B. auf die negative Konnotation der Bezeichnung geistig behindert aufmerksam und fordern als »Selbstvertreter« z. B. die Verwendung Leichter Sprache, eine inklusive Schule und Selbstbestimmung im Kontext von Ausbildung, Arbeit und Beruf (vgl. Netzwerk People First 2004; Ross 2013). Als Akteure innerhalb der Disability Studies spielen Menschen mit geistiger Behinderung aber bislang keine sichtbare Rolle. Stattdessen werden im Rahmen Partizipativer oder Inklusiver Forschung – stellvertretend – erste Versuche unternommen, eine Forschungskultur zu etablieren, die Menschen mit geistiger Behinderung als gleichberechtigte Akteure im Forschungsprozess anerkennt (vgl. Buchner/Koenig 2013).

Das vielfältige Unbehagen angesichts des Begriffs »geistige Behinderung« führt dazu, von eindeutigen, »realistischen« Begriffsbestimmungen und Definitionsversuchen Abstand zu nehmen, und geistige Behinderung stattdessen zur und als Kultur zu erklären (vgl. Weisser 2013). Klassifikationen, Kategorien und Definitionen von (geistiger) Behinderung werden als historische, kulturelle Konstruktionen analysiert und dekonstruiert – »to challenge the self-evident nature of mental retardation as a particular kind of problem to be solved« (Carlson 2005, 134). Diese kritische Perspektive ist auch eine wichtige Irritation für die pädagogische, erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Behinderung – umgekehrt müssen aber wiederum aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft pädagogische Ansprüche geltend gemacht werden, da kulturwissenschaftliche Totaldekonstruktionen von Behinderung (vgl. Tremain 2005) keine Orientierung für pädagogische Prozesse geben können.

Wenn nun seit einigen Jahren in den Geisteswissenschaften soviel von Kultur die Rede ist, so scheint weitestgehend Konsens darin zu bestehen, dass es sich weniger um die enorme Konjunktur eines wohldefinierten Begriffs oder um die Popularität einer klar begrenzten Disziplin im Sinne von ›Kulturwissenschaft‹ oder ›Kulturgeschichte‹ handelt.

Vielmehr hat Kultur – obwohl oder gerade weil dieser Begriff ein semantisch unsicheres Feld bezeichnet (vgl. Konersmann 2008, 39) und wissenschaftstheoretisch »wegen seiner großen Diffussion« verdächtig, aber gleichzeitig mit dem pragmatischen Vorteil ausgestattet ist, »elastisch genug zu sein, um interdisziplinäre Herausforderungen zu benennen und aufzunehmen« (Frühwald et al. 1991, 141) – die Funktion einer Optik übernommen, durch die in unterschiedlichen Disziplinen sehr verschiedene Gegenstände in den Blick genommen werden (vgl. Reckwitz 2004, 1–3). Kultur stellt also weniger einen omnipräsenten Gegenstand dar, für den sich auch z. B. Soziologen, Historiker, Literaturwissenschaftler, Pädagogen und viele andere interessieren, sondern Kultur wird in den Cultural Studies und in der neueren Kulturgeschichte in erster Linie als eine alternative Herangehensweise (vgl. Mecheril/Witsch 2006, 7) und Perspektive (vgl. Landwehr 2009, 10–13) verstanden, als eine Wendung des Blicks, die in ihrer allgemeinsten Beschreibung als Cultural Turn auf den Begriff gebracht worden ist (vgl. Daniel 2006). Hinter diesem Begriff sammeln sich mittlerweile zahlreiche und sehr heterogene theoretische Suchbewegungen und Forschungsbereiche, die den Plural Cultural Turns nahelegen (vgl. Bachmann-Medick 2010). Gemeinsames Anliegen der kulturellen Wende ist, dass alle Gegenstände und Prozesse zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Betrachtung gemacht werden können und sich diese Perspektive eben nicht auf das beschränkt, was neben naturwissenschaftlicher Erkenntnis und nach Abzug ökonomischer Fakten und gesellschaftspolitischer Wirklichkeit noch an vermeintlich Spielerischem übrig bleibt, z. B. eine Kulturgeschichte des Fensters oder des Eierlöffels.

