Wenn das der Führer sähe …
Von der Hitler-Jugend in Filbingers Fänge
Ein deutsch-schlesisches Kriegsdrama
Roussety, Jacqueline: Wenn das der Führer sähe … Von der Hitler-Jugend in Filbingers Fänge. Ein deutsch-schlesisches Kriegsdrama, Hamburg, acabus Verlag 2016
Originalausgabe
PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-408-3
ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-409-0
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ISBN: 978-3-86282-406-9 Hardcover
ISBN: 978-3-86282-407-6 Paperback
Lektorat: Daniela Sechtig, acabus Verlag, Susanne Wallbaum Umschlaggestaltung: © Marta Czerwinski, acabus Verlag Umschlagmotiv: mit freundlicher Genehmigung vom frankly Verlag.
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In Gedenken an Walter Gröger
(27. 7. 1922 – 16. 3. 1945)
Der Vogel,
der sich hoch
über das weite Feld von Tradition und Vorurteil erheben
will,
braucht starke Flügel.
Kate Chopin, Das Erwachen (1899)
Für
Alexander, Eva-Maria, Evelyn, Claudia, Ursula, Peter und Stephan.
Danke für euer Vertrauen.
In Liebe für
Renate, Timotheus und Tim Jonathan
Besonderer Dank an:
acabus Verlag, Björn Bedey, Daniela Sechtig, Robert Merkel, Susanne Tenzler-Heuser, Rolf Hochhuth und Professor Dr. Wolfram Wette.
Professor Dr. Wolfram Wette
Historiker und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung „Opfer der NS Militärjustiz“.
Empfehlung
Hans Karl Filbinger ist derjenige unter den rund 3.000 Militärjuristen der NS-Zeit, der in der Bundesrepublik Deutschland die steilste Karriere gemacht hat. Vom Amt des Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg musste er zurücktreten, weil er seine Mitwirkung an Todesurteilen leugnete, sie kleinredete und jedes Unrechtsbewusstsein vermissen ließ.
Eines seiner Opfer war der Mannschaftssoldat und Deserteur Walter Gröger. Wenn Filbinger es gewollt hätte, wäre Gröger vermutlich die Todesstrafe erspart geblieben und er hätte gerettet werden können. Doch Gröger wurde verurteilt und erschossen.
Nach 1945 galten Soldaten der Wehrmacht, die sich in den Jahren 1939 bis 1945 dem Vernichtungskrieg entzogen hatten, noch jahrzehntelang als Feiglinge und Verräter. Erst 1998 erfolgte ihre Rehabilitierung durch den Deutschen Bundestag.
Jacqueline Roussety hat über die Filbinger-Gröger-Doppelgeschichte bereits in der Form eines Essays in dem wissenschaftlichen Werk „Mit reinem Gewissen. Wehrmachtrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer“ (Hg.: Joachim Perels/Wolfram Wette, Berlin: Aufbau-Verlag 2011) geschrieben. Sie ist in dem Stoff „zu Hause“.
In ihrem Werk „Wenn das der Führer sähe … Von der Hitlerjugend in Filbingers Fänge“ möchte sie die Geschichte in Romanform bearbeiten. Damit könnte sie die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums für das schwierige Thema „Wehrmachtjustiz und Deserteure“ gewinnen, das durch eine rein wissenschaftliche Abhandlung nicht erreicht werden kann. Daher möchte ich ihr Projekt wärmstens unterstützen.
Wolfram Wette
26. Juli 2013
Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. […] So kann ich das Neue schaffen.
Adolf Hitler
Oslofjord
März 1945
Das fahle Sonnenlicht reicht gerade noch aus, um Ausschnitte der Umgebung mit bloßem Auge zu fokussieren. Nicht mehr lange und die ersten dunklen Wolken schieben sich in den Vordergrund. Der frühe Abend schluckt ganz allmählich das Licht des dahinschwindenden Tages. Damit sinken die Temperaturen weiter und noch immer liegen vereinzelt letzte Schnee- und Eisschichten, Zeugen des hartnäckigen Winters. Noch lange wird der Frühling sich mit dem Winter die Herrschaft teilen müssen.
Die seltsam feierliche Stille hinter den Festungsmauern wird vom Nachhall entfernter Bombeneinschläge im monotonen Rhythmus durchbrochen; auch die Kampfflugzeuge der Alliierten zerreißen mit lautem Getöse in regelmäßigen Abständen die scheinbar himmlische Ruhe. Zurück bleiben Rauchwolken, die sich langsam dehnen und auflösen.
Die pechschwarze Mauer, auf die sich gleich unweigerlich alle Aufmerksamkeit richten wird, bröckelt an einigen Stellen. Gesteinsreste zerfallen zu grauem Staub; dieser vermischt sich allmählich mit anderen organischen Substanzen, hier angesammelt, um für die Ewigkeit zu überdauern.