Aber wie lässt sich Kultur als das von Menschen in Theorie und Praxis Hervorgebrachte noch genauer bestimmen? Etymologisch, also von der ursprünglichen Wortbedeutung her, steckt im Wort Kultur die Bearbeitung von Natur im Sinne von pflegen, bebauen, bestellen, aber auch das Anbeten und Verehren (Kult; Kultgegenstände): »Ackerbau und Götterverehrung sind jene Tätigkeiten, die den Urmenschen vom Tier unterscheiden« (Hansen 1995, 12). Nun ist die agrarische Bedeutung aber mittlerweile stark in den Hintergrund getreten und es sind nach Hansen (1995) andere Bedeutungen und Gegenstandsbereiche in den Vordergrund gerückt: Erstens Kultur als künstlerisches und kreatives Schaffen (Literatur, bildende Kunst, Film etc.), zweitens Kultur als (manchmal vermeintliche) Kultiviertheit (z. B. Manieren, Geschmack, Kunstsinn, Humanität), drittens Kultur als »die besonderen Gewohnheiten, die für eine bestimmte Gruppierung oder einen bestimmten Bereich typisch sind« (ebd., 11) (z. B. Jugendkultur, Subkultur) und viertens Kultur nach wie vor als Ergebnis von Anbau und Pflege (z. B. Monokultur, Kulturlandschaft, Bakterienkultur (vgl. ebd., 9–16).

In diesen Bedeutungsvarianten bezeichnet Kultur aber noch verschiedene Gegenstandsbereiche und weniger das oben erwähnte, weite Verständnis von Kultur als Sphäre, Herangehensweise oder Perspektive. Diesem kommt man mit den vier Dimensionen des Kulturbegriffs nach Landwehr (2009) näher: Er differenziert in eine interpretative Dimension (alle Aspekte soziokultureller Wirklichkeit werden von Individuen und Kollektiven mit Bedeutung versehen), eine ergologische Dimension (Kultur ist nicht naturgegeben, sondern das Produkt menschlicher Tätigkeit), eine soziale Dimension (»Kultur ist das Produkt von Gesellschaften, und Gesellschaften benötigen zwingend kulturelle Symbolsysteme, um aus der sie umgebenden Realität in all ihrer Vielfalt eine sinnhafte Wirklichkeit zu machen«) (ebd., 9) und eine temporale Dimension (Kultur ist zwangsläufig historisch und lässt sich nur als ›Gemacht-worden-sein‹ begreifen) (vgl. ebd., 8–9). Landwehr fasst zusammen:

»Während ein engerer, ursprünglich dem agrarischen Bereich entstammender Kulturbegriff unterschiedliche Formen der Pflege und Kultivierung des Menschen durch Erziehung, Religion, Wissenschaft oder Kunst bezeichnet, zielt ein weiter Kulturbegriff auf den generellen Umstand, dass Gesellschaften die sie umgebenden Wirklichkeiten mit bestimmten Bedeutungsnetzen ausstatten« (ebd., 9).

Dass hier die Begriffe Kultur und Gesellschaft in friedlicher Nachbarschaft auftauchen, ist durchaus nicht selbstverständlich. Gerade die Sozialwissenschaften und die sich als Historische Sozialwissenschaft verstehende Geschichtswissenschaft haben sich mit der »Herausforderung der Kulturgeschichte« (Wehler 1998), insbesondere mit den Arbeiten Michel Foucaults (vgl. Wehler 1998, 45–95), recht schwer getan (vgl. Brieler 2003, 329ff.). Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr geändert: Foucaults Texte gehören mittlerweile »zum unverzichtbaren Bestandteil des gehobenen Zitierkanons« (Sarasin 2009, 11) – auch in vielen historischen Arbeiten.

Der Kultur wird in den Cultural Studies eine eigene Dignität zugesprochen. Kultur ist hier nicht nur eine interessante, aber im Vergleich zu ökonomischen Strukturen eher unwesentliche Zierde gesellschaftlicher Prozesse, sondern Kultur wird »als relativ autonome Sphäre gedacht, die zwar von ökonomischen und sozialstrukturellen Verhältnissen vermittelt und beeinflusst ist, der jedoch ein eigenes Potential der Bestätigung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen, aber auch das Potenzial ihrer Verschiebung und Verflüssigung zugesprochen wird« (Mecheril/Witsch 2006, 9). Je mehr Autonomie der Kultur zugesprochen wird, desto intensiver fällt die Kritik derjenigen aus, die sich am Überbautheorem des Historischen Materialismus und am Primat einer materiellen Basis orientieren. In einer orthodoxen Auslegung bedeutet dieses Theorem laut Habermas (1976), dass sich die Gesellschaft in hierarchisch geordnete Teilsysteme zergliedert, von der ökonomischen Basis zum administrativ-politischen, über den sozialen zum kulturellen Bereich und »die Prozesse der höheren Teilsysteme von Prozessen der jeweils niedrigeren Teilsysteme im Sinne kausaler Abhängigkeit determiniert sind. Eine schwächere Fassung dieser These behauptet, daß die niedrigeren Teilsysteme die Abläufe in den jeweils höheren strukturell beschränken; so bestimmt das ökonomische System ›in letzter Instanz‹, wie Engels sich ausdrückt, den Spielraum der in den anderen Teilsystemen möglichen Abläufe« (Habermas 1976, 157–158). Aus einer primär von Marx ausgehenden, sozialwissenschaftlichen und sozialgeschichtlichen Perspektive greifen solche – als postmodern oder kulturalistisch kritisierten (vgl. Eagleton 2001) – Ansätze zu kurz, die z. B. Differenz als rein kulturelles Phänomen analysieren:

»The manner in which ›difference‹ has been taken up within ›postal‹ frameworks has tended to stress its cultural dimensions while marginalizing and, in some cases, completely ignoring the economic and material dimensions of difference. […] In such formulations the ›cultural‹ is treated as a seperate and autonomous sphere, severed from its embeddedness within socio-political and economic arrangements« (Scatamburlo-D’Annibale/McLaren 2006, 268–269).

Auch Sarasin (2009) wendet sich in seiner parallelen Lektüre von ›Darwin und Foucault‹ nicht nur gegen einen Biologismus, sondern gleichermaßen auch »gegen den heute ebenso verbreiteten Kulturalismus, der ziemlich selbstsicher in jeder Aussage über die Welt und die Natur bloß einen weiteren ›Diskurs‹ zu erkennen glaubt und sich darin gefällt, die Analyse von Zeichenprozessen bis ins Verspielte zu verfeinern – selbst um den Preis, kaum mehr zur Erkenntnis der Wirklichkeit beizutragen« (Sarasin 2009, 15).

Und aus der marxistischen Perspektive Eagletons (2001) sind es »nur die professionellen Apologeten der Kultur, nicht die Erforscher der Natur, die auf dem Zerrbild einer trägen, unbeweglichen Natur beharren, so wie es in den Geisteswissenschaften nur diejenigen sind, die an der altmodischen Vorstellung von der Naturwissenschaft als positivistisch, interesselos, reduktionistisch und so fort festhalten, und sei es nur darum, um mit desto größerem selbstgerechten Behagen auf diesen Popanz einschlagen zu können« (Eagleton 2001, 132–133).

Dies sind keine rein abstrakten, philosophischen Konfliktlinien, sondern Debatten, die auch im Kontext von Behinderung, in der Heil- und Sonderpädagogik und in den Disability Studies, geführt werden. So betont z. B. das soziale Modell von Behinderung (vgl. Reichmann 1984; Jantzen 2001; Priestley 2003) in kritischer Abgrenzung von einem medizinischen, individuellen Modell von Behinderung, die Trennung von Beeinträchtigung (Impairment) und Behinderung (Disability). Es geht also um die Vorstellung von objektiv feststellbarer Beeinträchtigung (Impairment) und körperlicher Funktionsstörung (wie auch in der ICF) einerseits, die dann andererseits zur Behinderung (Disability) werden kann, wenn gesellschaftliche Zuschreibungen und Barrieren die (biologisch) beeinträchtigten Menschen (sozial) behindern. Der geschädigte, beeinträchtigte Körper wird nicht in Frage gestellt und kann gewissermaßen Objekt der Medizin bleiben. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive hingegen vermag dieser ›selbstverständlichen‹ Trennung von Impairment und Disability nicht mehr ohne weiteres zu folgen:

»The dualism that consigned impairment to biological explanation and disability to sociological explanation had been a better servant of disability politics than of disability theory« (Hughes 2002, 66).