Selbst das tagtägliche, in emsiger Schwerstarbeit erfolgende Abschrubben der noch vorhandenen Mauer kann die Existenz von dunkel getrocknetem Blut nicht verbergen. Der oben aufgerollte Stacheldraht hat im Laufe der Zeit Federn, Äste und Blätter als Beute ergattert. Braust der Wind kurz auf, flattern menschliche Haare wie Wimpel hin und her und wickeln sich schließlich wie von selbst wieder um den Draht. Farne und Moos zwängen sich durch kleinste Mauerritzen – ein Sieg der Natur über das von Menschenhand erschaffene Bollwerk.
Der Verurteilte betritt den Richtplatz. Mit ihm der Kriegspfarrer vom Kriegslazarett Linten. Ferner ist ein Zug der 1. M.E.A. Oslo anwesend. Mit murmelnder Beschwörung versuchen sie dem Angeklagten ein wenig Seelentrost auf den letzten Gang mitzugeben.
Nur scheint dieser des Seelentrostes nicht zu bedürfen. Er wirkt wie entrückt, als nehme er die Menschen um sich herum nicht wahr. Ein Gesicht, gerade den ganz unschuldigen Jahren entwachsen. Schmal, ausgezehrt, ein schlaksiger Körper. Leicht schwankend geht er auf die Front der Männer zu. Gekleidet in schwarze Ledermäntel, erwarten sie ihn mit regloser Miene. Sie sind laut Protokoll aufgefordert, das Urteil zu vollstrecken: der Marinestabsrichter als leitender Offizier, der Marinearzt vom Kommando 1. M.E.A. Oslo als Sanitätsoffizier, der Marinejustizinspektor und die angetretene Einheit, junge Matrosen wie der Angeklagte, die sich an ihren Gewehren festklammern.
Manch einer der Burschen kann den Blick nicht heben; einem anderen zittern leicht die Knie. Es herrscht tödliches Schweigen.
Der Marinearzt nimmt ein schwarzes Tuch und verbindet dem Verurteilten wortlos die Augen. Alles läuft nach vorliegender Vollstreckungsurkunde, die der Wehrmachtrichter in seinen Händen hält. Die schwarzen Lederhandschuhe verhindern jeden Kontakt mit dem Papier, auf dem unpersönlich die Formalitäten aufgelistet sind, das seine Unterschrift trägt und demzufolge ein junges Leben ausgelöscht wird.
Pünktlich um 18 Uhr steht der Angeklagte auf der ihm zugewiesenen Stelle des Richtplatzes. Direkt vor der Mauer.
Die angetretene Einheit hört auf das Kommando: „Gewehr über still!“
Eine bedrückende Ruhe breitet sich aus. Kein Flieger ist am Himmel zu hören, keine Bombe zerbirst auf dem tiefgefrorenen Boden. Nichts. Nur Stille.
Der leitende Offizier liest dem Verurteilten mit einer Stimme wie kaltes Wasser die Urteilsbegründung und die Bestätigungsverfügung vor. Seine Worte hallen über die Mauer, werden gespenstisch von dem dahinter liegenden Wald echogleich zurückgeworfen.
Es folgt eine Sekunde der Lautlosigkeit.
Der Verurteilte erklärt nichts.
Die Geistlichen erhalten letztmalig Gelegenheit, ihm Trost zuzusprechen. In diesem Moment schluckt eine Wolke das kärgliche Sonnenlicht; das bleiche Gesicht mit der schwarzen Binde hebt sich deutlich von der dunklen Mauer ab.
Er zeigt keine Regung. Das zehnköpfige Vollstreckungskommando hat sich fünf Schritte vor dem Verurteilten aufgestellt. Auch hier kein Ton, keine persönliche Reaktion.
Das Kommando „Feuer!“ durchbricht die atemlose Stille um 18:02 Uhr.
Dohlen fliegen wütend krächzend auf. Ihre Schreie gellen in den Ohren, mischen sich mit dem Nachhall der Feuersalven. Dann schlagartig wieder Ruhe.
Der Verurteilte knickt in sich zusammen, fällt auf die rechte Seite. Sand fliegt hoch, rieselt zurück auf den Boden, vermischt sich mit dem Rinnsal, das aus einer Wunde, dann durch die Uniform austritt, lautlos wie ein sterbendes Geheimnis.
Alles schweigt.
Der Sanitätsoffizier löst sich aus der Gruppe, stellt den Tod fest. 18:06 Uhr.
Daraufhin erscheint das Wachpersonal. Die Leiche wird eingesargt und zum Zwecke der Bestattung abtransportiert.
Die abkommandierte Einheit verlässt mit ihren wuchtigen Stiefeln die Stätte. Nur zwei alte Männer vom Wachpersonal bemühen sich, das frische Blut wegzuwischen.
Später bedeckt pechschwarze Nacht das Grauen dieses Ortes. Der Klageschrei dieser jammervollen Seele wird vom Wind fortgetragen, über die Mauer hinweg und hinauf in den Himmel.
Möge Gott sich ihrer erbarmen!