Wenn Dis/Ability als verkörperte Differenz konzeptualisiert wird (vgl. Waldschmidt 2007), dann greift die dem sozialen Modell zugrunde liegende cartesianische Trennung von res cogitans und res extensa, womit der Körper als vorsoziales Material aus kulturellen Bezügen herausgenommen wird, zu kurz (dazu kritisch vgl. Žižek 2001). Tremain (2005) kritisiert dieses soziale Modell, wobei sie sich auf Foucault beruft und davon ausgeht, dass es sich nicht nur bei Behinderung (Disability), sondern auch bei Beeinträchtigung (Impairment) um einen sozialen Effekt, um ein Diskursprodukt handelt. Impairment sei nur die Illusion einer prädiskursiven, natürlichen Vorgeschichte von Disability:

»In short, an argument about disability that takes Foucault’s approach would be concerned to show that there is indeed a causal relation between impairment and disability, and it is precisely this: the category of impairment emerged and, in many respects, persists in order to legitimize the governmental practices that generated it in the first place« (Tremain 2005, 11).

Dieser radikale Wechsel der Kausalität, darauf weist Waldschmidt hin, tauscht letztendlich aber den biologistischen Essentialismus des individuellen Modells von Behinderung gegen einen kulturalistischen Essentialismus aus (vgl. 2007, 180–183).

Hier wird deutlich, dass das Verhältnis von Natur und Kultur und ebenso das von Beeinträchtigung und Behinderung theoretisch nicht leicht zu fassen ist – zumindest dann nicht, wenn man Behinderung weder naturalistisch verkürzen möchte, noch sich dem Credo »Alles ist Text« und der Behauptung anschließen möchte, Behinderung sei ausschließlich eine diskursive Erfindung.

Literatur

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[1] Z. B. Kulturgeschichte, Geschichtskultur, Kultur der Behinderung (Disability Culture), Geschichte der Behinderung (Disability History).

Micha Brumlik

Kulturwissenschaftliche Betrachtung[1] von »Behinderung«

1 Kultur, Körper und exzentrische Positionalität

Die Problematik körperlicher und geistiger Behinderungen sowie der gesellschaftlichen Reaktionen auf sie fällt in das größere Gebiet des Bezuges menschlicher Gesellschaften zu den organischen Voraussetzungen ihrer Mitglieder, d. h. ihrer Körper. Das liegt – gemäß der philosophischen Anthropologie etwa Helmut Plessners (1975) – daran, dass sich die Angehörigen der biologischen Gattung »Homo Sapiens« als einzige Tierart im Modus der »exzentrischen Positionalität« befinden, d. h. sie sich im Vollzug ihres Lebens stets sowohl innerhalb ihres Leibes, aber eben auch außerhalb ihres Körpers befinden. Sich innerhalb seines Leibes, aber außerhalb seines Körpers zu befinden, heißt für Menschen, dass ihre selbstbewusste Subjektivität an die Vollzüge des Leibes in Raum und Zeit gebunden ist, aber auch, dass sie gleichsam »von außen« zu ihrem Leib bzw. zum Körper anderer Stellung nehmen können und diesen dann nicht mehr als unausgesprochene Basis ihrer Subjektivität, sondern als Objekt, zu dem sie Stellung nehmen können und müssen, erfahren. Freilich – und darum geht es hier vor allem – nehmen sie nicht nur Stellung zu ihren eigenen Leibern als Körpern, sondern im Rahmen der grundsätzlichen Verfasstheit menschlicher Intersubjektivität auch Stellung zu den Körpern anderer. »Der Andere« erscheint eben nicht nur oder vor allem – wie etwa Emmanuel Levinas meinte – als »Antlitz«, sondern auch als mehr oder minder vollkommener oder eingeschränkter Körper.

Es sind diese auf Dauer gestellten Perspektiven auf die Körper der Mitsubjekte, die den Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung von Behinderung und der auf sie bezogenen Pädagogik ausmachen (vgl. Kubitza 2005). Unter »Kulturwissenschaft« (vgl. Jaeger/Liebsch 2004) soll dabei eine Perspektive verstanden werden, die die intersubjektiv geteilten Symbole und die ihnen entsprechenden Praktiken menschlicher Gesellschaften thematisieren.

Doch ist das Konstrukt und die Realität von »Behinderung« noch in einer weiteren Perspektive der philosophischen Anthropologie von Interesse – der Philosophie der Technik. So hat die philosophische Anthropologie als eine Theorie der Technik stets darauf beharrt, dass technische Hilfsmittel vom Faustkeil bis zur komplexen Maschine als Organverlängerungen und Organersatz anzusehen sind (vgl. Gehlen 1950). Der Zustand der »Behinderung« zeichnet sich dann in vielen Fällen dadurch aus, dass er – wie der Lebensvollzug nicht behinderter Menschen – ebenfalls durch die Inanspruchnahme einer körpernahen Technik ausgezeichnet ist, aber doch so, dass dies – in vermeintlichem Unterschied zur »Normalität« – auf Dauer geschieht. Vor allem aber zeichnet sich der zugeschriebene Zustand der »Behinderung« dadurch aus, dass er im Unterschied zu Krankheiten auf Dauer gestellt ist.

2 Körper, Ausdruck und Erziehung

Vor allem in den Bereichen von Erotik, Medizin und Sport stehen die Körper und ihre Formung im Zentrum, nicht zuletzt aber auch in allen Formen der Pflege, in denen es um die Formung und Prägung (man kann das auch als »Disziplinierung« bezeichnen) der Körper menschlicher Individuen bei ihrem Eintritt in die Welt geht. Immanuel Kant hat diesem Gedanken schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine prägnante Formulierung gewidmet: In der Trias von »Disziplin« und »Bildung« ist die »Wartung« die Voraussetzung der beiden nächsten Stufen, sie, die »Wartung« aber umfasst das, was Kant als »Verpflegung« und »Unterhaltung« bezeichnet: »Unter Wartung nämlich versteht man die Vorsorge der Eltern, dass die Kinder keinen schädlichen Gebrauch von ihren Kräften machen« (Kant 1803, 5). Ansonsten ist Kant der Überzeugung, dass zwischen physiognomischer Erscheinung und Charakter keine strenge Parallelität herrscht: Physiognomik, eine Modewissenschaft seiner Zeit könne nie zur Wissenschaft werden:

»weil die Eigentümlichkeit einer menschlichen Gestalt, die auf gewisse Neigungen oder Vermögen des angeschauten Subjekts hindeutet, nicht durch Beschreibung nach Begriffen, sondern durch Abbildung und Darstellung … oder ihrer Nachahmung verstanden werden kann: wo die Menschengestalt im allgemeinen, nach ihren Varietäten, deren jede auf eine besondere innere Eigenschaft des Menschen im Inneren hindeuten soll, der Beurteilung ausgesetzt wird« (Kant 2000, 225).

Gleichwohl hat die Form des menschlichen Körpers, keineswegs nur des menschlichen Antlitzes, im Hinblick auf Haut- und Haarfarbe, Größe, Umfang, Geschlechtsmerkmale etc. menschlichen Gesellschaften seit jeher Anlass zur Ausbildung normativer Kriterien in ästhetischer und funktionaler Hinsicht gegeben, wobei – wie zu zeigen ist – die Grenzen zwischen funktionalen und ästhetischen Kriterien durchaus fließend waren und sind. »Behinderung« freilich scheint vor allem eine Zuschreibung zu sein, die funktionalen Kriterien gehorcht. Im Ausgang von einer als ideal angenommenen körperlichen Verfasstheit beim Vollzug sowohl von Geschlechts-, Alters- als auch »Berufs«-Rollen werden Abweichungen konstatiert, die je nachdem als abstoßend, »heilig«, ungenügend oder auch nur als »komisch« angesehen werden.

Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von Behinderungen wird somit immer eine kulturwissenschaftliche Betrachtung einzelner Organe und ihrer Geschichte implizieren. Behinderung ist nicht gleich Behinderung, unterschiedliche Organe und ihre Defizite werden in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich bewertet: je nachdem, um welches Organ es geht und je nachdem, ob sein Ausfall angeboren oder erworben ist, je nachdem, über welchen sozialen Status und welches soziale Kapital die behinderte Person verfügt, wird die Behinderung auf einer Skala von Ehrfurcht bis Angst oder Abscheu bewertet. Dabei sind unter »Organen« hier nicht nur Sinnes- oder Bewegungsorgane zu verstehen, sondern auch »geistige« Fähigkeiten, die wiederum im Laufe der Geschichte unterschiedlich konzeptualisiert wurden – vom »(heiligen) Wahnsinn« bis zur »Geisteskrankheit«.

3 Historische Anthropologie

Um dies zu erläutern, ist es unerlässlich, sich die Bedeutung von Organen und organischen Vollzügen in ihren unterschiedlichen historischen Kontexten, d. h. im Rahmen einer historischen Anthropologie zu betrachten (vgl. Wulf 1997a). Daher seien im Folgenden eine Reihe von Beispielen aus jenen, die europäische Kultur prägenden »Saatbeetgesellschaften« (Talcott Parsons) aufgerufen, nämlich den Gesellschaften des antiken Griechen- und des antiken Judentums (vgl. Gracer 2003). Darauf sollen nach einer Betrachtung zum mittelalterlichen Körperbild die Körpernormen des europäischen 20. Jahrhunderts betrachtet werden.

Am Anfang stand auf jeden Fall des angeblich blinden Dichters Homer episches Langgedicht »Ilias« aus dem achten Jahrhundert vor der Zeitrechnung, das von der Belagerung und Eroberung der Stadt Troja durch ein Koalitionsheer griechischer Städte erzählt. Die homerische Dichtung kennt zwei Typen von Behinderungen erwachsener Männer: körperliche Missbildung und das das körperliche Erscheinungsbild ansonsten nicht beeinträchtigende Versagen des Augenlichts: Blindheit!

Das Auftreten eines gewissen Thersites in Homers »Ilias« ist das eines kritischen, nicht dem Adel entstammenden Intellektuellen, der die Motive der kriegführenden Feldherren bezweifelt und zum Ende des Krieges aufruft: Die Erscheinung dieses Kritikers entspricht nicht nur allen Regeln einer Karikatur, sondern präsentiert wohl auch eine der ältesten abendländischen Darstellungen von »Behinderung«:

»… Der hässlichste Mann vor Ilios war er gekommen:

Schielend war er und lahm an einem Fuß, und die Schultern

Höckerig, gegen die Brust ihm geengt, und oben erhob sich

Spitz sein Haupt, auf dem Scheitel mit dünnlicher Wolle besäet.

Widerlich war er vor allen des Peleus Sohn und Odysseus;

Denn sie lästert er stets. Doch jetzt Agamemnon, dem Herrscher

Kreischt er hell entgegen mit Schmähungen …« (Homer 1960, 25).

Als Thersites schließlich von Odysseus mit seinem Szepter geschlagen wird und vor Schmerzen jämmerlich weint, lachen die Umstehenden herzlich.

Ganz anders der blinde Seher Teiresias (vgl. Ugoloni 1995), dessen Blindheit und Androgynie, er war in seinem Leben beides, Mann und Frau, ihm in keiner Weise zum Nachteil gereichen, sondern seinen Ruhm, sein Ansehen und sein unheimliches, heiliges Charisma nur steigern. Die entsprechenden Texte wurden vermutlich im achten Jahrhundert vor der Zeitrechnung verfasst und hinterließen ihre Spuren in den griechischen Auffassungen und Praktiken gegenüber in ihrer körperlichen Funktionalität beeinträchtigten Neugeborenen, wie Auslassungen der Philosophen Platon und Aristoteles zu entnehmen ist. In Platons »Politeia« (Der Staat) ist etwa zu lesen: